Buch über den Koran

Zwischen Religionskritik und historischer Analyse

Moderation: Sebastian Engelbrecht · 30.04.2017
Die Deutschlandfunk-Reihe "Koran erklärt" ist eine Erfolgsgeschichte. Ein Buch versammelt jetzt die besten Beiträge. Indendant Dr. Willi Steul, der islamische Theologe Ömer Özsoy und die Arabistin Angelika Neuwirth haben in Berlin darüber diskutiert.
Philipp Gessler: Das gibt es kein zweites Mal im deutschen Radio: Muslimische und nicht-muslimische Islam-Gelehrte erklären den Koran – fünf Minuten lang. Es sind ausgewählte Verse, die Wesentliches über das Heilige Buch der Muslime aussagen. Seit März 2015 gibt es dieses Sendeformat einmal wöchentlich in unserem Schwestersender Deutschlandfunk in Köln. Die Sendung "Koran erklärt" kommt so gut an, dass es immer wieder Nachfragen gibt, ob man diese Texte nicht irgendwie zwischen Buchdeckeln nachlesen könne, und genau das ist jetzt möglich: Ab Anfang Mai bringt der Suhrkamp Verlag nun ein Buch mit dem Titel "Koran erklärt" heraus. In ihm erläutern 51 islamische Theologen und Islamwissenschaftler aus acht Ländern 84 kurze Texte aus dem Koran. Am Mittwochvormittag dieser Woche wurde das Buch im Literaturhaus Berlin vorgestellt. Unsere frühere First Lady Daniela Schadt hielt die Laudatio. Über das neue Werk sowie sein gesellschaftliches und mediales Umfeld diskutierten Willi Steul, der Intendant von Deutschlandradio und Herausgeber des Buches, die hoch angesehene Arabistik-Professorin und Koran-Expertin Angelika Neuwirth von der Freien Universität Berlin und der Islamische-Theologie-Professor Ömer Özsoy von der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die Moderation übernahm mein Kollege Sebastian Engelbrecht. Mit seiner Frage beginnt ein kleiner Ausschnitt aus der Diskussion, den wir nun senden.

Kernauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

Sebastian Engelbrecht: Herr Steul, wofür brauchen wir dieses Buch?
Willi Steul: Erstens sind Bücher immer gut – also nicht alle, aber solche Bücher sind immer gut. Ich glaube wirklich, dass man in einer Zeit, wo der Stammtisch wüst über den Islam und seine Gefahren diskutiert, oder Schlimmeres, wo es eingeht in eine politische Debatte, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa, wo sich eine Islamophobie entwickelt – das kann man auch feststellen –, ist jeder gute Beitrag zur Aufklärung absolut notwendig, und die Grundlage für diese Idee war genau in 2014 oder schon Jahre vorher in meinem Kopf eigentlich entstanden. Alle reden darüber, immer verstärkter. Jetzt gibt es diesen ganz schrecklichen IS und der Missbrauch auch des Korans zur Begründung von Bluttaten, dass wir etwas machen müssen, und das ist der Kernauftrag gerade des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, was aufklärerisch ist, was eine Aufklärung ist.
Das Buch "Koran erklärt", herausgegeben von Dr. Willi Steul
Das Buch "Koran erklärt", herausgegeben von Dr. Willi Steul© Suhrkamp
Engelbrecht: Ich möchte gerne Herrn Professor Özsoy Gelegenheit geben, etwas zu dem Buch zu sagen, und Sie, Frau Neuwirth, haben es mal so formuliert: Die Koran-Rezitation ist eigentlich eine sakramentale Handlung. Ist das dann für einen Muslimen eigentlich erträglich, wenn da im Deutschlandfunk plötzlich von einem Sprecher der Koran wiedergegeben wird und dann historisch-kritisch auseinandergenommen wird? Ist das für einen Muslimen erträglich?

Skepsis gegenüber kritischer Erschließung

Ömer Özsoy: Also, wenn Sie so provokativ formulieren, dann würde ich sagen, dass das nicht mehr vielleicht verträglich ist, wenn der Koran irgendwie auseinandergenommen wird. Die Rezitation ist eigentlich eine bestimmte Rezeptionsart, gerade von heiligen oder höhergestellten Schriften oder sprachlichen Größen, die aber nicht nur als ästhetisches Erleben zu reduzieren, sondern gerade wenn man den Text versteht oder den Hintergrund oder den Inhalt des jeweiligen Textes kennt oder zu kennen denkt, dann ist vernünftige oder intellektuelle Beschäftigung mit drin, auch in der Rezitation. Von daher sind die Koranlektüre und Koranrezitation unterschiedliche Rezeptionsweisen vom Koran, sind aber nicht ganz voneinander zu unterscheiden. Also beide Flügel sind da aktiv, würde ich sagen. Also Sie haben über historisch-kritische Auseinandersetzungen mit dem Koran natürlich mit Blick auf die Beispiele der Beiträge gesprochen – da würde ich ein Zeugnis darüber ablegen wollen, nämlich wie das bei Muslimen ankommt. Also ich würde offen gestehen, dass die Muslime – nicht nur in Deutschland, sondern auch in der islamischen Welt – gegenüber solchen Bezeichnungen wie kritische Erschließung des Koran und so weiter skeptisch sind. Das hat einen Hintergrund, auch in Deutschland hat das einen Hintergrund, weil unter der historisch-kritischen Rezeption des Korans eher die orientalistische Koran-Forschung, die nicht immer freundlich und wissenschaftlich sauber war und wirklich neutral über den Islam, über den Koran, über den Propheten Mohammed dann ausgesprochen hat, und es ist nicht selten, dass unter einer historischen Kritik oder unter Kritik Religionskritik oder Glaubenskritik gemeint ist oder verstanden wird. Die Muslime verfügen eigentlich über eine lange Tradition der kritischen Erschließung von Texten, nicht nur des Koran, sondern von Texten, von Aussagen des Propheten und so weiter und so fort, die sie seit den ersten Jahrhunderten, also selbst die erste Generation, also die Adressaten, Prophetengefährten. Die Adressaten des Korans mussten den Koran historisch reflektieren, weil sie gesehen haben, der Koran ist eine mündliche Mitteilung, die nicht auf einen Schlag zustande gekommen ist, sondern in einem längeren Zeitraum, weshalb auch die Möglichkeit bestand, dass der Koran auf die ersten Rezeptionen und Reaktionen reagieren konnte. Also so lebendig und so interaktiv und dialogisch ist der Koran entstanden, und ist daraus zu einem Text gemacht worden. Die ersten Generationen, für sie war der Koran ohnehin ein historisches Phänomen. Das hat sich natürlich in Überlieferungen niedergeschlagen. Jetzt, um das kurz zu halten, also obliegt der jungen islamischen Theologie in Deutschland vielleicht der größte Auftrag, wissenschaftliche Auftrag, bezüglich der muslimischen Adressaten, nämlich eine Erinnerungsarbeit zu leisten, an die alte vergessene Deutungs- und Auslegungstradition der Muslime.
Engelbrecht: Man muss dieses Buch neben die Realität in Deutschland stellen, und damit möchte ich auch Sie als Professorin konfrontieren: die Predigten in Moscheen in Deutschland, da gibt es jetzt mehrere Untersuchungen darüber. Diese Predigten sind immer wieder voll Hetze, sie sehen häufig die deutsche Gesellschaft als eine feindliche Umwelt. Wie kann es da gelingen, die Erkenntnisse dieses Buches und der historischen Kritik des Koran Imamen in Deutschland, auch Religionslehrerinnen und Religionslehrern und Imamen zu vermitteln, wie können diese Erkenntnisse sozusagen im Islam selbst eine Resonanz finden in Deutschland?

Hören Sie hier die Debatte in voller Länge:

Steul: Darf ich einen Zwischenruf machen?
Engelbrecht: Bitte.
Steul: Ich würde schon empfehlen, dass aus dem Wissenschaftsbegriff und auch aus dem deutschen oder interna… "historisch-kritisch" zu vermeiden. Das kommt nämlich bei Muslimen falsch an. Wir wissen, was gemeint ist. Ich würde schon den Begriff vermeiden.

Die Spiritualisierung der Geschichte

Angelika Neuwirth: Also gut, dem kann man beipflichten. Man könnte sagen, also das machen wir im Corpus Coranicum, wir sprechen von historisch-literaturwissenschaftlich. Das heißt, wir sehen den Text an, wie ein kreativer Literaturwissenschaftler das auch tun würde. Aber zu Ihrer Frage: Ich denke, was die Orientwissenschaft schuldig geblieben ist – Ömar Özsoy hat es angesprochen –, dass da viele Fehler auch in der Hermeneutik gemacht worden sind. Das waren wohlgemeinte wissenschaftliche Beiträge, aber die wurden in einer missgünstigen oder aus einer arroganten Position heraus vermittelt. Was ich meine, was wir grundsätzlich mal überlegen müssten, ist, dass der Islam ja nicht gleichzeitig entstanden ist mit Christentum und Judentum. Wir müssen ständig den Islam und den Koran an unseren, nun durch viele Wandlungen gegangenen Religionen …, und wir sind im Grunde seit der Neuzeit … Jetzt feiern wir das 500-jährige Jubiläum der Reformation, das für uns sozusagen markiert ja den Eintritt in die relevante Geschichte, vorher war dunkles Mittelalter. Im Islam nicht. Zur gleichen Zeit war im Islam ganz anderes angezeigt, aber wir glauben, dass wir damit unsere Winner-Position …, haben wir damals errungen, hat sich ja auch gleich ausgezahlt mit der Expansion zu den Amerikas, mit der Medienrevolution durch Gutenberg, mit der Vertreibung der Muslime aus Spanien. Fünf oder sechs solche kleinen Revolutionen können wir aufzählen. Wir glauben, dass wir damit – wie Faust das so schön sagt – für uns behaupten können, im Anfang war die Tat. Das würde nie im Islam passieren können, dass ein Muslim das Johannes-Evangelium korrigiert und sagt, im Anfang war die Tat. Nein, im Islam war im Anfang das Wort, und dieses Wort in der Spätantike, wo der Islam entstand, spielte eben die Hauptrolle. Das ist die spirituelle Lesung der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit als Historie interessiert die Muslime … hat sie eigentlich nie interessiert. Überhaupt nicht. Bis auf den heutigen Tag können Sie auch mit Archäologie überhaupt nicht argumentieren, sondern was daran interessiert, ist, dass die Welt längst spiritualisiert war wie eben im spätantiken Christentum und Judentum auch, dass es … In unseren Religionen, wenn ich das mal so sagen darf, ist das wieder abgeschminkt worden. Vielleicht nicht zu unserem Vorteil, aber immerhin mit der Reformation dann definitiv. Und jetzt glauben wir, also wir müssen von unserer Warte her die Parameter für die Messung des Wertes anderer Religionen haben. Das haben wir nicht. Ich denke, man müsste wirklich dem Islam mal zugestehen, dass der in eine Welt hineingeboren wird, wo man eben nicht mit "Am Anfang war die Tat" argumentierte, sondern tatsächlich die Spiritualisierung der Geschichte, die also jetzt zu spirituellen Ereignissen sublimiert worden ist, das muss man mal zugestehen. Dann liest man auch den Koran anders.
Engelbrecht: Aber entschuldigen Sie, Frau Neuwirth, auch Corpus Coranicum, Ihr großes Projekt, funktioniert dann nach westlichen Werten.

Der Koran als Bestandteil des Wissenskanon

Neuwirth: Ja, mein großes Projekt hat auch viele Wandlungen durchgemacht, und wir sind also bei der Reformation gerade umgekehrt verfahren. Wir sehen uns heute in Worten nicht mehr gegenüber, inzwischen ja auch gar nicht mehr nachweisbaren, Islamwissenschaftlern, die sich mit dem Koran beschäftigen. Es gibt in Deutschland überhaupt keine Spezialisierung mehr auf Koranwissenschaften. Der Koran wird also in der Islamwissenschaft kein Thema mehr. Also wir sind im Moment in ganz anderen Problemkreisen. Wir interessieren uns für die sicherheitspolitische Relevanz der muslimischen Minorität und so weiter. Also der Koran als religiöse Urkunde, der ist gewandert in die Theologien und das mit einem gewissen Recht, und jetzt müssen wir daran arbeiten, dass wir das hermeneutisch eben mit einem Kontext versehen, der für beide zutrifft. Ich denke, diese geistige, wenn man so will, diese Patina, die Heilige Schriften und überhaupt die Geschichte zur Zeit der Spätantike hatte, die ist verantwortlich für Vieles im Koran. Wenn wir das jetzt so lesen, als wäre das sozusagen ein neuzeitlicher Text, – und die Bibel lesen wir ja auch so, was vielleicht auch nicht das Allerklügste ist, aber immerhin –, wenn wir das so lesen, dann argumentieren wir an den Muslimen vorbei. Ich finde, also philologische Experimente in Ehren, das bezeugt die Gelehrsamkeit unserer orientalistischen Kollegen, aber ich finde, das ist nicht am Platz. Wir stehen unter Zeitdruck. Wir müssen in der nächsten Zeit es schaffen, den Koran, den Islam in unseren Wissenskanon einzubetten. Wir können nicht einfach daran herumexperimentieren und uns über unsere Gelehrsamkeit freuen, sondern wir müssen sehen, dass wir eine gemeinsame Linie fahren, nämlich hermeneutisch diesen Text in unsere Sprache zu übersetzen.

Gessler: Das war ein Ausschnitt aus der Diskussion zur Buchvorstellung "Koran erklärt" am Mittwoch in Berlin.

Willi Steul (Hg.): "Korean erklärt"
mit Beiträgen von u.a. Angelika Neuwirth, Willi Steul, Sebastian Engelbrecht und Thorsten Gerald Schneiders
Suhrkamp, 2017
297 Seiten, 10 Euro