Boomtown im Osten

Falkensee platzt aus allen Nähten

Ist in Deutschland am stärksten gewachsen: Falkensee im Brandenburgischen Havelland.
Ist in Deutschland am stärksten gewachsen: Falkensee in Brandenburg. © dpa / Bernd Settnik
Von Michael Frantzen · 11.01.2016
Nicht München oder Berlin - Falkensee ist seit 1990 am stärksten gewachsen: Mit einem Plus von 87,1 Prozent hat sich die Zahl der Einwohner fast verdoppelt. Der kleine Ort in Brandenburg ist zu einer Boomtown geworden, die mitunter auch an Wachstumsschmerzen leidet.
"Kommen Se rein."
Das ist Edmond. Aus dem "Hexenhaus".
"Das Hexenhaus ist ein sehr spezielles Haus."
In Falkensee, der Stadt vor den Toren Berlins. Dass im Hexenhaus alles so speziell ist, liegt an der verspielten Architektur hier, den ganzen Erkern und Art-Deko-Fenstern. Und an dem Hausherrn.
"We are pleased to have you as a client tonight."
Begrüßt Edmond, der mit Nachnamen Becker heißt und stramm auf die 70 zugeht, schon mal die Gäste seines Gourmet-Tempels. Englisch spricht er fließend, seit er in Florida ein Restaurant betrieb. Französisch nicht minder perfekt seit den 14 Jahren an der Côte d’Azur.
"Voila. C’est ca."
"André?! Kann ick noch ‘nen bisschen Sauce haben für die Gänse?
Aus Frankreich hat Edmond nicht nur sein Faible für savoir vivre mitgebracht, sondern auch die Küche: Provenzalisch. Viele Kräuter, möglichst frisch – und raffiniert. Der gebürtige Badener mag das. Der durchschnittliche Falkenseer nicht ganz so. Edmond Becker:
"Wir haben doch zwei, drei Jahre gebraucht, bis wir akzeptiert wurden. Wir haben natürlich unsere Küche – ohne uns zu verbiegen – ein bisschen adoptiert. Das heißt, wir kochen witzig, wir kochen frech. Und sind trotzdem ‘nen bisschen bodenständig."
Preisgünstige Stadt mit herbem Charme
Bodenständig – das muss sein. In Falkensee, der Stadt im Havelland. Schon ein eigenes Völkchen – die Leute hier. Sinniert Edmond, der Vielgereiste – ehe er in seiner High-Tech-Küche formvollendet eine Gänsebrust auf einen Teller platziert. Ganz anders als die Leute in Berlin. Da wollte er eigentlich hin, als ihn auf seine alten Tage das Heimweh nach Deutschland packte, er jedoch feststellen musste, dass sich das mit dem "Arm, aber sexy" in Berlin erledigt hatte. Sexy: ja – meint Edmond und hebt theatralisch die Hände: das sei Berlin immer noch. Aber arm: Mon dieu, sicher nicht. Eher teuer. Darauf hatte er keine Lust. Dann lieber Falkensee, die preisgünstige Stadt mit dem herben Charme.
"Es is sehr groß, sehr dezentralisiert. Ob’s jetzt ‘ne richtige Schönheit ist auf dem ersten Blick?! Würde ich jetzt nich‘ sagen. Mir fehlt zum Beispiel so‘n kleines Dorfzentrum, wo man sagen könnte: Hier sitzt man auf der Bank. Hier ist ‘ne Kirche. Und hier ist so‘n kleiner Ortskern. Antik oder auch historisch. Das ist leider nich‘ der Fall."
"Wenn wir versuchen mit wenigen Worten Falkensee zu beschreiben, dann ist die einfachste These, die man in den Raum stellen kann: Falkensee ist anders."
… sekundiert Heiko Müller, dem man wohl nicht zu nahe tritt, wenn man ihn als bodenständig bezeichnen würde. Es ist Donnerstagmorgen, kurz nach zehn. Draußen rattern die Sattelschlepper im Zehn-Sekunden-Takt am Rathaus vorbei.
"Falkensee ist ohne Berlin gar nicht zu erklären"
Drinnen, im ersten Stock des neoklassizistischen Gebäudes, steht Falkensees Bürgermeister auf, um an den langen Besprechungstisch zu gehen. Ein paar Sekunden später hat der SPD-Mann den Beamer angeschmissen, mit dem er eine Luftbildaufnahme seiner Heimatstadt an die Wand wirft. Links – das ist Falkensee. Und rechts, quasi im nahtlosen Übergang: Alles schon Berlin-Spandau.
"Falkensee ist gar nich‘ ohne Berlin zu erklären. Das ist ein Ort, der sich entwickelt hat, weil hier die Leute gewohnt haben, die in Berlin gearbeitet haben. Und diese Lebensader ist halt durch die Mauer abgeschnitten worden. So, dass wir sozusagen im Schatten der Mauer gelebt haben und auch so ‘ne Art Dornröschenschlaf hatten. Das hat sich natürlich radikal verändert durch die Öffnung der Mauer. Das, was über Jahrzehnte nicht passiert ist, ist jetzt wie im Zeitraffer erfolgt. Und wir haben eine Entwicklung durchlaufen, die ist glaube ich, schon ziemlich einzigartig."
Ein Ortsschild von Falkensee, Landkreis Havelland (Brandenburg), aufgenommen am 09.10.2015.
Ortseingangsschild im brandenburgischen Falkensee© dpa / Nestor Bachmann
Das kann man wohl laut sagen. Knapp 22.000 Einwohner hatte Falkensee zur Wende, heute sind es – hauptsächlich bedingt durch Zuzug - mehr als 43.000. Das ist Spitze unter allen mittleren und größeren Städten in Deutschland. Rekordverdächtig sind auch die Schülerzahlen: Sie verdreifachten sich fast im selben Zeitraum – auf 5.600 Schüler. Heiko Müller rattert die Kennziffern seiner Stadt nur so runter; dass die Immobilienpreise für Ein- und Zweifamilienhäuser 2014 um fünfzehn Prozent gestiegen sind. Anderswo in Brandenburg, in Schwedt oder Angermünde, verwalten sie den Schwund: Falkensee dagegen wächst und gedeiht. Genau das aber bereitet dem Bürgermeister zuweilen Schmerzen, Wachstumsschmerzen.
"Das, was mit Wachstumsschmerzen vor allen Dingen zu meinen ist, ist natürlich dieser Wettlauf, dem man ausgesetzt ist. Nämlich den Wettlauf letztendlich, in einer hinreichenden Geschwindigkeit Kitas, Schulen, Infrastruktur zu bauen. Es ist ja natürlich so, wenn Leute hierherziehen, sie die Erwartungshaltung haben: Wenn sie ankommen, soll das Kind dann auch zur Schule gehen, so, das bedeutet aber: Die Schule muss schon fertig sein. Das ist dieser Wettlauf. Wir mussten versuchen, schneller zu sein als der Zuzug, der von uns auch kaum beeinflussbar gewesen ist."
Gemeinde am Rande Berlins leidet unter Wachstumsschmerzen
Dieses Jahr könnte es endlich etwas werden mit einem Abi-Ball in Falkensee – zum ersten Mal seit über 25 Jahren. Bislang mussten die Falkenseer Abiturienten aus Platzgründen auf Nachbargemeinden ausweichen. Mit der neuen Mehrzweckhalle soll das anders werden, in Kürze wird der 16 Millionen Euro teure Neubau eröffnet. Gut investiertes Geld – findet der Bürgermeister. Über zwanzig Millionen Euro hat die Stadt Falkensee allein letztes Jahr investieren können. Traumhaft, wenn da nicht diese Schmerzen wären, die Falkensees Stadtvater plagen.
"Schmerzen deswegen, weil es natürlich Prioritätensetzungen sind. Wenn ich das Geld in Schule um Schule, Kita um Kita reinstecke, kann ich mir andere Dinge nicht leisten, die sich Kommunen leisten können, wo die Schülerzahl sich halbiert. Beispielsweise wenn ich mir Straßen angucke: Die Haupterschließungsstraßen sehen zum Teil schlimm aus. Die müssten längst grundhaft überholt worden sein."
Über den Straßenverkehr regen sich viele in Falkensee auf. "Und wie!" – meint Jacqueline Kemmling energisch. Die Blechlawine, die sich werktags an ihrem Geschäft in der Bahnhofsstraße entlang wälzt, nervt die Goldschmiedin schon seit Längerem.
"Gerade zu den Feierabendzeiten. Und früh morgens werden hier viele Kinder in die Schule gebracht. Hier sind auch viele Wohngebiete ringsum entstanden. Wir haben auch noch Durchgangsverkehr, weil die Umgehungsstraße wird ja nun auch nicht gebaut. Wir haben jetzt viel Stau."
Seit mehr als 20 Jahren betreibt die Frau mit den melancholischen Augen ihr Geschäft in Falkensees Haupteinkaufsstraße. Ein Familienbetrieb: Schon der Vater stellte Schmuck her, damals, zu DDR-Zeiten. Das war einmal. Die Zeiten haben sich geändert. Die Geschmäcker auch.
"Dadurch, dass viele von außen reingekommen sind. Sind halt... andere Menschen. Möchten auch andere Sachen kaufen. Man muss sich halt anpassen. Früher waren die Ketten dicker, die Ohrringe größer. Und das is jetzt alles schlichter geworden. Zierlich. Zart. Schlicht."
Jacqueline Kemmling schüttelt den Kopf – ehe sie eine imaginäre Fluse von ihrem grauen Pullover zupft. Sie mag das nicht. Dieses Minimalistische. Dass sie als Alteingesessene inzwischen in der Minderheit ist – und die Zugezogenen in der Mehrheit - die Wessis.
"Die sind halt...die sind anders. Jetzt nicht im negativen Sinne, aber: Die sind halt anders. Die Nachbarschaft ist ganz anders. Früher haben sich alle geholfen. Es gab nicht viel. Der eine hatte dieses, der andere jenes. Wenn mal jemand auf der Straße umgefallen ist, sag ich mal so, dann wurde sich drum gekümmert. Heute laufen die Leute dran vorbei. Hatten wir hier, hat mich sehr erschreckt. Dass hier vor meiner Tür ein junges Mädchen auf der Erde lag und hat keinen interessiert. Wäre früher nicht passiert – definitiv nicht."
Kein planmäßiger Zug macht in Falkensee Station. Ein umtriebiger Geschäftsmann hat lediglich einen abgestellten Viertelzug zu einem Restaurant umgebaut und erwartet seine Gäste. Foto: Karlheinz Schindler +++(c) dpa - Report+++
Schon lange her: S-Bahn-Restaurant in Falkensee im Jahr 1993© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
Alteingesessene und Zugezogene: In Falkensee wohnen oder arbeiten sie manchmal Tür an Tür – ohne dass sie sich schrecklich viel zu sagen hätten.
"Engere Kontakte bestehen auch nur zu Zugezogenen."
Nur ein paar Schritte sind es von der Goldschmiede zum Weltladen von Angela Eder. Fair gehandelte Produkte – damit verdient die zugezogene Bayerin ihr Geld: Tee, Kaffee; Jacken aus Nepal; Geschenkartikel.
"Viel so Up-cycling Produkte, die mal was anderes waren. Wir haben hier zum Beispiel – ganz witzig: Das war mal ‘ne Wasserflasche aus Südafrika. Und das heißt: Klick-Box. Und wenn man das jetzt so zu klickt, dann ist es halt ‘ne Dose."
Vor knapp dreieinhalb Jahren hat die gelernte Übersetzerin ihren Laden aufgemacht - samt vier Mitstreiterinnen und Betti, ihrer Hündin. Das mit dem eigenen Geschäft war Eders großer Traum. Sich selbstständig machen. Möglichst wenig dem Zufall überlassen – so lautete im Vorfeld ihre Devise. Ergo besuchte sie Existenzgründerseminare – und ließ sich von einer Wirtschaftsprüferin einen Businessplan aufstellen. Ein halbes Jahr später hatte die Öko-Frau ihren Laden. Seitdem hofft sie, dass es vorangeht. Mit dem Umsatz und ihrem Traum.
"Es ist schon schwerer als gedacht. Auch das Bekanntwerden. Viele Leute kommen das erste Mal und sagen: Sie sind einfach während der Woche hier nicht unterwegs, in der Bahnhofsstraße. Sondern die sind in Berlin, beim Arbeiten. Die kaufen, was sie brauchen, schnell auf dem Weg nach Hause und halten sich hier nicht auf."
Falkensee, die Pendlerstadt: Damit hadert auch Angela Eders Angestellte Birgit Benz.
"Immer wieder, wenn ‘nen Versuch gestartet wurde: Wir hatten ‘ne ganz schöne Tapas-Bar hier. War relativ schnell wieder zu, obwohl sie eigentlich ganz gut frequentiert war. Ich weiß nicht, woran es liegt."
Falkensee scheint Berlin von Tag zu Tag ähnlicher zu werden
So hatte sich die fröhliche Frau aus dem Schwäbischen das eigentlich nicht vorgestellt; dass sie immer nach Berlin fahren muss, wenn sie mit ihren Freundinnen ausgehen will. Hat ja schließlich lange genug in der Hauptstadt gelebt - mit ihrem Mann und den drei Kindern, in einer Altbau-Wohnung in Charlottenburg. Bis Birgit Benz von der Hektik der Großstadt genug hatte; dem Lärm, den vollen Straßen. Vor zwölf Jahren kam sie nach Falkensee, erfüllte sie sich ihren Traum vom Eigenheim im Grünen. Seitdem hat sich viel getan. Fast schon zu viel. Benz verzieht unmerklich das Gesicht. Manchmal, meint sie, beschleiche sie das ungute Gefühl, dass Falkensee Berlin von Tag zu Tag ähnlicher werde.
"Wir wohnen in einer Straße – da waren vorher viel, viel freie Grundstücke. Viele Bäume. Da hat sich ganz viel getan; dass da gebaut wurde. Da ist jetzt gar kein freies Grundstück mehr. Man merkt deutlich, was das für ein Zuzug hier ist."
Falkensee ist und bleibt attraktiv – trotz steigender Grundstückspreise. Die Sache ist nämlich: In Berlin ziehen die Preise noch mehr an. Schon mal ein Pluspunkt. Genau wie der Nahverkehr. Anderswo in Brandenburg fahren Busse und Bahnen einmal die Stunde: Von Falkensee aus geht es im Viertel-Stunden-Takt nach Berlin, ist man mit dem Regionalexpress in zwanzig Minuten am Berliner Hauptbahnhof.
"Die Verbindung ist ja fantastisch."
Freut sich dementsprechend Ursula Nonnemacher, grüne Landtags- und Kommunalpolitikerin. Auch so ein Berlin-Flüchtling.
"Wir wohnen heute zehn Kilometer von der Arbeitsstätte meines Mannes entfernt. Er fährt jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit."
Nach Berlin-Spandau.
"Hab ich auch gemacht, als ich noch im Krankenhaus tätig war, vor meiner Tätigkeit als Abgeordnete. Und als wir in Berlin wohnten, hatten wir ‘nen weiteren Weg zur Arbeit als von hier raus."
Nonnemacher wohnt seit Mitte der 90er in Falkensee, in einem 30er-Jahre-Haus. Die braunhaarige Politikerin, die mit ein bisschen Phantasie als Zwillingsschwester der grünen Bundestags-Fraktionsvorsitzenden Kathrin Göring-Eckardt durchgehen könnte, schließt in ihrem Wahlkreisbüro hinterm Bahnhof für einen Augenblick die Augen. Waren andere Zeiten. Falkensee war damals grüne Diaspora. Kein Ortsverband, allenfalls ein paar versprengte Grünen-Sympathisanten – mehr war nicht. Bis zum 15. April 1997. Dem Tag, an dem die Frau aus dem Westen den "Grünen-Ortsverband Falkensee" gründete – und daran ging, die Lokalpolitik aufzumischen.
"Hatte das Gefühl: Meine Güte, hier wurde aber viel abgenickt. Früher. Das hieß dann auch manchmal: ‚Mensch, seit sie im Parlament sind, dauern die Sitzungen doppelt so lange. Immer dieses ständige Nachfragen. Und das haben wir früher ganz anders gemacht.‘"
Nachfragen tut Nonnemacher inzwischen nicht nur in der Falkenseer Stadtverordnetenversammlung, sondern auch im Potsdamer Landtag. Manchmal ganz schön stressig. Heute beispielsweise: Saß sie erst sieben Stunden im Innenausschuss, um dann schnell ihre Sachen zu packen und zurück nach Falkensee zu fahren, in ihr Wahlkreisbüro. Hier laufen die Stränge zusammen, koordiniert sie ihre Arbeit als Landtags- und Kommunalpolitikerin. In Brandenburg ist so eine Doppel-Funktion nicht ungewöhnlich, erst recht nicht in Falkensee. Der Bürgermeisterwahlkampf Ende September letzten Jahres ist ein gutes Beispiel dafür. Es traten an: SPD-Amtsinhaber Müller, seines Zeichens Ex-Landtagsabgeordneter; von der CDU Barbara Richstein, ehemalige Brandenburger Justizministerin und Landtagsabgeordnete; und für die Grünen: Ursula Nonnemacher. Das Rennen machte der SPD-Mann. Doch die Grüne ist trotzdem zufrieden. Schließlich hat sie im Wahlkampf einige Themen auf die Agenda setzen können, die ihr wichtig sind.
"Was nachhaltige Stadtentwicklung angeht: Da, denke ich, haben wir schon ‘ne ganze Menge Probleme und auch Versäumnisse. Das war jetzt auch ‘nen Thema im Bürgermeisterwahlkampf vor Kurzem. Dass wir gesagt haben: ‚Gut! Was die Bildungseinrichtungen angeht, haben wir uns jetzt aufgestellt.‘ Aber wir haben an Konzepten: Nachhaltiges Stadtentwicklungs-Konzept, Grünflächenbewirtschaftungs-Konzepte, Radwege-Konzepte, Klimaschutz-Konzept – da haben wir große Defizite."
In der Wachstums-MetropoleOst, der schmerzgeplagten. Im Frühjahr letzten Jahres war Brandenburgs Infrastrukturministerin Kathrin Schneider zu Besuch in Falkensee. Politische Gespräche, das übliche Programm. Nachher gab die Parteilose zu Protokoll, sie sehe für Falkensee "Potenzial"; Wachstumspotenzial. Es gebe doch da noch diese unbebaute Fläche in der Nähe des Falkenhagener Sees – da könne man prima ein neues Wohnviertel hochziehen; am besten dicht bebaut.
In Falkensee kam das nicht besonders gut an – weder beim Bürgermeister noch bei Ursula Nonnemacher. Die Grünen-Politikerin geht zum Fenster. Sie zeigt nach rechts: Da drüben, meint sie, auf der anderen Seite der Bahnunterführung, wird garantiert wieder Stau sein. Wegen des Feierabendverkehrs. Noch mehr Zuzug hieße noch mehr Stau. Sie will das nicht. Nicht nur wegen der Lebensqualität, sondern auch aus landespolitischen Gründen. Schon jetzt driftet Brandenburg auseinander. Hier die schrumpfende Peripherie, dort wachsende Städte wie Falkensee, die vom Zuzug aus Berlin profitieren.
"Dieser Zuzug findet zu 85 Prozent hier im Speckgürtel statt. Und damit wird die Auseinandersetzung ‚Schrumpfung in der Peripherie – Zuzug und Wachstum im Berlin-nahen Raum‘ sozusagen noch akzentuierter als wir das erwartet hatten. Es wird für 2030 so prognostiziert, dass auf 15 Prozent der Landesfläche im Berlin-nahen Raum die Hälfte der Bevölkerung dann leben wird. Das schafft Probleme, weil sowohl Schrumpfungsprozesse als auch Wachstumsprozesse Geld kosten."
Mit Problemen kennt sich auch Manuela Dörnenburg aus. Falkensees Gleichstellungs- und Integrationsbeauftragte schaut an diesem sonnigen Morgen etwas entgeistert. Müssen es gleich "Probleme" sein? Wie wäre es stattdessen mit "Herausforderungen"? Meint sie und lacht. Also Herausforderungen. Eine ist, dafür zu sorgen, die ganzen Neu-Falkenseer samt Anhang zu integrieren.
"Dass viele junge Familien sagen: Oh, wir haben jetzt hier unser Häuschen, alles ganz schick. Na, dann holen wir unsere Eltern doch nach. Und dann wohnen die hier in irgend ‘ner Wohnung oder eben auch in einem Seniorenwohnheim. Das heißt, wir haben auch ‘nen Zuzug von älteren Menschen."
Integrationsbeaufragte wirbt für mehr Verständnis im Umgang mit Alten und Fremden
7.500 Menschen sind in Falkensee über 65. In zwanzig Jahren werden es voraussichtlich doppelt so viele sein. Manuela Dörnenburg blättert in ihren Unterlagen. Irgendwo muss doch noch die passende Statistik sein. Da ist sie – meint sie und wedelt triumphierend mit dem Blatt. Doppelt so viel! Das wird Folgen haben - für sie als Integrationsbeauftragte und die Stadt gleichermaßen.
Es müssen deutlich mehr Mietwohnungen gebaut werden; bezahlbare. Doch mit dem sozialen Wohnungsbau ist es in Falkensee so eine Sache. Er kommt nur schleppend voran. Tausend zusätzliche preisgünstige Wohnungen plus X – so lautet die Vorgabe von Dörnenburgs Boss, dem Bürgermeister, für die nächsten Jahre. Soll er mal reinhauen. Falkensees Integrationsbeauftragten kann es nicht schnell genug gehen. Je früher sie sich auf eine alternde Stadt einstellten, meint die Frau mit den funkelnden Augen, desto besser. An Ideen mangelt es ihr nicht.
"Da ist es sicherlich mal gut, dass die Bäcker im Bereich der Bäcker-Ausbildung oder der Friseurin - dass die einfach auf dieses neue Kundenpotenzial vorbereitet werden. In Falkensee sind wir ja Teil eines größeren Projektes, was wir hier im Havelland haben: Nämlich das Demografie-Projekt des Landkreises Havelland. In dem Zusammenhang diskutieren wir genau so etwas: Wie kann man sich aufstellen als Stadt? Und, naja, wenn denn ein demenzkranker Mensch zum Friseur geht und nicht zahlt - dass dann nicht das Geschrei groß ist, auch gleich die Polizei geholt wird, sondern dass dann auch mit ‘nem entsprechenden Verständnis reagiert wird."
Verständnis erhofft sich die Integrationsbeauftragte auch für eine weitere Bevölkerungsgruppe: Die Flüchtlinge. Ein heikles Thema – das muss man Manuela Dörnenburg nicht zweimal sagen. Rund hundert Flüchtlinge haben in Falkensee vorübergehend Zuflucht gefunden. Nicht besonders viele, doch das wird sich bald ändern – spätestens dann, wenn die zweite Notaufnahme aufmacht.
"Ich denke mal, bis Februar, März werden wir um die tausend Flüchtlinge hier wohnen haben. Und das werden sie dann natürlich auch im Stadtbild sehen. Als Verwaltung haben wir uns noch mal personell zusätzlich aufgestellt, in dem wir einen Sachbearbeiter für Flüchtlingsfragen berufen haben. Der ist mir zugeordnet."
Die Flüchtlingsproblematik, eine alternde Bevölkerung, irgendwelche Wachstumsschmerzen – in "Edmonds Hexenhaus" scheint das alles wie weggewischt. Es ist spät geworden. Bis auf vier, fünf Hartgesottene haben sich die übrigen Gäste längst auf den Heimweg gemacht. In Falkensee geht man früh ins Bett. Noch so eine Lektion für Edmond, den Globetrotter. Er lacht. Kein Problem. Macht er halt früher auf. Für seine Falkenseer tut Edmond alles.
"Die ständige Aufmerksamkeit dem Gast gegenüber; ihn zu verwöhnen, zu begrüßen, zu bewirten, ihm Neues zu bieten – das gehört dazu."
In Falkensee, der Wachstumsmetropole, der, ach, so schmerzgeplagten.
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