Breitband-Dopingmittel der Leistungsgesellschaft

28.02.2008
Von den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs in die Praxis des Kinderarztes: Hans-Christian Dany beschreibt in seinem Buch "Speed" die anhaltende Erfolgsgeschichte der Droge Amphetamin. Dass Amphetamine in unserer Gesellschaft immer größere Akzeptanz finden, hält er für äußerst bedenklich.
Speed alias Amphetamin macht knallwach, mobilisiert Kraftreserven und steigert die Konzentrationsfähigkeit. Gleichzeitig stellen sich gefährliche Nebenwirkungen ein: Nervosität und unkontrollierter Bewegungsdrang, erhöhte Risikobereitschaft und Wahnvorstellungen, die bis in den Selbstmord führen können.

Das graue Pulver kann "Medikament, Waffe oder Medium" sein, behauptet der Kunstkritiker Hans-Christian Dany. Für ihn ist die synthetische Droge in erster Linie eine Metapher: Seiner Meinung nach konzentrieren sich in dem chemischen Beschleuniger die Sehnsüchte des geschwindigkeitsverliebten und leistungsorientierten 20. Jahrhunderts. "Speed" heißt sein Buch darum schlicht.

Dany verfolgt das komplizierte Wechselverhältnis zwischen einem real existierenden Rauschmittel und einer sozialen und politischen Projektionsfläche und verspricht Einsichten in eine "Gesellschaft auf Droge": Speed hat als "Arbeitsdroge" genauso Karriere gemacht wie als "go pill" für müde Bomberpiloten.

1887 synthetisiert ein rumänischer Chemiker in Berlin einen Kunststoff mit dem Namen "1-Phynolpropan-2-amin". Es dauert 40 Jahre, bis die Amphetamin genannte Substanz von der amerikanischen Pharma-Industrie als Asthmapräparat wiederentdeckt wird. Benzedrine heißt das Medikament. Es soll nicht nur gegen Atembeschwerden helfen, sondern auch gegen Narkolepsie und Depressionen. Gleichzeitig wird es als Rauschmittel zweckentfremdet: Den ultimativen Kick verspricht die "B-Bomb", Benzedrine, das in Kaffee aufgelöst wird.

Im nationalsozialistischen Deutschland wird die abgeleitete Substanz Methamphetamin als Pervitin verkauft und im Zweiten Weltkrieg erfolgreich als Gefechtsdroge getestet. Diese militärische "Umnutzung" des Medikamentes zieht sich als blutroter Faden durch das 20. Jahrhundert. Speed alias "nazi crank" setzt sich allerdings keinesfalls nur im Militär durch. Nach dem Krieg bringen die Veteranen die Droge zurück in ihre Heimat - und zumindest für Japan lässt sich der Anteil der Muntermacher am Wirtschaftswunder statistisch nachweisen.

Speed ist der Treibstoff der Leistungsgesellschaft. Und er mobilisiert die Schwerarbeiter der Popindustrie. Johnny Cash und Elvis stehen ihre Tourneen nur mit chemischer Hilfe durch. Zu der leistungssteigernden Wirkung von Amphetaminen kommt ihre attraktive Funktion als Appetithemmer hinzu: Der Teenager-Star Judy Garland hungert sich mit ihrer Hilfe für ihre Rolle im "Zauberer von Oz" auf die Figur eines kleines Mädchens herunter.

Schlank, schnell und leistungsbereit, das ist das dreifache Versprechen, das Speed bis heute bereithält. In den späten Achtzigern erobern Amphetamine als Ecstasy die Techno-Diskotheken zwischen Detroit und Ibiza und verhelfen Angestellten zum Power-Work-Out auf der Tanzfläche.

Das letzte High erlebten sie in den vergangenen Jahren als Antwort auf die Mode-Krankheit ADHS: Die unter Schulkindern breit diagnostizierte Konzentrationsschwäche wird mit Ritalin behandelt, einem nahen Amphetamin-Verwandten.

Höher war die gesellschaftliche Akzeptanz eines Rauschmittels wohl noch nie. Misstrauisch beobachtet Hans-Christian Dany den Aufstieg der Droge Speed zum Breitband-Dopingmittel der Leistungsgesellschaft - und empfiehlt Abstinenz: Es gibt gute Gründe, schreibt er, "nüchtern zu bleiben". Darauf kann man sich nach der Lektüre einigen.

Rezensiert von Kolja Mensing

Hans-Christian Dany: Speed. Eine Gesellschaft auf Droge
Nautilus, Hamburg 2008.
183 Seiten, 16 Euro.