Büchnerpreis 2018 für Terézia Mora

"Hütten sind immer offen, auch wenn Grenzen zu sind"

27.10.2018, Hessen, Darmstadt: Ernst Osterkamp (l), Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, übergibt im Darmstädter Staatstheater den Georg-Büchner-Preis 2018 an die deutsch-ungarische Schriftstellerin Terézia Mora (r). Der Preis ist mit 50 000 Euro dotiert.
Terézia Mora bekommt den Georg-Büchner-Preis 2018 von Ernst Osterkamp überreicht, dem Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. © dpa/Frank Rumpenhorst
Von Ludger Fittkau · 27.10.2018
"Es hätte schlimmer kommen können", sagte Terézia Mora bei der Büchnerpreisverleihung im Staatstheater Darmstadt. Schlimmer, als 1990 mit einem ungarischen Abitur Studentin in der "neuen BRD" zu werden und mit Büchners "Woyzeck" anzufangen.
Eine junge Frau, einige Jahre zuvor aus Ungarn gekommen, liegt auf einer Matratze auf dem Boden ihres Untermietszimmers. Neben ihr liegt ein ebenfalls junger Mann – die beiden lesen sich aus Büchners "Leonce und Lena" vor. Er hat einen sächsischen Akzent und stottert stark, sie spricht immer noch spontan Ungarisch, wenn sie jemand aus dem Schlaf klingelt.
Terézia Mora Anfang der 90er-Jahre in Berlin. Weil gerade Videokameras in Mode kommen, denkt sie darüber nach, einen Film über "Leonce und Lena" zu drehen. Daraus wird nichts, außerdem stellt sie nach ein paar Jahren des Studiums fest, dass ihr der brühig sprechende Plebejer "Woyzeck" näher liegt als die grotesken Adelsfiguren in "Leonce und Lena":

"Weil sich in diesen Spiegelscherben eine Wahrheit zeigte"

"Die schwere Sprache also, das Beinahe-Stottern habe ich als die Materie erkannt, aus der ich meine eigene Sprache machen würde. Die brüchige, nach Orientierung suchende Sprache des Woyzeck ist vermutlich nur so, weil wir es mit einem Fragment zu tun haben, aber für meine und unsere Zwecke ist das egal. Wir haben es uns so zu eigen gemacht, weil sich in diesen Spiegelscherben eine Wahrheit zeigte, die uns gefiel. Der immer gehetzte, von allen betrogene und verwirrte Woyzeck. Zwischen drei Jobs hechelnd hat er nichts und niemanden, der ihm hülfe."

In den Zeitfragen-Literatur hat sich auch Dorothea Westphal ausführlich mit der Büchnerpreisträgerin unterhalten. Hören Sie hier das Gespräch in voller Länge:

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Ihre ungarischen Vorfahren, so Terézia Mora in ihrer literarisch glänzenden Büchnerpreis-Dankesrede, hätten sich schon deswegen nie für einen Krieg gegen die Paläste einspannen lassen, wie ihn die Verfasser des Hessischen Landboten zumindest verbal nahelegten und deswegen von der Polizei gesucht wurden, weil sie gewusst hätten, dass es einen Frieden für die Hütten niemals geben würde:

"Die Umstände allein reichen noch nicht"

"Durch die Hütte als solche rollt die ganze Welt. Die Hütten sind immer offen, auch wenn die Grenzen zu sind. Das ist ein Wissen, das ich mitgebracht habe, aber auch – und das sehen wir wieder im Woyzeck – dass die Umstände allein noch nicht reichen, um etwas tragisch werden zu lassen. Es ist das, was du tust oder eben nicht tust."
Etwas getan werden muss für Schriftsteller und Journalisten vor allem in Mittel- und Osteuropa. Das macht Terézia Mora in ihrer Rede genau so klar wie Martin Pollack, der zuvor im Darmstädter Staatstheater den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik erhalten hatte. Die Kaczynskis, Orbans und Straches seien eine große Gefahr für Europa, warnte er und rief zur Einmischung auf, um die Meinungsfreiheit in diesen Ländern zu retten.

Martin Pollack, der Träger des Leipziger Buchpreises 
Der österreichische Schriftsteller Martin Pollack© picture alliance / ZB / Florian Eisele
Sein Laudator Karl Schlögel machte deutlich, dass "Alt-Europäer" wie eben auch Pollack genau wissen, dass man für Nationalismus meist irgendwann einen Preis zahlen muss, der zu hoch ist: "Die Landschaften, durch die Pollack wandert, haben ihre Unschuld verloren. Kaum ein Ort im östlichen und mittleren Europa, der nicht die Spuren der Verwüstung trägt, Schlachtfelder, Massengräber am Wegesrand, Schluchten, auf die kein Denkmal verweist, Kuhweiden oder Gewerbeparks, wo einmal ein jüdischer Friedhof war, Karsthöhlen, in die die Opfer der Partisanen gestürzt wurden."

Plädoyer für das Sezieren der aktuellen Verhältnisse

Terézia Mora plädierte für das Sezieren der aktuellen politischen Verhältnisse in ihrem Herkunftsland Ungarn – so wie Georg Büchner mit dem Skalpell für seine naturwissenschaftliche Doktorarbeit Barben seziert hatte: "Wenn zusammenfügen nicht hilft, nimm es auseinander. Das habe ich von Péter Esterházy gelernt. Gegen den neben anderen als 'linksliberal' verschrienen Künstlern und überhaupt gegen jede Form von Intellektualität zur Zeit eine Kampagne in Ungarn läuft."
Zwischenzeitlich sei sie beim Schreiben der Büchnerpreis-Rede traurig geworden, verriet Terézia Mora. Traurig darüber, dass die öffentliche Rede auch hierzulande in den letzten Monaten immer hetzerischer geworden sei. Dann habe sie sich doch entschlossen, die Geschichte über die Barbe zu Ende zu schreiben, bei der sie zeitweise wegen melancholischer Gefühle angesichts der politischen Lage ins Stocken geraten war.

Wie nennt man Büchners Barbe eigentlich im Ungarischen?

Es geht letztlich um die Frage, wie man Büchners Barbe eigentlich im Ungarischen nennt. Terézia Mora hat viele Namen gefunden: "Welskarpfen, Alpenbarbe, Martinsfisch, Marina, Merenne, Großmarin, Barbenfisch, Rosenfisch, Rosenbarbe, slowakische Brasse, slowakischer Stör, Judenfisch sowie slowakischer Judenstör. Noch einmal: Slowakischer Judenstör. Sag nicht, da steckte nicht alles über Mitteleuropa drin. Also über die Welt des Menschen, Weinen und Lachen."
Wie in Büchners Werken. Terézia Mora hat im Staatstheater Darmstadt mitreißend vorgeführt, dass Büchner auch nach fast zwei Jahrhunderten immer wieder aufs Neue die sprachliche Phantasie anregt. Sie ist eine würdige Büchner-Preisträgerin 2018.
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