Buch der Woche

Ein ungemein zartgewobenes Gespinst

Von Knut Cordsen · 02.02.2014
Patti Smith, mittlerweile 67 Jahre alt, ist so etwas wie eine Rockpoetin: Bekannt geworden mit ihrer Musik, schreibt sie auch erfolgreich Bücher. Die "Traumsammlerin" ist ein autobiographisches Buch, in dem sie von ihrer Kindheit erzählt - ein Märchen, das gar keines sein will.
Ob dieses schmale Buch ein Märchen sei, wurde Patti Smith einmal gefragt. Wiewohl sie derlei Geschichten immer sehr mochte, sei "Traumsammlerin" kein Märchen für sie, entgegnete Patricia Lee Smith. Dass es märchenhafte Anklänge besitzt, ist offensichtlich. Doch muss man sich dieses Buch eher vorstellen als ein ungemein zartgewobenes Gespinst aus Kindheitserinnerungen, magischem Denken eines "melancholischen, staksigen" Mädchens sowie Reflexionen über das Leben und die Macht der Kunst.
Auf gerade einmal einhundert Seiten, versehen mit Fotografien etwa der Viertklässlerin oder einer für sie als Erinnerungsort bedeutsamen Scheune, entführt uns Patti Smith in das Paradies ihrer Kindheit. Dorthin, wo sie aufwuchs als Schwester von Linda, Todd und Kimberley, im Süden New Jerseys in einem äußerst frommen Haushalt, in dem abends gebetet wurde und Patti, wenn sie die leisen Atemzüge ihrer schlafenden Geschwister hörte, auf einen Stuhl stieg, den Fenstervorhang beiseite schob und ins Zwiegespräch mit den von ihr imaginierten "Wollsammlern" trat, die dem amerikanischen Original den Titel gegeben haben: "Woolgathering".
Zwischen Träumen und Erwachen
Diese "Leute von der schläfrigen Wiese" stellt sich die kleine Patti als Wesen vor, die ihrer Arbeit "ohne Lohn und Vertrag in einzigartiger, gemeinschaftlicher Anmut" nachgehen. Traumwollpflücker sind es, sie "sammeln, was gesammelt werden muss. Das Weggeworfene. Das Kostbare. Bruchstücke der menschlichen Seele, die sich irgendwie verflüchtigt haben. Aufgefangen in einer Schürze. Gepflückt von einer behandschuhten Hand."
Das ist der Grundton dieses Buches. Wie im hypnagogen Zustand zwischen Träumen und Erwachen, der seit jeher so fruchtbar ist für Dichter, fördert Patti Smith das ihr so Wertvolle zutage. Viele hier memorierten Szenen wird man schwerlich vergessen können. Zuvörderst jene wunderbare Erinnerung an Harry Riehl, einen alten Mann, der neben gestrichenen Orangenkisten vor seinem Haus sitzt und Elritzen verkauft, wenige Meter von seiner auf dem eigenen Grundstück begrabenen, zu früh verstorbenen Frau entfernt, über die er wacht als ihr Hüter.
Ein poetisches Patchwork knüpfen
Aber auch die Malerin und mit Robert Mapplethorpe eng verbundene Zeichnerin Smith begegnet uns. Während Scheibe um Scheibe auf dem Plattenteller kreist, legt sie mangels Talent Feder und Pinsel beiseite, um schreibend ihr poetisches Patchwork weiterzuknüpfen – einen "verrückten Flickenteppich aus Wahrheiten – wilde und wollene, die doch mit Wahrheit oft wenig zu tun haben". Man darf dieses zauberhafte Büchlein vielleicht als ein Dankgebet lesen – dafür, eine glückliche, wenngleich von Schatten nicht freie Kindheit erlebt zu haben.
"Ich gab allem einen Namen. Roter Lehmberg. Regenbogendach. Zunderholzsumpf": So oder so ähnlich mag mancher es in seiner Kindheit erlebt haben. Für all jene ist Patti Smith eine Traumpfadfinderin auf dem Weg zurück in die eigene Vergangenheit.

Patti Smith: Traumsammlerin
Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013
108 Seiten, 16,99 Euro