Buchenwald - einfach ein gemeiner Ort

Von Jörg Hafkemeyer · 31.05.2009
Mit Weimar werden Namen wie Goethe und Schiller verbunden. Hier wurde außerdem die erste Demokratie in Deutschland gegründet. Doch Weimar war auch ein Ort des Schreckens: Im KZ Buchenwald brachten die Nazis 56.000 Menschen um.
Tanja Naumann: "Mich nimmt das Ganze ziemlich mit, was wir hier leben. Ich kann mich total in die Häftlinge reinversetzen. Ich kann nach empfinden, wie sie sich gefühlt haben müssen, also wenn man das nachempfinden kann."

Felix Lokvenz: "Mich erschreckt das total, die ganze Grausamkeit, die damals passiert ist. Die unglaubliche Gewaltbereitschaft. Was hier passiert ist, kann, glaube ich, nie seinen Schrecken verlieren. Für keinen."

Es ist noch sehr früh. Acht Uhr morgens. Auf dem Parkplatz vor dem Konzentrationslager Buchenwald. Die ersten Angestellten der Gedenkstätte kommen aus dem nahegelegenen Weimar angefahren. Es ist ein trüber Morgen hier oben. Der Ettersberg ist ein finsterer Ort. Meistens neblig, nass. Ein Ort der Toten, der Schmerzen, der Täter, sagt Felix Lokvenz mit leiser Stimme. In diesen frühen Morgenstunden kommt es ihm so vor, als würden die Klagen der Gequälten durch die tief hängenden Nebelschwaden klingen.

Die zwischen 16 und 18 Jahre alten Schüler und Schülerinnen der elften Klasse eines Gymnasiums in der Nähe von Frankfurt am Main warten vor der Gedenkstätte auf den Bus. Sie fahren nach Weimar. Auf den Spuren der Nationalsozialisten.

Während sie warten, tritt eine der beiden Lehrerin, die 33 Jahre alte Katja Beirich heran, schaut über den Platz, ruft ein paar Nachzügler herbei und erzählt, warum sie an diesen schrecklichen Ort gekommen sind.

Katja Beirich: "Es geht um Bildung und Bildung ist weit mehr als das, was man eigentlich in der Schule nur aus Büchern lernen kann. Es geht darum, dass man sich hier wirklich auseinandersetzen kann mit dem, was hier geschehen ist und die Möglichkeit hat, sich zumindest ein Stück weit, so lang man das zulassen kann, sich mit beiden Seiten zu identifizieren."

Ganz vorne im Bus, gleich neben der blonden Katja Beirich, sitzt Holger Obarius. Ein schlanker, sehr jugendlich wirkender Mann, mit einem Bärtchen auf dem Kinn.

Holger Obarius gehört zum Team der Jugendbegegnungsstätte Buchenwald. Wo die Klasse drei Tage bleibt. Der Pädagoge ist mit den Schülern an diesem Vormittag auf dem Weg zu einem historischen Spaziergang durch Weimar. Geschichtsunterricht zum Anfassen.
Der Bus kommt am Hauptbahnhof an. Die Schüler steigen aus. Versammeln sich vor Holger Obarius. Die Lehrerrinnen bleiben im Hintergrund.

Holger Obarius: "Das geht genauso weiter wie oben in der Gedenkstätte auch, das kennt ihr. Ich habe als erstes Mal ein Foto für euch. Ich glaube, das Gebäude ist ziemlich eindeutig wiederzuerkennen. Den Bahnhof haben sie geschmückt für die Ankunft Adolf Hitlers in Weimar. Das war am 3. Juli 1936. Als der sogenannte Führer dann hier nach Weimar kam, Weimar war eine Stadt, die Hitler gerne besuchte, und man versuchte es ihm hier besonders nett her zu richten. Die Beflaggung kann man hier gut erkennen. Auch mit Blumen geschmückt usw."

Tanja Naumann und Felix Lokvenz blicken auf die Bahnhofsfassade. Dann nach rechts auf eine Art Tunnel. Holger Obarius schaut in die gleiche Richtung.

Holger Obarius: "Wir gehen jetzt zum Nebeneingang vom Bahnhof Weimar. Das ist also die Unterführung, durch die die Menschen gebracht wurden, die im Zuge des 9. November 1938 verhaftet worden sind, insgesamt fast10.000 jüdischen Menschen wurden innerhalb von ein paar Tagen aus dem ganzen mitteldeutschen Raum nach Buchenwald geschickt und die kamen hier auf dem Hauptbahnhof an, eben zu diesem Durchgang, zu dem wir jetzt gehen."

Keine 50 Meter weiter bleiben alle stehen. Blicken in ein schwarzes Loch. Den Tunneleingang. Darüber die Gleise.

Holger Obarius: "Die Menschen, über die ich sprechen möchte, die habt ihr auf einem der Fotos bereits gesehen. Jemand hat das rausgesucht, wo die in Mänteln stehenden kahl rasierten Männer auf dem Appellplatz versammelt sind. Und für die ist jetzt hier eine Gedenktafel angebracht. Der Bahnhof Weimar war von 1938 bis 1945 Umschlagplatz für Menschen aus ganz Europa, die in das KZ Buchenwald und von dort in andere Lager gebracht wurden. Bis 1942 kamen sie auf den Personenbahnsteigen des Hauptbahnhofs an, also das heißt, wenn man durch diesen Durchgang hoch geht, da hoch, da sind die ganz normalen Bahnsteige, die gab es damals, die gibt’s heute. Menschen kommen und gehen und dort sind die auch angekommen."

Der Vorplatz vor dem Bahnhof von Weimar ist so ziemlich alles. Arbeitslose versammeln sich vor einem Kiosk, Busse bremsen und fahren weiter. Taxen halten vor dem Hauptgebäude, Passanten hasten zu den Bahnsteigen. Touristen kommen an. Wollen Schiller und Goethe sehen. Auch das Konzentrationslager. Die Schüler schauen dem Treiben zu, ruhen sich einen Augenblick aus, doch Holger Obbarius holt sie in die Geschichte zurück.

Holger Obarius: "Nach den Pogromen vom 9./10. November 1938 wurden in diesen Bahnhofsunterführungen tausende deutsche Juden auf dem Weg in das Lager von der SS brutal misshandelt. Oben auf dem Bahnsteig sind sie angekommen, sind die Treppe dort hinten runter gekommen und dann ging es durch diesen Durchgang durch. Kein Entrinnen. Ähnlich wie auf dem Karachoweg dort oben."

Die Gruppe geht weiter. Mittendrin die Lehrerin Katja Beirich. Sie ist das erste Mal dabei, obwohl diese Art von Reisen an ihrem Gymnasium keine Einmaligkeit sind.

Katja Beirich: "Das ist eine feste Einrichtung bei uns an der Schule schon seit mehreren Jahren erfreulicherweise eben der Gedenkstättenbesuch von Buchenwald mit den elften Klassen. Es ist für uns ein ganz wichtiges pädagogisches Projekt, weil sie sich mit dem Thema zwar im Geschichtsunterricht auseinandersetzen und hin und wieder auch Bücher dazu lesen, aber diese intensive Beschäftigung, damit die individuelle Auseinandersetzung, die ist eben das, was die Gedenkstätte ausmacht."

Die Schüler sind sehr konzentriert. Hören genau zu. Fragen stellen sie heute selten. Das hat seinen Grund. Zu sehr sind sie noch alle vom gestrigen Besuch im Krematorium des Konzentrationslagers erschüttert.

Katja Beirich: "Da haben wir es auch erlebt, dass da Schüler, vor allem Schülerinnen, sehr, sehr betroffen waren, das hängt auch mit den persönlichen Erfahrungen zusammen. Es haben sich alle sehr respektvoll verhalten, sicherlich war es nicht für jeden in gleicher Form schlimm, aber das ist ein besonderer Moment der Fahrt, das ist gar keine Frage."

Tanja und Felix schauen sehr ernst während sie mit ihren Klassenkameraden in Richtung Innenstadt weitergehen. Felix bleibt einen Moment stehen, streicht sich die dunklen Haare aus dem Gesicht. Der Gang durch das Krematorium ist auch für ihn ein Tiefpunkt.

Felix Lokvenz. "Sehr schlecht. Also ich war sehr traurig und mitgenommen. Und ich hoffe, ich kann es mir einfach nicht vorstellen wie das gewesen sein muss damals und wie die SS-Leute da einfach diese Körper, die sie selber tot geschunden haben, dann einfach verbrennen, einfach unwürdig da endend in den Kasten werfen und verbrennen und dann die Asche irgendwo hin kehren."

Er beeilt sich, rennt der Gruppe hinterher. Die ist bei Ihrem Rundgang durch die nationalsozialistische Geschichte Weimars vor einem riesigen, grauen, bedrohlich wirkenden Gebäude stehen geblieben. Die Sonne ist herausgekommen. Scheint auf ein hässliches, graues, bauliches Ungetüm herab.

Holger Obarius: "Auch hier wieder brauche ich kein Bild zu zeigen, denn das, worum es geht ist vor uns. Wenn wir uns hier umschauen durch dieses Karree, das ist das so genannte Gauforum, das sich die NSDAP hier in Thüringen errichten ließ, also Bauten, die beeindrucken sollten.
Hier sollte so das Verwaltungszentrum des NSDAP-Gaus Thüringen entstehen. Aber worüber man eigentlich reden muss und wovon ich leider auch kein Bild habe, das ist das, was hier vorher stand, nämlich einfache Wohnbausiedlung und die wurde eben schlichtweg abgerissen, um diese Gebäude hier für die NSDAP, für das Gauforum zu errichten. Also, eigentlich ist das wichtig, was man nicht sieht."

Felix und Tanja stehen am Rand der Gruppe. Es sieht so aus als hörten sie zu. Richtig dabei sind sie nicht. Das Gauforum interessiert sie an diesem Tag nicht. Sie sehen so aus als wenn sie nichts mitbekommen – noch immer bei der gestrigen Führung durch das KZ sind.

Die Schüler gehen weiter. Biegen aus der stark befahrenden Straße in eine Fußgängerzone ein. Boutique reiht sich an Boutique. Eiscafes, Wirtshäuser. Stühle und Tische draußen. Dem kühlen Wind in der zugigen Gasse trotzen nur ein paar Zigarettenraucher. Holger Obarius führt die Jugendlichen zum Mittelpunkt von Weimar. Hin zum Theaterplatz.

Der junge Pädagoge will wieder ein schwarz-weißes Foto aus seiner Tasche ziehen, stockt einen kurzen Augenblick. Nationalsozialisten hat es vor 70 Jahren nicht nur in Weimar gegeben, heute gibt es in der Kulturstadt Rechtsradikale.

Holger Obarius: "Ja, gibt es. Sie sind auch ganz gut sichtbar. Müssen Sie mal aufpassen, hier im Stadtbild gibt es da schon einige, die dazu gehören. Das ist auch ein Problem, das die Stadt kennt, worüber beispielsweise im kriminalpräventiven Rat, den die Stadt eingerichtet hat, gesprochen wird. Wie man das hinbekommt, dass die beispielsweise nicht unbedingt am Theater da nun das Bild prägen, obwohl sie eine sehr kleine Gruppe sind, dominieren."

Mit einem Blick die Fußgängerzone hinab sagt er dann noch: Die Rechtsradikalen ignorieren meine Arbeit. Es hat sich etwas verändert. Er guckt sehr ernst, neigt den Kopf nach rechts, zuckt mit den Schultern: Die ignorieren den Holocaust nicht mehr. Sie sind stolz auf ihn. Das macht einen fassungslos. Ein Grund, weshalb er so gerne mit Schülern arbeitet, weshalb das so wichtig ist. Kommen denn auch Schulklassen aus Ostdeutschland?

Holger Obarius: "Ja, die haben wir auch. Schulklassen aus Weimar besuchen die Gedenkstätte regelmäßig häufig. Schulen aus Dresden haben wir auch."

Nun müssen sie aber weiter. Holger Obarius führt sie an, erläutert beim weitergehen, was sie jetzt vorhaben.

Holger Obarius: "Wir gehen jetzt zum Theaterplatz. Das Theater, das Deutsche Nationaltheater Weimar, hat eben verschiedene Aspekte der deutschen Geschichte in sich vereint sozusagen. Einerseits Schauplatz der Gründung der Weimarer Republik und andererseits dann die Führerloge, die eingerichtet wird, Adolf Hitler zu Ehren und dann werden von diesem Theater beispielsweise jüdische Schauspieler verbannt. Das ist sozusagen diese Vielschichtigkeit, die sich an diesem Haus eben demonstrieren lässt."

Was für ein Bild: die Fassade des Theaters. Ein Giebeldach getragen von sechs grauen, hohen Säulen. Dahinter der große Saal. Der Eingang. Umsäumt von fünf Säulen.

Goethe und Schiller stehen überlebensgroß davor. Links von ihnen vier Straßenmusikanten aus St. Petersburg. Männer Anfang 40 etwa. Graue Hosen, dicke Pullover, schüttere Haare. Hingebungsvolle Musiker. Die Schüler, ihre beiden Lehrerinnen, bleiben stehen hören zu. Die Erklärungen von Holger Obarius müssen warten. Der bleibt auch stehen, hört auch zu.

Die vier Musiker machen eine Pause. Holger Obarius zieht ein Foto, schwarz-weiß, hervor. Der Theaterplatz 1942. Hitlers Lieblingstheater, erläutert Holger Obarius, ist mit langen Nazi-Fahnen verhängt. Goethe und Schiller sind in einer schwarzen, überdimensionalen Holzkiste versteckt. Auf der sind Reichsadler und Hakenkreuz angebracht. Die Kiste soll die beiden Figuren vor alliierten Luftangriffen schützen, erklärt Obarius. Tanja und Felix schütteln die Köpfe. Sie hören, das Theater muss alle jüdischen Schauspieler entlassen. Sie hören, die siebente Reihe wird den SS-Aufsehern aus dem KZ vorbehalten. Hitlers Ehrenloge in der Mitte bekommt eine Hakenkreuzdecke. Das Theater gastiert mehrfach im Casino des Konzentrationslagers. Tanja und Felix wenden sich ab. Sie haben, wie die allermeisten ihrer Klassenkameraden genug für heute. Der 17-jährige Kevin sagt beim Gehen mit müden Augen:

Kevin: "Ich werde vor allem sehr viel für mich selber daraus ziehen, denke ich jetzt. Also, ich glaube nicht, dass es jetzt darum geht, irgendwelche Arbeitsmaterialien und so viel Zeit daran zu setzen, sondern für sich selbst daraus zu lernen."

Felix Lokvenz: "… dass das nicht vergessen wird, das so etwas passiert ist. Das es in Zukunft nicht wiederholt wird. Das finde ich am wichtigsten."

Kevin verzieht die Mundwinkel und nickt. Die beiden Jungen verstehen vieles über diese Zeit nicht. Warum haben die Menschen das mitgemacht?

Felix Lokvenz: "Ich kann mir das auch schwer vorstellen, genauso schwer wie ich mir vorstellen kann, dass die ganze Gewalt stattgefunden hat in dieser grausamen Form, in dieser unmenschlichen Form, die wirklich keinen Respekt mehr hat vor Lebewesen. Das ist wirklich unmenschlich und kaum vorstellbar, dass man das von seiner Moral ganz verlieren kann."

Sie blicken noch einmal über den Theaterplatz. Ein hässliches Kaufhaus hat sich auf der einen Seite einquartiert. Rechts vom Theater. Ein Wirtshaus, ein Eiscafe. Links vom Theater. In dem wird die Weimarer Verfassung beschlossen. 14 Jahre später zieht Hitler ein. Felix ist noch immer bei der Frage, warum damals alle mitmachen.

Felix Lockvenz: "Nein, vor allem von so einer Stadt sollte man doch ausgehen können, dass die Leute selber nachdenken können und sich ihrer Gedanken sicher sind und die ihre eigenen Gedanken ernst nehmen können. Dass sich so Leute dann auf so jemanden und so eine Partei verlassen müssen und denen blind hinterher laufen, ist unglaublich und die Augen davor verschließen können, dass so etwas passiert vor ihrer Haustür, das kann ich auch nicht verstehen."

Dann gehen sie los. Wollen nicht mehr reden. Sind erschöpft müde. Wollen zurück in die Jugendbegegnungsstätte oben im KZ Buchenwald. 15 Autominuten von Weimars Zentrum entfernt.

Die Schüler verlassen Goethe und Schiller, das Nationaltheater, den Platz davor. Gehen die Straße hinauf zum Bahnhof.
Sie steigen in den Bus nach Buchenwald.

Es gibt überhaupt kein Entkommen in Weimar. Auch nicht in Buchenwald. Auch nicht dazwischen.

Im Bus. Kopfsteinpflaster. Der Karachoweg. Hier gehen vor 70 Jahren die Transporte lang. Dann die Durchsage der weiblichen Automatenstimme.

Das tut er gleich danach. Der Fahrer schaltet den Motor ab. Die Schüler steigen aus.

Zurück auf dem großen, weitläufigen, hell gepflasterten Platz vor der Gedenkstätte.

Tanja und Felix gehen noch ein paar Schritte. Zum alten Zaun. Den Weg, den die SS-Wachen jahrelang täglich, nächtlich gehen. Den Weg der Täter.

Felix Lokvenz: "Wir sehen im Vordergrund einen Stacheldrahtzaun. Von dem Stacheldraht ist hier nicht mehr viel übrig. Nur noch verrostet am unteren Rand. Dahinter das Lager, wo einst die Baracken standen. Überall Gedenkstätten und im Hintergrund der Wald, der eigentlich sehr schön aussieht, es ist sehr grün, es sind überall Blumen man hört die Vögel."

Tanja Naumann ist mit ihrer Lehrerin stehen geblieben. Rechts der rostbraune Zaun. Dahinter eine weite Fläche. Dotterblumenfelder in hohem, saftigem Gras. Dichte Büsche. Die unvermeidlichen Birken.

Tanja Naumann: "Also, wenn ich es jetzt so betrachte, sieht es alles recht besinnlich aus. Gerade weil man der Natur so nahe ist. Wenn ich mir jetzt aber vorstelle, dass die Leute damals …. die mussten das eigentlich als totale Qual empfunden haben, die Natur so um sich herum zu spüren und zu sehen, weil eigentlich die Freiheit nur so einen Meter weit weg war und sie konnten sie aber trotzdem nicht erreichen."

Weiter den Zaun entlang. Den Hang hinab. Den Weg der Täter. Der Südhang mit den Massengräbern.

Felix Lokvenz: "Na ja, also aus der Sicht der Täter, ich weiß ja nicht, wie man hier einfach drum rum laufen kann und diese Leute sieht, wie sie da drin sind mit voller Absicht. Man hat das ja alles geplant. Man weiß genau, was da drin passiert. Und trotzdem macht man da einfach mit. Also die Einstellung kann ich mir einfach nicht vorstellen."

Sie haben noch das Foto einer unbekannten Frau im Kopf. Sie wird am 17. April 1945 in einem Außenlager des KZ von US-Soldaten befreit: hervorstehende Wangenknochen in einem ausgemergelten Gesicht. Tiefliegende dunkle Augen, die aus Höhlen blicken. Aufgedunsene Lippen. Kurz rasierte, geschorene Haare. Der Gesichtsausdruck leer. Die Frau entgeht dem Krematorium.

Tanja Naumann: "Der Schornstein gehört zum Krematorium. Da wurden die Leichen verbrannt. Und zum Teil wurden in dem Krematoriumsgebäude auch noch Leute im Leichenkeller erdrosselt. Ganz gemein. Das ist ein ziemlich bewegender Ort.
Da waren wir gestern und das ist, wenn man sich das mal anguckt drinnen, das ist richtig schlimm. Wenn man auch versucht, sich da hinein zu versetzen, wie die Leute da gequält worden sind, aber auch mit welcher Kaltblütigkeit die Leute da einfach mit den Leichen, mit den Toten umgegangen sind."

Es ist ein sehr stiller Nachmittag. Keine Besuchergruppen lärmen. Telefonieren mit ihren Handys. Auf diesen Weg der Täter verirrt sich selten jemand. Der Nebel ist längst weg. Ein paar Sonnenstahlen, die Vögel singen. Es ist friedlich an diesem gemeinen Ort. Perfide friedlich.

Katja Beirich: "Überaus perfide. Natürlich. Das ist unglaublich interessant im negativen Sinn hier zu beobachten, wie durchdacht das alles ist, das ganze System ist von Menschen geschaffen worden, die genau wussten, was sie getan haben und von denen mit Sicherheit sehr viele sehr intelligent waren, und das macht es eben so entscheidend sich auf eine andere Art und Weise damit auseinanderzusetzen, denn Intelligenz alleine kann den Menschen zu solchen Taten bringen."

Die drei gehen zurück. Den Hang hinauf. Haben genug für heute. Auch für die 33-jährige Lehrerin ist es anstrengend. Wie es ihnen geht, sagt Felix mit einer kurzen Bemerkung.

Tanja Naumann: "Es ist sehr wichtig, dass wir niemals vergessen, dass der Mensch einem anderen Menschen so etwas antun kann. Dass wir wissen, dass es die totale Grausamkeit ist, dass es kaum noch eine Steigerungsform gibt. Ich bin froh, dass wir in Deutschland jetzt auf dem Standpunkt sind, dass das hier nicht mehr passieren kann. Aber dass wir uns halt auch bewusst darüber werden, dass es in anderen Erdteilen immer noch, auch jetzt, so ist und ich finde wir sollten das auf keinen Fall irgendwie jemals vergessen."

Der Wachturm an der Lagerecke steht dort seit mehr als 70 Jahren. Hoch, bedrohlich, verwittert. Der Blick über das Lager. In ihm werden innerhalb von acht Jahren 250.000 Menschen aus 50 Nationen inhaftiert. 56.000 werden umgebracht.

Tanja und Felix schauen am Turm hoch, hinüber ins KZ. Ein letzter Blick. Lange. Dann wenden sie sich ab. Folgen Ihrer Lehrerin. Biegen um die Ecke. Sind hinter dem Wachturm verschwunden.