Broder kritisiert "Soße der Betroffenheit"

Henryk M.Broder im Gespräch mit Katrin Heise · 07.11.2008
Vor dem 70. Jahrestag der Reichspogromnacht hat der Publizist Henryk M. Broder gefordert, auf Betroffenheitsrituale zu verzichten. "Man könnte sich vielleicht diese Soße der Betroffenheit langsam ersparen." Die Deutschen hätten weniger ein Problem mit der Vergangenheit als mit der Gegenwart, betonte Broder.
Katrin Heise: Ich begrüße jetzt am Telefon den Publizisten Henryk M. Broder. Schönen guten Tag!

Henryk M.Broder: Guten Tag, Frau Heise!

Heise: Herr Broder, hätte Philipp Jenninger bei seinem rhetorischen Talent diese Rede besser nicht gehalten?

Broder: Nein, er hat die Rede schon halten sollen, und es war auch eine gute Rede und es gab damals eine Stimmung von Hysterie. Und wenn ich mich daran erinnere, wie ich reagiert habe, muss ich beschämt zugeben, mit einer Menge von Schadenfreude. Er war kein beliebter Mann, kein Sympathieträger. Und er war damals einfach ein Bauernopfer der politischen Korrektheit. Ich habe gejubelt, als ich von dieser Geschichte gehört habe, weil ich auch Jenninger nicht mochte. Und dann habe ich die Rede nachgelesen und es wurde mir immer stiller ums Herz, weil es keinen Grund zum Jubeln gab. Der Mann ist regelrecht geopfert worden. Die Rede war ganz, ganz in Ordnung, sie war sogar in großen Teilen richtig gut. Das hat auch Bubis später übernommen, wie gerade gesagt wurde. Er war eben kein begnadeter Redner. Er konnte keine Pausen machen und wusste nicht, wo er Atem holen soll. Er wusste nicht, wie man Anführungszeichen spricht, wie man Ironie betont. Das war alles, was man ihm zum Vorwurf machen kann.

Heise: Oder lag es vielleicht doch ein bisschen am Inhalt? Denn Jenninger wollte ja, und das war damals eher unüblich, sich den Tätern nähern und ihren Motiven.

Broder: Ja, aber das war das Gute an der Rede.

Heise: Ja, eben. Aber war man vielleicht noch nicht dafür bereit?

Broder: Na, man war für nicht bereit, weil von den Tätern noch zu viele lebten und man beschäftigte sich lieber mit den toten Opfern, die keinen Einspruch, keinen Widerspruch erheben konnten. Ich fand das damals nach der Lektüre ausgezeichnet, dass einer über die Täter sprach und auch das Faszinosum, von dem er spricht, war eine vollkommen richtige Beobachtung. Das Faszinosum hält bis heute an. Das Dritte Reich ist in der Tat ein Faszinosum, auch deswegen, weil sich alle möglichen Leute seit so langer Zeit um eine Erklärung bemühen und doch keine finden, wie ein gebildetes Volk auf so einen magenkranken Sesselpupser wie Hitler reinfallen konnte.

Heise: Sehen Sie, wenn ich jetzt Hitler als einen Sesselpupser bezeichnet hätte, weiß ich nicht, wie da wiederum die Reaktionen wären.

Broder: Wahrscheinlich sehr positiv.

Heise: Das Ganze, was wir eben besprochen haben, Jenninger liegt 20 Jahre zurück. Sie haben gesagt, wie Sie damals reagiert haben und dass Ihnen das ein bisschen unangenehm ist heutzutage.

Broder: Ja.

Heise: Der Journalistenhistoriker Götz Aly, der seinerzeit für die "TAZ" schrieb, bedauert ebenfalls seine Reaktionen aus dem November 88. Ist Ihrer Meinung nach der Vorgang heute so noch denkbar?

Broder: Ja, natürlich ist er denkbar. Schauen Sie, die Aufregung um eine Äußerung von Werner Sinn vor einer Woche oder vor zehn Tagen, der Mann hat einen ganz klaren Rekord. Er ist alles, er ist alles, nur kein Antisemit, hat sich einfach verplappert, einen dummen Satz gesagt.

Heise: Aber darf man sich verplappern in dem Zusammenhang?

Broder: Ja, man darf sich bei allem verplappern.

Heise: Auch wenn man öffentlich redet?

Broder: Ja, auch wenn man öffentlich redet, auch Politiker und Leute in öffentlichen Funktionen sind vor Irrtümern nicht sicher. Und inzwischen müsste doch in der Bundesrepublik die Erkenntnis verankert sein, was das Dritte Reich wirklich war. Aber die hysterischen Überreaktionen, auch bei Frau Herman damals in der Johannes-Kerner-Show, auch bei Frau Herman, bei ähnlichen Vorfällen zeugen von einer Unsicherheit. Irgendwas war doch am Dritten Reich dran, dass man so überheftig reagieren muss, um sein Entsetzen darüber auszudrücken. Wenn man nämlich es in der Tat als grauenhaft, schrecklich und wahnsinnig fände, dann müsste man sich nicht so zwanghaft, permanent davon distanzieren und über Leute herfallen.

Heise: Vielleicht ist es aber doch ein bisschen mehr als nur so ein Versprecher, denn es wird ja immer wieder gesagt, dass genau in solchen Versprechern eben verinnerlichte Klischees liegen oder bzw. Klischees, die andere Leute dann vielleicht herauslesen könnten?

Broder: Ja, das kann man so sagen. Man kann auch sagen, Kinder und Besoffene sagen die Wahrheit, das ist Küchenpsychologie. Aber wenn Sie irgendwo in der öffentlichen Debatte antreten, dann kann so was schon passieren. Ich plädiere jetzt nicht für Ausrutscher und rhetorische Ungeschicke im Umgang mit dem Dritten Reich. Ich stelle nur, wenn Sie so wollen, eine Unverhältnismäßigkeit der Reaktionen fest. Vor Kurzem, vor einer Woche, glaube ich, war der ehemalige iranische Präsident Khatami in Freiburg, ist dort mit allen Ehren empfangen worden, ein Staatssekretär eilte aus Berlin herbei, der grüne Oberbürgermeister reichte ihm die Hand. Khatami ist ein Mann, der sich im Laufe seiner Karriere unglaublich geäußert hat über den Westen, den Christen, gegenüber den Juden, gegenüber Israel. Er wird mit allen Ehren empfangen und Sie hören keinen Hauch von Empörung in diesem Land, weil unsere gesamte Aufmerksamkeit sich auf den letzten Holocaust richtet, der passiert ist, weil wir von der Vergangenheit in der Tat fasziniert und besessen sind.

Heise: Wir machen uns Gedanken darüber, wie man die richtige Sprache des Gedenkens an die Nazigräuel findet. Herr Broder, wo liegt Ihrer Meinung nach die größere Gefahr, sich bei Gedenkreden in Ritualen zu verlieren oder aber missverstanden zu werden?

Broder: Na ja, das eine hängt, fürchte ich, mit dem anderen zusammen. Weil es Rituale sind, werden die Leute missverstanden und weil diese Rituale eigentlich vollkommen unbedeutend inzwischen geworden sind. Das sind so Kammermusikveranstaltungen, mehr ist es nicht. Und Sie werden halt in kalendarischer Reihenfolge abgefeiert. Jetzt haben wir den 9. November, dann ist es der 27. Januar, die Befreiung von Auschwitz. Ich glaube, den meisten Leuten bedeutet das eigentlich nicht mehr viel. Und ich finde es im Prinzip auch gut, dass die Vergangenheit langsam in der Vergangenheit versinkt. Und es stimmt nicht, dass die Deutschen mit der Vergangenheit nicht klarkommen. Sie kommen mit der Vergangenheit sehr gut klar. Womit sie nicht klarkommen, ist die Gegenwart. Und das betrübt mich immer mehr. Es gibt, wenn Sie sich angucken, was heute passiert, Dafur, im Kongo fängt wieder der alte Völkermord an, der nie zu Ende war. Das beansprucht einen Hauch der Aufmerksamkeit, den wir auf die Vergangenheit richten. Und diese Besessenheit in der Vergangenheit hat, glaube ich, inzwischen Alibicharakter. Und es kommt auch daher, dass in der Tat so gut wie alle Täter ausgestorben sind. Man kann keinem mehr wehtun.

Heise: Sie sprechen davon, dass es eine Hysterie ist, dass es eine Überbetonung der Vergangenheit ist und vor allem eine ja eigentlich verinnerlichte Vergangenheit. Wie sollen gerade kommende Generationen, die sich ja immer weniger aus persönlichen Gründen mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen, wie sollen die eigentlich angesprochen werden? Mit welcher Sprache soll man sie denn ansprechen und auch auf das Heute lenken?

Broder: Ich weiß es nicht. Ich bin kein Pädagoge. Wenn ich Pädagoge wäre, hätte ich wahrscheinlich längst ein Handbuch dafür geschrieben. Man kann es nicht vermeiden, dass Prozesse historisiert werden. Und für die jetzige Generation hat das Dritte Reich eine andere Bedeutung als für meine Generation, der ich direkt nach dem Krieg geboren wurde. Man könnte es vielleicht einfach faktisch-historisch berichten, und man könnte vielleicht diese Soße der Betroffenheit sich langsam ersparen, die über diese Geschichte ausgebreitet wird, weil die Leute sind nicht wirklich betroffen. Sie sind nicht wirklich betroffen, sonst würden sie sich nicht dermaßen in die Vergangenheit stürzen und noch einmal, ich kann es immer nur wieder betonen, die Gegenwart leugnen. Wenn zum Beispiel heute die Existenz Israels zur Disposition steht, ist das eigentlich der Skandal, mit dem wir uns heute beschäftigen müssen. Aber wir sind sozusagen dabei, die Reichskristallnacht von 33 heute zu verhindern. Pardon, von 38. Ich meinte, die Machtübernahme von 33 heute zu verhindern und die Folgeschäden wie auch die Kristallnacht von 38.
Heise: Aber Sie haben es ja selber auch gesagt. Um in der Gegenwart Dinge zu erkennen und nicht wieder falsch zu machen, muss man natürlich die Vergangenheit aufgearbeitet haben.

Broder: Ja natürlich.

Heise: Und das ist auch wieder ein Vorwurf, inwieweit die Vergangenheit aufgearbeitet ist und inwieweit in welcher Sprache es für Generationen, die damit eigentlich nichts zu tun haben, überhaupt noch gemacht werden.

Broder: Ich glaube, diesen Vorwurf der Vergangenheit können Sie überhaupt nicht aufarbeiten, in dem Sinne, dass Sie damit irgendwann fertig sind. Das ist Work in progress, das bleibt. Was mich nur wundert, und was mich immer stärker empört, ist, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit so einflusslos und folgenlos bleibt für die Beschäftigung mit der Gegenwart. Das ist doch das Ungeheuerliche. Wenn zum Beispiel in Köln ein paar Tausend Demonstranten den Aufmarsch von ein, zwei Dutzend Rechten verhindern, dann hat man wirklich den Eindruck, die Leute holen etwas nach, was die Eltern und Großeltern 33, 38 versäumt haben. Und das sind nur noch Aktionen, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen, ein retrospektiv gutes Gewissen. Und davon halte ich einfach nichts. Ich muss ja zugeben, ich habe mich daran auch eine Weile beteiligt, ich hatte auch ein gutes Gefühl dabei, die Machtergreifung zu verhindern oder meine Eltern aus dem Güterwagon zu befreien. Das sind alles emotionale Akte. Wenn man sich die Sache politisch überlegt, dann kommt es darauf an, was heute passiert. Die Vergangenheit steht ja nicht mehr zur Disposition. Es gibt ja, abgesehen von ein paar Hundert Neonazis, auch niemanden in der Bundesrepublik, der das bestreiten würde, was damals passiert ist. Es muss nicht ständig das faktische Wissen darüber noch mal belegt werden. Entscheidend ist, was heute passiert. Entscheidend ist, wie wir uns mit den muslimischen Antisemitismus an Berliner Schulen auseinandersetzen. Entscheidend ist, was wir davon halten, dass sich die SPD heute mit Hisbollah-Leuten auf Konferenzen trifft. Das sind alles Punkte, die mich beschäftigen. Und ich glaube, mein Blick auf die Vergangenheit wird dadurch einfach immer schwacher. Entschuldigen Sie, ich halte das für eine ganz normale gesunde Reaktion, die auch gerne anderen empfehlen würde.

Heise: Sagt der Publizist Henryk M. Broder. Vielen Dank, Herr Broder, für dieses Gespräch!

Broder: Ich danke Ihnen.

Das Gespräch mit Henryk M. Broder können Sie bis zum 7. April 2009 in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören. MP3-Audio