Hip-Hop und die NSU-Morde

Popmusik leistet Erinnerungsarbeit

07:17 Minuten
Porträt von Kutlu Yurtseven.
Der Rapper Kutlu Yurtseven wohnte in der Kölner Keupstraße als dort 2004 eine Nagelbombe des NSU explodierte. © Imago / Piero Chiussi
Von Phlipp Kressmann · 09.09.2020
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In der Popmusik verarbeiteten vor allem Hip-Hopper die NSU-Morde musikalisch. Ihnen geht es dabei nicht nur um die Verurteilung der Anschläge, sie wollen mit ihren Liedern mehr Bewusstsein für Rassismus im Alltag schaffen.
"Niemand wird Vergessen" heißt das deutsch-türkische Stück der Rapper Refpolk und Kutlu Yurtseven. Yurtseven wohnte in der Kölner Keupstraße, eine beliebte Einkaufsstraße und ein zentraler Ort für die türkische Community. 2004 explodierte hier eine Nagelbombe. Das Attentat wurde von Neonazis des NSU verübt. Yurtseven ging nur wenige Stunden zuvor von dort zur Arbeit.
"Diese Bombe sollte so viele Menschen töten, wie es nur geht", sagt Yurtseven, "nur mit viel Glück sind 22 Menschen zum Teil in Anführungszeichen 'nur' schwer verletzt worden. Als Betroffener denkst Du: Es kann Dir immer wieder passieren und keiner glaubt Dir. Nee, noch schlimmer: Du wirst auch noch zur Täterin und zum Täter gemacht." Im Song heißt es:
Opfer werden Täter, Faschos verschont,
Mauerfall bis Nagelbombe, das hat Tradition,
Özüdogru, Şimşek, Tasköpru, Yozgat,
Boulgaridis, Kubasik, Turgut, Burak,
Yasar, Arslan, Yilmaz, Genc.
In jeder der Seelen ein Schmerz, der brennt.

Hip-Hop greift NSU-Morde auf

Yurtseven zählt in dem Song weitere Namen von Mordopfern rechtsextremer Gewalt Anfang der Neunzigerjahre auf. Für ihn erinnert das Stück nicht nur an die Ereignisse, es ist auch ein Protestsong und kritischer Kommentar, gerade wegen der Zeile: "Opfer werden Täter".
Nicht nur Enver Simsek wurde nach seinem Tod inkriminiert, auch gegen seine Familie wurde zu Unrecht ermittelt. Vor allem im Hip-Hop wurden die NSU-Morde in einzelnen Stücken aufgegriffen. Der deutschtürkische Rapper Eko Fresh sang 2014:
Zehn Menschen tot als die Behörde scheinbar schlief,
Irgendwie fies, dass man danach was von Dönermorden liest.
"Irgendwie fies, dass man danach was von Dönermorden liest": Das Wort "Dönermord" tauchte 2005 erstmals in einer Zeitung auf und wurde später von anderen Medien übernommen.
"Erstmal war es für mich ein Schock zu hören, dass es Dönermorde sind. Stell Dir vor, beim Breitscheidplatz hätte man 'Kartoffeltote' oder so gesagt", so der Rapper und Sänger Chefket. Er bezieht sich dabei auf den islamistischen Anschlag auf einem Weihnachtsmarkt nahe der Gedächtniskirche 2016 in Berlin.

Ein diffuses Gefühl von Fremdheit

In seinem Song "Fremd" thematisiert er den mehr als fünf Jahre dauernden NSU-Prozess. Chefket betont darin: Viele NSU-Details klingen unwirklich und wie aus einem schlechten Film, sind aber keine Verschwörungstheorie.
Ich rechtfertige mich immer noch,
Ich bin Muslim, kein Terrorist,
Ein paar Beweise reichen aus, um fremde Länder zu zerstören,
Aber nicht bei Beate Zschäpe,
Kuck sie wird immer noch verhört,
NSU-Morde - True Story!
Sein Song verhandelt vor allem ein diffuses Gefühl von Fremdheit. Wie fühlt es sich an, nicht dazuzugehören? Chefket, bürgerlich Şevket Dirican, wurde als Sohn türkischer Einwanderer Anfang der 80er-Jahre in Deutschland geboren. "Fremd" ist eher melancholische Geschichte als Protestsong. Ganz bewusst entscheidet er sich auch darin zu singen.
"Rapmusik ist Protestmusik in meinen Augen. Wenn ich das auf eine gesungene Art und Weise mache, dann hören mir mehr Menschen zu, die vielleicht auch zu Rap keinen Zugang haben. Es geht nicht darum, die Leute zu erreichen, die das sowieso schon wissen", sagt Dirican.

Alltagsrassismus an Stammtischen

Politischen Kommentar und persönliche Erfahrung verband auch die Antilopen Gang im Stück "Beate Zschäpe hört U2". Rapper Koljah erinnert sich, dass man bei Zschäpe eine U2-CD fand.
"Ich hatte das Gefühl, das bringt das ganz gut auf den Punkt: Dass sie auch dieses gewöhnliche Leben geführt hat und die sich da eben so getarnt haben. Aber das wird nicht nur Tarnung gewesen sein, sondern die kann privat trotzdem U2 gut finden und das hören."
Hauptthema des Songs ist der Nährboden rechten Terrors, der mitunter auch am Stammtisch mit Alltagsrassismus beginnen kann. Es geht um einen persönlich erlebten Übergriff von Neonazis, Verschwörungstheorien und rassistische Sprüche. Der referenzreiche Song zeigt: Popmusik kann zur Selbstreflexion anregen.
Und aus dem Jenseits lacht Jürgen Möllemann,
Und der Holger Apfel fällt nicht weit vom Stamm,
Und Max Mustermann zündet ein Flüchtlingsheim an.
Deutschland, Deutschland, du tüchtiges Land!
Aus Koljahs Sicht ist das Lied unvermindert aktuell. Die Band spielte beim Solidaritätskonzert für Angehörige und Betroffene nach dem NSU-Prozess 2018. Auch die Künstlerin Sookee war in München dabei:
"Ich weiß, dass das bei mir irgendwie auch mit einer Art Scham verbunden war, denen einfach wenig anbieten zu können mit meiner Musik. Ich habe nach der Urteilsverkündung auf der Bühne gestanden und war sehr, sehr unsicher."

Popmusik kann Forderungen Nachdruck verleihen

Damals rappte sie auch ihr Stück "Zusammenhänge". Politische Sensibilität brauche es weiterhin, sagt Sookee. "Klar, ist das in Anbetracht der Historizität der NSU-Morde alles ein bisschen wenig und alles ein bisschen spät. Aber: Wenn die Taten des NSU, das Fortbestehen und die Kontinuitäten im Blick behalten werden, dann ist jeder Song, der jetzt noch dazukommt, großartig."
Auch in anderen Genres jenseits des Hip-Hops wurden die NSU-Morde thematisiert. Thees Uhlmann spielte in dem Song "Die Bomben meiner Stadt" auf die Anschläge an, Hendrik Otremba von der Gruppe Messer reflektierte über unsichtbares Leid der Betroffenen: "Wieviel Leid, was die Leute sogar versuchen, öffentlich zu machen und zu beschreiben, hat gar nicht die Chance, weil keine Lobby da ist oder weil sich niemand drum schert."
Gerade Popmusik kann Themen aufgreifen und dauerhafter auf die Tagesordnung setzen, die sonst medial zu verschwinden drohen. Sie kann auch bestimmten Forderungen Nachdruck verleihen. Zum Beispiel, dass die Keupstraße ein Erinnerungsort werden soll. Wie es die Indierock-Band Neufundland in dem Song "Eine Nagelbombe später" 2019 thematisiert.

Ohne Erinnern gibt es keine Zukunft

So unterschiedlich die Stücke über den NSU-Terror auch sind: Sie beweisen, dass Popmusik neben Protest auch aktiv Erinnerungsarbeit leisten und sich mit Menschen solidarisieren kann. Rapper Yurtseven setzt sich in einem neuen Song für Betroffene ein, die sich ein Mahnmal in der Keupstraße wünschen: "Es soll erinnert werden, es soll eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschafft werden, denn ohne Erinnern wird es keine Zukunft geben. Und die Gegenwart werden wir auch nicht bewältigen."
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