Britische Leser "kaufen gezielt billige Bücher"

Holger Ehling im Gespräch mit Britta Bürger · 13.09.2011
Großbritannien hat seit 1995 völlig frei gegebene Preise für Bücher. Die Briten lesen heute nicht weniger, meint der Fachjournalist Holger Ehling, aber anders und selektiver. Massenware dominiere und die kleinen Buchläden seien gefährdet.
Britta Bürger: Anders als in Deutschland oder Frankreich sind die Verlage und der Buchhandel in Großbritannien nicht durch die Buchpreisbindung geschützt. Die Auswirkungen sind dramatisch: Seit 2005 ist die Zahl der Buchhandlungen im Königreich um die Hälfte geschrumpft. Mehr als 2.000 Geschäfte mussten schließen. In 600 Städten gibt es nicht einmal mehr einen einzigen Buchladen. Der Fachjournalist Holger Ehling beobachtet die Entwicklungen auf dem Buchmarkt seit langem. Ich grüße Sie, Herr Ehling.

Holger Ehling: Schönen guten Morgen!

Bürger: Lesen die Briten nicht mehr oder kaufen sie ihre Bücher nur noch im Internet, was ist der Grund für das Buchladensterben?

Ehling: Die Briten lesen sicherlich nicht weniger als vorher, vor allen Dingen, seit "Harry Potter" unter den Jugendlichen eine Manie entfacht hat und heute man getrost schon sagen kann, Lesen ist cool, ist Lesen tatsächlich eine sehr beliebte Freizeitbeschäftigung wieder geworden. Allerdings kauft man tatsächlich sehr gerne im Internet – Amazon und Konsorten haben in Großbritannien ca. 30 Prozent Marktanteil, in Deutschland ist es bei zehn –, aber vor allen Dingen geht man gerne billig shoppen, und das immer mehr in den Supermärkten.

Bürger: Was werden da für Bücher verkauft? Das ist ja wahrscheinlich nur ein ganz bestimmtes Segment.

Ehling: Die Supermärkte, Tesco und so weiter, haben in den vergangenen Jahren entdeckt, dass man mit Büchern Kunden locken kann. Das heißt, man geht in den ganz, ganz schnell drehenden Massenmarkt. Beispiel "Harry Potter", Stephanie Meyer, Dan Brown haben in den vergangenen zehn, zwölf Jahren praktisch eigenhändig dafür gesorgt, dass ein gewisses Wachstum im Buchhandel weltweit zu verzeichnen war. Die großen Supermarktketten in Großbritannien sind hergegangen, wann immer beispielsweise ein neuer "Harry Potter" kam, dass man ihn zum Drittel des vom Verlag empfohlenen Verkaufspreises im Supermarkt angeboten hat. Das ist ganz klar ein sogenannter Loss Leader: Man verkauft Bücher, bietet Bücher billig an, um tatsächlich etwas teurere Tomaten, Mineralwasser, Toilettenpapier und Zahnpasta verkaufen zu können.

Bürger: Und wie funktioniert das genau? Also, wie viel Rabatte geben die Verlage solchen Großabnehmern wie Supermärkten?

Ehling: Die Rabatte in Großbritannien werden von den Verlagen natürlich nach Abnahme gestaffelt. Das heißt, wenn Sie viel abnehmen, dann bekommen Sie auch besonders günstige Konditionen. Allerdings endet das auch irgendwo in der Gegend zwischen 60 und 70 Prozent Rabatt, den der Verlag dem Händler direkt gewährt. In Deutschland ist das bei cirka 35 bis maximal 40 Prozent. Und das ist aber auch so, dass diese großen Supermarktketten tatsächlich über den Rabatt die ganz niedrigen Preise, mit denen sie die absoluten Bestseller anbieten, gar nicht finanzieren können. Die bieten das zu sogenannten Dumpingpreisen an, und mit dem Ergebnis, dass in den vergangenen Jahren immer wieder das Spektakel zu beobachten war, dass unabhängige kleine Buchhändler, die diese Konditionen nie gekriegt haben, hergegangen sind und meinetwegen den "Harry Potter" für fünf Pfund im Supermarkt gekauft haben kistenweise und ihn dann im heimischen Buchladen für zwölf, 13, 14 Pfund angeboten haben.

Bürger: Das ist ja absurd.

Ehling: Und verkauft haben.

Bürger: Hat das denn insgesamt auch den Effekt, dass unterm Strich mehr Bücher verkauft werden, wenn sie billiger sind?

Ehling: Es hat nicht diesen Effekt. Man möchte natürlich aus ordnungspolitischen Gründen ganz gerne eigentlich das Ergebnis haben: Wenn es billiger wird, kaufen die Leute mehr. Es ist aber nicht so. Die Leute sind selektiver geworden, sie kaufen tatsächlich gezielt billige Bücher, und sie kaufen weniger Bücher. Es werden auch in Großbritannien weniger Titel produziert, das heißt, es kommen weniger Titel insgesamt raus, und es werden auch volumenmäßig weniger Bücher gedruckt und in den Handel gebracht. Das ist eine Sache, die sich schleichend eingeschlichen hat und die man sehen kann in den letzten 16 Jahren, seit halt die Preisbindung abgeschafft worden ist.

Bürger: Sind es denn vor allem die kleinen, spezialisierten Läden wie diese erwähnte Reisebuchhandlung Notting Hill, die nicht alles abdecken können jetzt vom Angebot, sind die besonders gefährdet?

Ehling: Es sind vor allen Dingen die kleinen, die unabhängigen Buchhandlungen, die gefährdet sind. Im Falle von der Buchhandlung in Notting Hill kommt ein anderes Phänomen hinzu, das wir so in Deutschland nicht kennen, nämlich die explodierenden Immobilienpreise in Großbritannien. In den vergangenen 20 Jahren ist der Markt komplett verrückt geworden, komplett überhitzt, die Ladenmieten in der High Street, das heißt, in den besseren Lagen, da, wo man Läden auch noch finden kann, sind so, dass in vielen Kleinstädten mittlerweile die Einzelhändler aufgeben müssen und die Ketten regieren, die einfach aus der linken Brusttasche irgendwas zahlen können, was ein Einzelhändler, der nur sich selbst hat und nur sich selbst kalkulieren muss, niemals bezahlen könnte. Das ist in Notting Hill ganz sicherlich auch ein Phänomen, und das trägt damit zu, dass halt die Kleinen zwischen Baum und Borke eingezwängt sind und nur sehr schwer da wieder rauskommen können.

Bürger: In Ländern ohne Buchpreisbindungen werden immer mehr klassische Buchhandlungen verdrängt, Supermärkte und Internethändler verkaufen Bücher zu Dumpingpreisen, das ist unser Thema hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Fachjournalisten Holger Ehling. Herr Ehling, gab es denn oder gibt es in England keine Initiative für eine gesetzliche Regelung der Buchpreisbindung, wie wir sie hier in Deutschland haben?

Ehling: Nein, diese Initiative gibt es nicht, es gab bis 1995 ein sogenanntes Net Book Agreement, also mehr oder weniger ein Gentlemen’s Agreement zwischen Buchhändlern und Verlagen. Das ist seinerzeit aufgekündigt worden auf Wunsch von drei, vier ganz, ganz großen Playern im Markt und ist dann auch relativ schnell sanktioniert worden durch Gesetzgebung der damaligen konservativen Regierung, was aber auch von der Labour-Regierung ab '97 niemals geändert worden ist. Man meint, dass man ohne Preisbindung zurechtkommen könne. Und es ist tatsächlich so, dass zwar das riesige Buchhandelssterben in den vergangenen Jahren zu beobachten ist – die Hälfte der Buchhandlungen hat seit 2005 dichtmachen müssen –, dass gleichzeitig aber zu beobachten ist, dass solche Buchhändler, die sehr, sehr gezielt hergehen und ihre Gemeinde beobachten und diese Gemeinde mit Angeboten versorgen, dass diese Buchhändler durchaus reüssieren können.

Ein gutes Beispiel dafür ist der neue Chef der größten Buchladenkette in Großbritannien, Waterstone’s, James Daunt. James Daunt hat in den vergangenen zehn, zwölf Jahren eine kleine Kette von sechs Läden in London aufgebaut, allesamt in sehr, sehr guten Lagen, allesamt in sehr, sehr guten Vierteln und allesamt sehr, sehr klar darauf ausgerichtet, die Bevölkerung in diesem jeweiligen Stadtviertel mit Büchern zu versorgen. Daunt hat mir mal erzählt, er hat niemals von einem Buch mehr als zwei Exemplare bei sich in den Buchhandlungen stehen, damit hat er auf begrenztem Raum eine ungeheuer große Breite des Angebots. Wenn jemand kommt und von zwei Büchern eins kauft, dann wird es eben nachbestellt, sagt er. Ist ganz einfach.

Bürger: Nehmen wir noch ein anderes Beispiel: die Schweiz. Dort geht das Tauziehen um die Buchpreisbindung hin und her, die wurde 2007 aufgehoben, dann ist sie in diesem Jahr wieder eingeführt worden und soll nun im nächsten Frühjahr erneut per Volksbegehren wieder abgeschafft werden. Sollte das jetzt tatsächlich passieren, Herr Ehling, hat das dann auch Auswirkungen auf den gesamten deutschsprachigen Raum, also, bedeutet das, dass ich in Zukunft ein Buch eines deutschen Verlages in einem Schweizer Supermarkt für den halben Preis bekomme?

Ehling: Es kann tatsächlich bedeuten, dass, wenn Sie in Lörrach oder sonst wo an der Schweizer Grenze wohnen, dass sie den bei Carlsen erschienenen "Harry Potter" tatsächlich in der Schweiz um die Hälfte kaufen können. Das ist natürlich keine besonders nette Situation, und die Schweizer Kollegen im Buchhandel und Verlagswesen sträuben sich auch dagegen, dass hier letztlich auf Betreiben eines großen Einzelhandelskonzerns, nämlich der Migros-Kette, hier eine gewachsene Struktur, die auch dafür sorgt, dass im Schlagschatten des riesigen deutschen Marktes eine sehr aktive Schweizer Literatur- und Verlagsszene existieren kann, dass dieser Schutz aufgehoben wird und das alles nur noch den Marktkräften preisgegeben wird.

Bürger: Noch etwas weiter südlich in Italien hat die Regierung jetzt beschlossen, dass die Buchhändler keine Preisnachlässe mehr gewähren dürfen, die höher als 20 Prozent sind, auch die Verlage dürfen maximal 25 Prozent Rabatt einräumen, und dies auch nur für kurze Sonderaktionen. Aber da gibt es auch Kritik, ja? Zum Beispiel von den Bibliotheken, die bislang 30 Prozent Rabatt bekommen haben. Das ist ja auch in allen anderen Ländern ein wichtiger Aspekt, denn die Ankaufsetats der Universitäten, die schrumpfen allüberall. Das heißt, Bibliotheken werden veralten?

Ehling: Bibliotheken werden sicherlich nicht veralten. Es ist eine Pflicht des Staates, Bibliotheken vorzuhalten, und der Staat wird durch die paar Pfennige hin und her, die letztlich im Gesamtetat eine leichte Erhöhung des Ankaufsetats bei Bibliotheken angeht, sich sicherlich nicht in das Elend stürzen. Das ist ein Nebenkriegsschauplatz, der letztlich auch von politisch interessierten Gruppen geführt wird.

Wir haben in Deutschland ja auch die Debatte darüber, wie Bibliotheken den Zugang zur Literatur gestalten können. Natürlich möchte der Staat als Finanzier der Bibliotheken möglichst billig wegkommen damit, natürlich haben die Verlage ein gutes Interesse daran, dass ihre Bücher in angemessener Weise gezeigt werden und zugänglich gemacht werden, und dass man nicht ein Buch kauft, das dann digitalisiert und in tausendfacher Version zugänglich und kopierbar macht. Das ist in Deutschland per Gerichtsentscheid inzwischen unmöglich gemacht worden.

Also, zwischen Bibliotheken und Buchhandel und Verlagen gibt es auf jeden Fall noch ein paar Verwerfungen, die zu klären sind. Aber was in Italien passiert ist, wenn man die Situation vorher bedenkt, dass Verlage, Buchhändler eigentlich wild in der Gegend herumpreisen konnten mit ihren Büchern, dann ist jetzt tatsächlich gerade ein Schutz auch für kleinere Mitbewerber im Markt erzielt worden, und die bisherige Bunga-Bunga-Rabattsituation in Italien ist damit aufgehoben.

Bürger: Italien, die Schweiz und Großbritannien, die Buchhandlungen sterben, und das hat was mit der fehlenden Buchpreisbindung zu tun. Darüber hat uns der Fachjournalist Holger Ehling informiert. Schönen Dank fürs Gespräch!

Ehling: Bitte!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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