Braunsbach 100 Tage nach der Überschwemmungskatastrophe

"Die Uhr ist stehen geblieben"

Zwei Autos sind unter eine Geröllmasse verschüttet
Braunsbach im Mai 2016: Nach der Überflutung ist noch eine Geröllmasse übriggeblieben. © dpa / Marijan Murat
Von Uschi Goetz · 07.09.2016
Rund 100 Tage ist es her, dass mehrere Orte in Baden-Württemberg und Bayern von schweren Überschwemmungen mit weitreichenden Folgen heimgesucht wurden. Dörfer wurden überflutet und Häuser zerstört, viele Menschen haben fast alles verloren.
Sonntagabend, 29. Mai. Im Braunsbacher Gasthof "Zum Löwen" herrscht Hochbetrieb. Draußen beginnt es zu regnen.
In Elzhausen ist es schon starker Regen. Das kleine Dorf liegt auf der Höhe, knapp fünf Kilometer von Braunsbach entfernt.
Stefan Thaidigsmann kommt nach Hause. Er wohnt mit seiner Familie in einem Haus auf dem elterlichen Hof. Seine jüngste Tochter ist wenige Tage alt, die ältere, Marie, ist vier. Thaidigsmann, ein großer, sportlicher, dunkler Typ, 39 Jahre, ist ein Naturmensch. Er hat seine Passion zum Beruf gemacht hat und bietet unter anderem Kanutouren an. "Hohenlohe Aktivtours" heißt sein kleines Unternehmen.

"Wir haben Erde auf der Straße verteilt"

Der Regen wird immer stärker, Thaidigsmann nimmt seine Tochter Marie auf den Arm, beide schauen aus dem Fenster. Durch die Scheune kommt Wasser, das Nachbarhaus ein paar Meter weiter unten, steht schon tief im Wasser. Wie andere aus dem Dorf rennt Thaidigsmann nach draußen:
"Wir haben dort gegen die Wassermassen gekämpft, die ins Dorf schon über die Äcker reinflossen und haben Erde verteilt auf der Straße."
Was sich in den nächsten Minuten oben in Elzhausen und unten in Braunsbach etwa 80 Kilometer von Stuttgart abspielt, wird von Augenzeugen als apokalyptisch bezeichnet:
In Elzhausen versickert das Wasser nicht mehr, die Hochebene und die wenige Meter tiefer liegenden Felder werden zum Trichter. Das Wasser sammelt sich, reißt alles mit, wird zur reißenden Flut, stürzt sich hinunter ins Tal. Zwei sonst harmlose Bäche, der Schlossbach und der Orlacher Bach, bahnen sich brachial den Weg in Richtung Kocher, dem zweitgrößten Nebenfluss des Neckars.
"Zum Löwen" unten in Braunsbach steht an einer Straßenecke. Immer mehr Wasser kommt den Berg hinunter. Im Gasthaus versucht ein Mitarbeiter die Tür zuzuhalten. Ohne Chance, die Wassermassen drücken hinein in den Gasthof, in die Gaststuben, in Küche, in Kellerräume.

Tonnenweise Geröll in rasender Geschwindgkeit

Die Gäste retten sich in den ersten Stock. Seniorwirt Robert Philipp schafft es im letzten Moment, seinen Mitarbeiter festzuhalten:
"Die Strömung war so stark, der hat es von eigener Kraft nicht mehr zurückkönnen. Da musst du halt ziehen, wenn dir jemand abrutscht, nachspringen kannst du nicht mehr. Die Geröllmassen, die kommen in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit. Da kommen ja so Tonnen, zwei Tonnensteine wie Tennisbälle."
Steine, Geröll, Holz und Autos schießen durch den rund 900 Seelen zählenden Ort. Fenster bersten, Schaufenster gehen zu Bruch, Häuser wackeln, Scheunen werden zerlegt.
Stundenlang ist Braunsbach eingeschlossen, eine sechs Meter hohe Geröllwand am Ortseingang trennt den Ort von der Außenwelt.
Stefan Thaidigsmann will in der Nacht nach Braunsbach fahren. Er hat ein kleines Reisebüro, nicht weit vom Löwen entfernt. Nach dem Büro, aber vor allem nach seinen Kanubooten auf dem Kocher will er schauen.
Thaidigsmann: "Dann habe ich nachts versucht hier runterzukommen, über den Grimmbach mit dem Traktor. War aber ein aussichtsloses Unterfangen, denn selbst wenn ich durchgekommen wäre über den Wald, waren da schon Unterspülungen und 30 Zentimeter hoch Wasser auf der Straße, auf dem Waldweg."

Braunsbach ist verwüstet

Nur mit schwerem Gerät schaffen Räumungskräfte den Durchbruch in der Nacht. Das Ausmaß zeigt sich am Morgen: Braunsbach ist verwüstet, die Dorfstraße ist aufgerissen, einige Häuser sind einsturzgefährdet und dürfen nicht mehr betreten werden. In den Häusern liegt Schlamm und Geröll.
Erfahrene Rettungskräfte berichten, sie hätten so etwas noch nie gesehen. Eine ganze Gegend, das Hohenlohische, wurde von einer der schlimmsten Unwetterkatastrophen seit der Wetteraufzeichnung heimgesucht. Die Schäden gehen in die Millionen.
Das Gasthaus zum Löwen ist bis zum Erdgeschoss zerstört, auch vom Reisebüro von Thaidigsmann ist nicht mehr viel übriggeblieben:
Broschüren, Unterlagen, Ordner sind weg, die Telefon- und Interneteinrichtung zerstört. Von der nächtlichen Sintflut sind Schlamm und Geröll in dem kleinen Reisebüro übriggeblieben.
Thaidigsmann: "Das Haus gehört mir nicht, ich bin nur Mieter hier. Da das Gebäude mir nicht gehört, muss ich abwarten, was hier passiert und wie lange es dauert."
Von zwölf Kanus fehlt die Hälfte, später werden einige Boote gefunden. Vier sind zerstört, irgendwo auf dem Kocher zerschellt.

Die Flut hat alles zerstört

Der Nachbar von Thaidigsmann, Robert Philipp, steht in einem Raum, wo kahle Wände zu sehen sind. Der Putz musste aus dem früheren Gastraum herausgerissen werden. Robert Philipp zeigt auf eine Wand an der Eingangstür:
"Das Wasser ist hier einen Meter, 1,10 durchgegangen, komplett."
Auch der Schaden im Löwen geht in die Millionen: die Küche, eine zum Restaurant gehörende Metzgerei, die Räucherkammer, Tiefkühlräume, Wäschestube, Einliegerwohnung - alles hat die Flut zerstört.
"Man muss das alles rausreißen, weil alles verschlammt ist. Das kann man nicht drinnen lassen, das schimmelt alles, sport auch, das riecht ja auch entsprechend, deswegen musste man den Kernputz herausmachen."
An diesem 29. Mai ist wie durch ein Wunder kein Mensch in Braunsbach körperlich zu Schaden gekommen.
Am Tag eins nach dem Jahrhunderthochwasser beginnen die Aufräumarbeiten. LKWs fahren Tag und Nacht Stein und Geröll aus Braunsbach ab. 50.000 Tonnen insgesamt.
Schäden sind am 15.08.2016 in Braunsbach (Baden-Württemberg) an einem Haus zu sehen. Drei Monate nach der verheerenden Flut sind die Schäden in Braunsbach noch sichtbar.
Drei Monate nach der Flut sind die Schäden in Braunsbach noch sichtbar.© Franziska Kraufmann/dpa

"Eine angestrengte Lage"

Thaidigsmann: "Ich war anfangs geschockt, bin es teilweise immer noch und seither ist eigentlich permanent arbeiten angesagt, um entweder die Folgen zu beseitigen oder wieder in Betrieb zu kommen. Oder die Touren unter verschärften Bedingungen - meine Kanutouren - auszuführen, ohne Büro, ohne alles. Es ist eigentlich überall ein Mehraufwand. Man kann auch nicht so Auto fahren und seine Touren durchführen, wie man das normalerweise gewohnt ist. Von dem ist es alles mit Mehrarbeit verbunden, es ist eher eine angestrengte Lage."
In der Katastrophennacht bot der Löwenwirt Braunsbachern ohne Bleibe Gästezimmer an. Während das Erdgeschoß verwüstet wurde, blieben die Zimmer im ersten Stock des Löwen unbeschadet.
Das ganze Dorf stand vor ein paar Monaten zusammen, erfuhr auch von außen eine große Solidarität. Bauunternehmer stellten Fahrzeuge und auch das Personal dazu, Freiwillige kamen spontan zum Helfen.
Heute ist jeder wieder auf sich alleine gestellt:
Philipp: "Jetzt muss jeder ein bisschen nach sich selber schauen. Die, wo nicht versichert sind, sind natürlich zutiefst zerstört. Die, wo versichert sind, kämpfen mit ihren Versicherungen, dass alles bezahlt wird, aber in Wirklichkeit doch nicht alles bezahlt wird. Das ist ein bisschen eine zwiespältige Meinung. Die anderen, da wird das Haus noch abgerissen, die wissen noch nicht, wird es abgerissen, wird es nicht abgerissen. Und dann kommt es halt darauf an, ob sie es sich leisten können oder nicht."

Ohne Versicherung wird um die Existenz gekämpft

Robert Philipp hat nahezu alles versichert, was es zu versichern gab. Selbst eine Betriebsunterbrechungsversicherung hat er vor über zwanzig Jahren abgeschlossen. Das Personal bekommt weiter seinen Lohn, auch wenn der Betrieb nicht läuft. Beim Abschluss dieser Versicherung hatte Philipp einen Brandschaden vor Augen, mit Hochwasser hat bis Ende Mai 2016 kein Mensch gerechnet.
Stefan Thaidigsmann hat keine Versicherung, sein Schaden beläuft sich auf etwa 30.000 Euro. Er kämpft um seine Existenz. Im Sommer bietet er Kanufahrten durch das Kocher- und Jagsttal an. Bei ihm kann man auch Boote mieten.
"Ich werde es erst im Winter sagen können. Klar es ist ein heftiger Einschnitt, ich hoffe, ich packe es."
Das Land Baden-Württemberg stellt eine Woche nach dem Hochwasser eine gestaffelte Soforthilfe zur Verfügung. Pro Person gibt es höchstens 500 Euro, ein Haushalt bekommt maximal 2.500 Euro, kleine Gewerbebetriebe erhalten 5.000 Euro.
Thaidigsmann: "Ich habe die 5.000 Euro Soforthilfe vom Land, die jeder Hochwassergeschädigte beantragen konnte, die habe ich als Kleinunternehmer bekommen."
Zuvor hatte Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einer Besichtigung von Braunsbach die Einwohner verärgert. Auf die Frage nach finanzieller Unterstützung sagte er: "Wir können jetzt nicht wie früher der Kaiser mit dem Geldsack hierherkommen und das irgendwie verstreuen." So mache man das in einer Gesellschaft nicht.

Auch nach einer Katastrophe bürokratische Notwendigkeiten

Gemeint hat Kretschmann, dass es auch nach einer Katastrophe bürokratische Notwendigkeiten bei der Vergabe von Geldern gibt. Betroffene verstehen den Sinn dieser Worte erst heute langsam.
Ende Juni bewilligt das Land Baden-Württemberg ein Sonderförderprogramm in Höhe von 10,65 Millionen Euro allein für Braunsbach. In der Begründung heißt es, die Gemeinde könne den Wiederaufbau finanziell alleine nicht stemmen. Und doch ist Stefan Thaidigsmann enttäuscht:
"Ich hätte mir vom reichen Baden-Württemberg schneller, die erste Hilfe kam schnell, die Soforthilfe wurde relativ unkompliziert ausgezahlt, aber ich hätte mir für die Gemeinde Braunsbach eine schnellere Handlungsweise und auch eine zahlungswilligere Handlungsweise gewünscht."
Enttäuscht ist Thaidigsmann auch über den Bund. Aus dem 2013 geschaffenen Fluthilfefonds gab es weder für Bayern noch für Baden-Württemberg Geld. Obwohl von dem nach den Überschwemmungen an Elbe und Donau geschaffenen Fond immer noch rund vier Milliarden Euro zur Verfügung stehen.

Jetzt müsst es regnen

Anfang August. In Baden-Württemberg haben die Sommerferien begonnen. Stefan Thaidigsmann sitzt am Ufer des Kochers am Campingplatz von Braunsbach. Hier liegen auch seine Kanus im Fluss, das Geschäft könnte besser laufen:
"Also ich habe momentan eine gebremste Nachfrage, es wird aber besser… Gebremst eigentlich dadurch, dass einige wahrscheinlich denken, dass ich keine Kanutouren durchführen kann."
Dabei ist er gerade in diesem Jahr so dringend auf Gäste angewiesen. Langsam wird es eng für den Kleinunternehmer. Seit Wochen ist es hochsommerlich warm, der Kocher führt zu wenig Wasser.
"Wir sagen alle Touren für heute ab. Für das kommende Wochenende rechnen wir eher mit Flachwasser am Kocher." ist auf der Homepage von "Aktiv Tours Hohenlohe" zu lesen. Jetzt müsste es regnen.
Thaidigsmann: "Ich habe mich an dem 29. Mai eigentlich auch gefreut auf den Regen, dass so viel kam, damit habe ich nicht gerechnet. Jetzt warte ich wieder auf Wasser, natürlich wenn möglich in moderatem Umfang. Ja, zeigt eigentlich die Extreme, die wir heutzutage haben. Einerseits viel schnell Wasser, andererseits auch wieder Trockenperioden. Eigentlich macht sich für mich da (der) Klimawandel bemerkbar."
Morgen wird er einen Bürocontainer aufstellen, in der Nähe des ursprünglichen Büros. Ob und wie Thaidigsmann die Naturkatastrophe verändert hat, mag er heute noch nicht sagen. Er zündet sich eine Zigarette an und schaut in die Weite:
"Ja, es läuft nichts mehr so, wie es lief. Das alltägliche Leben ist eigentlich das, was darunter leidet. Dass man mal in die Wirtschaft gehen kann, in den Gasthof "Zum Löwen", zum Essen, zum Supermarkt, in die Apotheke, wenn es nur Geldabheben am Bankautomat ist. Das ist alles momentan nicht möglich. Die Uhr in Braunsbach an der Volksbank steht nach wie vor auf 20.15 Uhr, genau da, wo sie am 29. Mai um 20.15 Uhr stehen geblieben ist, von daher ist irgendwie auch ein wenig die Uhr stehen geblieben."