Bottini: "Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens"

Das Große und das Kleine in unübersichtlichen Zeiten

Im Hintergrund: Ein Bauernhof im Donaudelta
Der Kriminalroman "Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens" spielt in Mecklenburg Vorpommern und in Westrumänien. © DuMont / picture alliance / dpa
Von Tobias Gohlis · 08.12.2017
Mit diesem Buch erweist sich Oliver Bottini als einer der besten Kriminalschriftsteller deutscher Sprache, meint Literaturkritiker Tobias Gohlis. Bottini schaffe es, abstrakte Themen wie Globalisierung und Landraub mit zutiefst glaubwürdigen Figuren erlebbar zu machen.
Oliver Bottinis Kriminalroman "Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens" spielt in zwei Regionen Europas, die von der Landwirtschaft geprägt sind, und unter Landwirten. Beide Regionen - Mecklenburg-Vorpommern und Westrumänien - haben sich nach der Wende von 1989 grundlegend verändert. Was klingt wie die Einleitung zu einem volkswirtschaftlichen Essay ist das Setting eines der interessantesten Kriminalromane, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
"Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens" beginnt mit einem schrecklichen Unfall. Auf dem Weg in die Ferien in Dänemark gerät die Familie Winter auf der Autobahn in einen Sandsturm. Aber sie fahren nicht durch die Sahara. Deshalb krachen sie blind in einen Stau, ein LKW kracht hinterdrein, zwei Kinder und die Mutter kommen um, nur der Vater, der auf der Suche nach der Tochter herumgeirrt war, überlebt.

Neuanfang in Westrumänien

Drei Jahre später finden wir diesen Maik Winter wieder, in Westrumänien, in der Nähe von Temesvar. Dort hat sein Freund Jörg Marthen, ein sturer Mecklenburger, 2005 ein Gut gegründet. Es heißt nach ihrer beider Herkunftsort Neu Prenzlin. Marthen, das erfahren wir nach und nach, ist bei der Rückabwicklung der LPG wie viele andere nach 1989 übers Ohr gehauen worden, konnte aber seine Sehnsucht nach einer Landwirtschaft in dem hoch verschuldeten, hoch ambitionierten Betrieb "JM Romania" verwirklichen.
Marthen ist ein Träumer. Seiner Tochter Lisa will er eine Pferdezucht einrichten, auch zur Erinnerung an Winters verstorbene Tochter Emma, realisiert aber nicht, dass der Studentin das Leben auf dem Land zu eng ist. Sie will zurück nach Berlin. Aber bevor sie aufbrechen kann, wird sie am Flussufer gefunden. Tot, vergewaltigt, die Erde konnte so viel Blut nicht aufnehmen.
"Eine Geschichte von Gier, Wut und Panik", erkennt der rumänische Kriminalpolizist Ioan Cozma am Tatort. Er und sein langjähriger Freund Cippo sind abkommandiert, den Fall zu lösen. Auch sie sind, wie die beiden deutschen Neu-Landwirte, vom Leben gezeichnet: Cozma, Sohn eines jüdischen NS-Opfers, wurde in antifaschistischem Wahn zu einem Schergen Ceaușescus und hat mindestens einen Menschen zu Tode gefoltert. Cippo und ihm sitzen die Staatsanwälte zur "Aufklärung der kommunistischen Verbrechen" im Nacken. Hinzu kommen Antikorruptionsermittler. Denn im alten wir im neuen Rumänien läuft nichts ohne Schmiergeld.

Keine übergeordnete Moral

Das sind nur die Grundlinien der Konflikte, die Oliver Bottini gestaltet. Mit diesem Buch erweist er sich als einer der besten Kriminalschriftsteller deutscher Sprache. Ihm gelingt es, individuelle Familiengeschichte und politisch-wirtschaftliche Geschichte so zu verquicken, dass sie nicht nur anschaulich werden, sondern nacherlebbar. Als Geschichte, in der alle Entscheidungen persönlich und unabänderlich getroffen werden, aus Motiven, die gut begründet sein mögen, aber doch nicht gut sind, weder im ethischen, noch im nützlichen Sinne. Die hohe Warte einer übergeordneten Moral ist nicht Bottinis Perspektive.
Fürsorglich folgt er seinen Figuren und ihren Charaktereigenschaften ins Gestrüpp von Verlust, Einsamkeit und Weiterleben. Seine Figuren leben in ihren Widersprüchen. Es gelingt Bottini sogar, auf der kurzen Strecke eines Erzählstrangs so schwierige Entscheidungen glaubwürdig darzustellen wie die des Ermittlers Cozma, sich seiner Geschichte und der Justiz zu stellen. Oder das bizarre Handeln des Mörders nachvollziehbar zu machen. Ohne dabei das Ganze aus den Augen zu verlieren: Auch der Sandsturm, in dem Winters Familie starb, ist eine Folge von Landraub.

Ein Roman, den jeder lesen sollte

"Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens" erzählt von der Wirklichkeit der Globalisierung, vom Landraub der Agrarkonzerne und ihren verheerenden Wirkungen auf Mensch und Land, von den einschneidenden Veränderungen des Lebens in Europa nach 1989, von menschlichen Verlusten und winzigen Gewinnen, von Trauer und Leid. Aber all dies ist in keinem Moment abstrakt, sondern immer ganz konkret in seinen Figuren beglaubigt. Von ihrer Tapferkeit weiter zu leben, trotz aller Ohnmacht. "Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens" ist ein Roman, den jeder lesen sollte. Er gibt Auskunft über das Große und Kleine in unseren unübersichtlichen Zeiten.

Oliver Bottini: "Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens"
DuMont, Köln 2017.
414 Seiten, 22 Euro

Mehr zum Thema