Bürgerbeteiligung per Auslosung

Die Zukunft der EU dem Zufall überlassen!

Puzzle mit Flaggen von EU-Ländern
Tausende Ausgeloste sollen über das Schicksal der EU entscheiden, fordert Hubertus Buchstein. © imago/blickwinkel
Von Hubertus Buchstein · 05.10.2016
Der kritische Zustand der Europäischen Union hat mit dem Brexit-Votum einen Höhepunkt erreicht. Wer also soll in den einzelnen Ländern darüber entscheiden, wie es mit der EU weitergehen soll? Der Politologe Hubertus Buchstein plädiert für eine Auswahl nach dem Zufallsprinzip.
Stellen wir uns nur für einen Moment Folgendes vor: Die Bundesrepublik Deutschland hätte über einen konkret vorliegenden Vorschlag zur institutionellen Reform der EU zu entscheiden. Aber statt wie gewohnt, dem Bundestag und dem Bundesrat die Entscheidung darüber zu überlassen oder anstatt nach einem Referendum zu rufen, wird diesmal ein anderer Weg gewählt: Aus ganz Deutschland werden 12.000 Bürger ausgelost. Sie sind nun Mitglieder einer "Loskammer".

Tausende Ausgeloste sollen entscheiden

Die Ausgelosten werden in diskussionsfähige Kleingruppen aufgeteilt, die sich an drei oder vier Wochenenden treffen. In diesen Gruppen informieren sie sich gegenseitig über die verschiedenen Gesichtspunkte des vorliegenden Reformvorschlages und diskutieren das Pro und Contra miteinander. Auch in der medialen Öffentlichkeit ist der Reformvorschlag natürlich weiterhin Thema.
Nach Abschluss der Diskussionsphasen entscheiden die 12.000 Mitglieder der Loskammer Abstimmung über den vorliegenden Vorschlag. Um den verfassungsrechtlich vorgegebenen Prozeduren gerecht zu werden, schließen sich der Bundestag und der Bundesrat dem Mehrheitsvotum der Bürger an.
Worin bestehen die Vorteile eines solchen Verfahrens?
Erstens wird durch das Zufallsprinzip und die hohe Zahl der Ausgelosten insgesamt eine hohe soziale, regionale und demografische Repräsentativität der Beteiligten sichergestellt. Eine auf diesem Wege zustande gekommene Entscheidung wird somit den Vorteil haben, von einer größeren Zahl an Bürgern akzeptiert und als legitim anerkannt zu werden, als wenn sie von den üblichen politischen Eliten getroffen würde. Es sind tatsächlich die Bürger, die zu entscheiden haben.
Zweitens soll durch die gemeinsamen Beratungsphasen soll die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass die ausgelosten Bürger ihr Votum auf der Grundlage von sachlichen Informationen und von Argumenten treffen. In diesem Punkt besteht der Vorteil dieses Verfahrens gegenüber Volksentscheiden. Man muss sich nur noch einmal in Erinnerung rufen, mit welch bizarren, sachlich falschen und zum Teil hasserfüllten Parolen kürzlich in Großbritannien große Teile der Brexit-Befürworter in ihren Kampagnen hausieren gegangen sind, um zu erkennen, wie ungeeignet sich Volksentscheide im Hinblick auf das Thema Europa erwiesen haben.

Die Loskammer hat viele Vorteile

Entscheidungen über die Zukunft der EU dürfen nicht allein der üblichen Entscheiderkaste aus den politischen Eliten überlassen bleiben; sie sollten aber ebenso wenig zum Gegenstand eines schmutzigen Referendumswahlkampfes werden.
Demgegenüber hat die vorgeschlagene Loskammer den Vorteil, dass es den drei Grundgedanken der klassischen Demokratietheorie – die Bürgerbeteiligung, die gemeinsame Beratung und das informierte Entscheiden – eine moderne institutionelle Gestalt gibt.
Loskammern lassen sich natürlich auch für die Entscheidung über viele andere politische Streitfragen einsetzen. Vielleicht müssen wir erst auf kommunaler oder Bundeslandebene die Erfahrung sammeln, das die moderne Demokratie mithilfe von Loskammern an Vertrauen bei den Bürgern zurückgewinnen kann.

Hubertus Buchstein ist Politikwissenschaftler und Professor am Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Greifswald.




© dpa / DVPW / Marc Raschke
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