Buch über Boko Haram

Wie die Terror-Sekte Nigeria ins Chaos stürzt

Eine Moschee in Maiduguri, Nigeria, nach einem Selbstmordanschlag, der die Handschrift von Boko Haram trägt.
Eine Moschee in Maiduguri, Nigeria, nach einem Selbstmordanschlag, der die Handschrift von Boko Haram trägt. © picture alliance / EPA / STR
Von Christoph Plate · 18.07.2015
Mike Smith hat das Büro der französischen Nachrichtenagentur AFP in Nigeria geleitet. Aus seinen Gesprächen mit Politikern, Menschenrechtsaktivisten und Opfern der Terrorgruppe Boko Haram ist dieses wichtige Buch entstanden.
Boko Haram heißt die Sekte, übersetzt: das Buch ist verboten. Es geht gegen westliche Bildung, gegen alle Schulen, außer gegen die islamischen Madrassas. Die Bewegung begann vor gut zehn Jahren als diffuse Gruppierung im vernachlässigten Norden des Landes. Boko Haram setzte sich vordergründig für die Menschen im muslimischen Teil des bevölkerungsreichsten Landes in Afrika ein. Man träumt von der alten Größe des Islam, als mächtige Emire in Kano herrschten. Gleichzeitig verschwört man sich gegen das muslimische Establishment in Nordnigeria aus Imamen, Fürsten und Geschäftsleuten.
Mohammed Yusuf, der Gründer von Boko Haram sagte einmal:
"Es gibt islamische Prediger, die erkannt und verstanden haben, dass die heutige westliche Bildung mit Aussagen durchsetzt ist, die unserem islamischen Glauben widersprechen. Zum Beispiel Regen: Wir glauben, dass Regen von Gott erschaffen wird und nicht etwa durch die Sonne verdunstetes Wasser ist, das kondensiert und Regen bildet. Oder die Behauptung, die Erde sei eine Kugel."
Mike Smith hat einige Jahre das Büro der französischen Nachrichtenagentur AFP in Nigeria geleitet. Aus seinen Gesprächen mit Politikern, Polizisten, Menschenrechtsaktivisten und Opfern von Boko Haram ist dieses Buch entstanden. Es ist ungemein detailliert, ein Buch, in dem minutiös die koloniale Geschichte Nigerias erläutert wird, in dem das Elend, das zur Gründung von Boko Haram führte, teils kulturell, teils politisch erklärt wird.
Unfähigkeit der nigerianischen Geheimdienste und des Militärs
Die meisten seiner Schilderungen und Folgerungen beruhen allerdings auf Aussagen von Dritten. Im Vorwort listet Smith penibel auf, mit welchem Anschlagsopfer er wann telefoniert hat. Ständig versichert Smith, er habe seinen Quellen selbstverständlich Anonymität zugesichert. Ist das wichtig? Dabei gebraucht er Adjektive, die eigentlich nichts beschreiben, und die ein Journalist in Krisengebieten sehr sparsam einsetzen sollte.
"Im Februar 2013 fand ein schockierender Anschlag statt… / …dass etwas Schreckliches passiert war… / …ein schockierender Angriff… / …schreckliche Gewalt… / …ob diese grausame Spirale von Töten und Gleichgültigkeit jemals ein Ende finden würde."
Wole Soyinka, der nigerianische Literaturnobelpreisträger, hat kürzlich in einem Gespräch Boko Haram als eine "Pest" bezeichnet, als eine Krankheit, die das ganze Land erfasst, also auch den mehrheitlich christlichen Süden Nigerias. Soyinka sieht in dieser mysteriösen Organisation eine reale Bedrohung für die verbleibende Integrität des nigerianischen Staates. "Entweder die oder wir" hat Soyinka diesen Konflikt drastisch beschrieben.
Mike Smith: "Boko Haram"
Mike Smith Boko Haram© C.H. Beck
Mike Smith beschreibt den Aufstieg von Boko Haram, die Zusammenarbeit der Terrorgruppe mit al-Kaida im Maghreb, den Treueschwur auf den Islamischen Staat im Irak und in Syrien. Die Organisation, die als Sammelbecken zwangsrekrutierter Hoffnungsloser gelten kann, scheint ihre zersetzende Kraft auch aus der puren Furcht der Menschen ziehen zu können. Und aus der Unfähigkeit der nigerianischen Geheimdienste und des Militärs, diese Gruppe zu bekämpfen. Mike Smith:
"Viele im Norden Nigerias betrachten die Demokratie inzwischen als ein System, das sie in Armut belässt und unwürdige, korrupte Führer reich macht. In Maiduguri, das nahe an den Grenzen zu den Nachbarstaaten Niger, Tschad und Kamerun liegt, wohnen die Wohlhabenden in hochgesicherten Villenbezirken, während die Armen ihr Wasser von Brunnen holen und Schilder auf den Verkehrsinseln auf Arabisch verkünden: ‚Allah ist der Versorger.‘"
Die wohl spektakulärste Aktion der Gruppe war im April 2014 die Entführung von mehr als 200 Mädchen aus einem Internat in der Ortschaft Chibok in der Savannenlandschaft im Nordosten. Unter dem Titel und Hashtag #BringBackOurGirls formierte sich innerhalb kurzer Zeit eine internationale Solidaritätskampagne.
Zu lange gab es keine militärische Antwort auf die Kriegsführung
Das Verdienst von Smiths Buch ist es, aufzuzeigen, wie die Gleichgültigkeit der nigerianischen Politik und der desolate Zustand der einst stolzen Armee dazu geführt haben, das Problem Boko Haram zu verharmlosen oder zu ignorieren. Der Wirrwarr in den Videobotschaften der Boko Haram-Führer findet seine Entsprechung in den unkoordinierten Aktionen der nigerianischen Politik und der Militärs.
Zu lange wurde keine militärische Antwort auf die asymmetrische Kriegsführung von Boko Haram entwickelt. Brachiale Einsätze nigerianischer Soldaten gegen vermeintliche Unterstützer von Boko Haram dürften der Sekte weitere Anhänger zugetrieben haben. Denn eine Armee, die ihr Volk nicht schützt, sondern es drangsaliert, wird kaum auf die Loyalität und Zusammenarbeit der Bevölkerung zählen können. Mike Smith zitiert Human Rights Watch:
"Bei Razzien in Wohnvierteln, die häufig nach Boko-Haram-Anschlägen stattfanden, haben Mitglieder der Sicherheitskräfte Familienväter vor ihren Familien exekutiert; Anwohner willkürlich verhaftet oder verprügelt. Sicherheitskräfte der Regierung hielten Verdächtige routinemäßig in geheimen Gefängnissen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Einzelhaft und haben Inhaftierte gefoltert oder auf andere Art körperlich misshandelt."
Das Thema Religion wurde in Nigeria lange ausgespart. Die aus dem Süden wollten jenen aus dem Norden nicht zu nahe treten. Und umgekehrt. Religion ist in einer multikonfessionellen Gemeinschaft normalerweise eine Nebensache, mit der man den Nachbarn nicht belästigt. Durch den Terror von Boko Haram ist das religiöse Eiferertum und die Bedrohung durch den militanten Islam als Thema in den täglichen Gesprächen der Menschen angekommen.
Dass eine lebendige Zivilgesellschaft und eine dynamische Presse in Nigeria sich dieses Themas annehmen, kommt in Smiths Buch nur am Rande vor. Er beschreibt den Terror in Maiduguri, Kano, Sokoto und Kaduna, aber auch in der Hauptstadt Abuja, weit entfernt vom eigentlichen Stammland von Boko Haram. Smith schafft Aufmerksamkeit für den islamistischen nigerianischen Terrorismus. Und das ist nötig. Wir haben von al Shabab in Somalia und in Kenia gehört, vom Islamischen Staat in Syrien und dem Irak. Wir müssen - dringend - auch über Nigeria sprechen.

Mike Smith: Boko Haram
Der Vormarsch des Terror-Kalifats
C.H. Beck, München
282 Seiten, 14,95 Euro

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