Blitzschnelle Gen-Entschlüsselung

Von Thomas Gith · 28.10.2012
Statt einige Jahre benötigen Genetiker heute nur noch zwei Wochen, um das Erbgut eines Menschen zu entschlüsseln. Möglich wird das durch neue Sequenzierungsmethoden. Genetisch bedingte Krankheiten lassen sich damit schneller und besser erkennen.
Vor rund fünf Jahren wurde Maria Neuling zum zweiten Mal schwanger. Die Freude bei der damals knapp 30-jährigen Frau und ihrem Mann war groß, hatten sie doch bereits ein Kind - und würden jetzt ein zweites bekommen. Die Schwangerschaft verläuft damals problemlos, genauso wie die Geburt. Sohn Ferdinand kommt zur Welt - doch schnell wird klar, dass er krank ist, erzählt seine Mutter:

"Also dass Ferdinand nicht gesund ist, haben wir relativ schnell nach der Geburt gemerkt, da er zu klein und zu leicht auf die Welt kam und auch Anpassungsschwierigkeiten hatte. Er konnte die Temperatur nicht selbstständig halten, er konnte nicht selbst trinken. Und da war eben von Anfang an klar, dass Ferdinand nicht gesund ist. Allerdings war natürlich nicht deutlich, in welchem Ausmaße sich seine Krankheit später niederschlagen würde."

Anfangs glauben die jungen Eltern noch, dass sich Ferdinands Schwierigkeiten in einem normalen Rahmen bewegen. Sie haben versucht zu verdrängen, sagt Maria Neuling heute. Doch die Sorge, dass Ferdinand ernsthaft krank ist, wird immer nagender. Auch, weil die Ärzte ratlos sind - und die Untersuchungen zunehmen. Die Mediziner befürchten eine genetische Erkrankung.

"Dann ging das im Prinzip los, dass in der Geburtsklinik schon ein humangenetisches Konzil durchgeführt wurde. Der Humangenetiker, der Ferdinand ursprünglich betreute, ist nicht weiter gekommen, dann sind wir zu einer anderen Humangenetikerin gewechselt. Und im Prinzip wusste keiner der Ärzte richtig weiter. Es wurden Verdachtsmomente geäußert, was für uns als Eltern natürlich auch immer sehr belastend war, da es sich oftmals um Krankheiten handelte, die fortschreitend sind und die wirklich lebensbegrenzend sind."

Fast drei Jahre vergehen so - mit Arztbesuchen und einer fehlenden Diagnose. Für die Eltern eine belastende Situation - auch, da sich Ferdinand körperlich und geistig kaum entwickelt, sogar über eine Magensonde ernährt werden muss. Und das Schicksal des Neulings ist kein Einzelfall. Bei seltenen genetischen Krankheiten bleibt häufig die Diagnose aus. Der Grund: Die Mediziner müssen von den äußeren Symptomen auf ein fehlerhaftes Gen schließen und dieses gezielt untersuchen, sagt Molekulargenetiker Hans-Hilger Ropers:

"Das Problem ist allerdings, dass viele dieser Krankheiten klinisch völlig überlappen und einfach nicht unterscheidbar sind. Dann wird es natürlich sehr schwierig, von dem Krankheitsbild selbst auf einen bestimmten Gendefekt zu schließen. Und aus dem Grund, kann das dann leicht mal fünf, sechs, sieben, acht Jahre dauern, auch viel länger. Und häufig hat man den Defekt einfach eben nicht gefunden, weil der Experte den Defekt nicht kennen konnte, weil das Krankheitsbild einfach nicht bekannt ist."

Ganz besonders trifft das für viele genetisch bedingte Formen der geistigen Behinderungen zu. Sie gleichen sich häufig in ihrem äußeren Erscheinungsbild - können genetisch aber oft völlig andere Ursachen haben. Bei jeder dieser Behinderungen ist oft nur ein Gen betroffen, das bisher wie die Nadel im Heuhaufen gesucht werden muss. Das allerdings ändert sich gerade grundlegend: Durch die Methode des "Next Generation Sequencing". Hochleistungsfähige Apparate analysieren dabei computergestützt das Erbgut.

"Diese neuen Methoden unterscheiden sich von den alten dadurch, dass man jetzt nicht nur einzelne DNS-Abschnitte sequenziert, sondern Hunderttausende oder Millionen gleichzeitig. Und damit bekommt man eben einen sehr viel höheren Durchsatz. Und damit ist es möglich, in endlicher Zeit tatsächlich das ganze Genom zu sequenzieren und zu erfassen."

Während es noch vor kurzem Jahre dauerte, um das komplette Erbgut eines Menschen zu analysieren, gelingt das heute in etwa zwei Wochen. Und die Kosten von mehreren Millionen sind auf rund 10.000 Euro gesunken. Tendenz fallend. Die Gendiagnostik wird das revolutionieren. Denn statt mit dem Ausschlussverfahren einzelne Gene nacheinender zu untersuchen, ist es jetzt möglich, das gesamte Genom auf einmal zu analysieren.

"Dann reduziert sich, sagen wir mal, die Anzahl der Freiheitsgrade auf die Veränderungen, die man bei der Untersuchung des ganzen Genoms gefunden hat. Und man findet meinetwegen Defekte dann noch in fünf oder in zehn verschiedenen Genen und versucht das zu korrelieren mit dem klinischen Krankheitsbild. Dann hat man in einem Aufwasch praktisch all das gemacht, was man sonst durch eine Kaskadenuntersuchung im Laufe von vielen Jahren getan hat - zu einem Bruchteil der Kosten."

Noch allerdings ist diese neue Diagnostik vor allem in den Forschungslaboren zu Hause. Und auch die Neulings haben nur durch Zufall von ihr erfahren. Jahrelang hatten sie bis dahin vergeblich auf eine Diagnose gewartet. Dann lasen sie in der Zeitung von einem neuen Gentest, bei dem 500 verschiedene Erbkrankheiten festgestellt werden können, erzählt Maria Neuling:

"Und in diesem Zusammenhang fiel auch der Name von Professor Ropers, weil er an dem Test auch aktiv mitgewirkt hat. Und dann haben wir ihn einfach ganz frech angerufen in Berlin und dann haben wir das große Glück gehabt, dass er uns eingeladen hat zu sich und durch diese Gespräche kamen wir dann dazu, dass es für uns sinnvoll wäre, eine Komplettsequenzierung des gesamten Genoms auch der kompletten Familie durchzuführen."

Hans-Hilger Ropers vom Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik schreitet zur Tat: Im Rahmen seiner Forschung untersucht er das Erbgut von Ferdinand, dem gesunden Geschwisterkind und der Eltern. Die Analyse geht schnell - doch bis die Diagnose feststeht, vergeht fast ein Jahr. Der Grund: Ferdinands Behinderung ist zwar nur durch ein einzelnes Gen verursacht, also monogen, weltweit sind von ihr aber nur zwei Fälle beschrieben. Die Eltern fühlen sich dennoch wie von einer Last befreit:

"Also Ferdinand hat einen Fehler in einem bestimmten Gen. Das nennt sich ASXL3-Gen. Und das macht eben eine sehr schwere geistige wie auch körperliche Erkrankung. Und das war eine große Erleichterung für uns zu wissen, welche Krankheit Ferdinand tatsächlich hat und endlich eine Diagnose zu haben, auch wenn sie nicht schön ist. Doch zumindest Gewissheit zu haben, dass es sich nicht um eine Krankheit handelt, wo man Ferdinand helfen kann. Das man als Eltern in dieser Hinsicht zumindest Gewissheit hat."

Und noch etwas steht fest: Die Genveränderung ist nicht vererbt worden, sondern durch eine spontane Mutation entstanden. Die komplette Sequenzierung des Genoms hat den Neulings damit endlich Klarheit gebracht.

Klarheit könnte die Technik auch anderen Familien bringen - indem sie die Ursachen genetisch bedingter Krankheiten schnell aufklärt. Denn für viele Familien ist die Ungewissheit eine schwere Belastung, sagt Professorin Evelin Schröck von der TU Dresden:

"Das Wissen, ob eine genetische Erkrankung, welche Ursache die hat, und welche Genveränderung dafür verantwortlich ist, das ist ein ganz wichtiges Wissen für die Familien und für die Patienten, weil in aller Regel zu allererst die Schuldfrage gestellt wird. Wer ist denn Schuld, dass in unserer Familie eine genetische Erkrankung aufgetreten ist. Und da haben wir viel Mühe, dass zu erklären, dass da eigentlich niemand in dem Sinne Schuld ist. Und wenn man ein Gen benennen kann und die Mutation aufzeigen kann, dann ist die Schuldfrage wirklich ad acta gelegt."

Rund 7000 genetische Erkrankungen sind mittlerweile bekannt. Dabei kann es sich sowohl um monogene als auch um polygene Erkrankungen handeln. Alles extrem seltene Krankheitsbilder - die insgesamt aber bei rund vier Prozent der Neugeborenen auftreten. Neben verschiedenen Formen der geistigen Behinderungen zählen dazu etwa auch angeborene Herzrhythmusstörungen oder Herzmuskelerkrankungen. Auch bei letzteren wird die Diagnostik dank der neuen Sequenzierungsmethoden wesentlich einfacher, sagt Professor Eric Schule Bahr vom Uniklinikum Münster:

"Für viele dieser Herzerkrankungen gilt, dass in aller Regel zehn bis 20 Krankheitsgene dafür verantwortlich sind. Und der normale Weg einer genetischen Diagnostik ist der einer Stufenanalyse. Das heißt, man fängt beim häufigsten Gen an und geht dann zum weniger häufigen Gen und den ganz seltenen Krankheitsgenen hin. Die neuen Sequenzierungstechnologien machen eine parallele Analyse von 20 Genen gleichzeitig und verkürzen damit erheblich die Analysezeit bis zu einem genetischen Befund."

Bei vielen genetischen Erkrankungen ist eine Therapie bisher nicht möglich, allein die Diagnose bringt Erleichterung. Manche Erkrankungen lassen sich in ihrem Verlauf jedoch beeinflussen. So wie einige Formen der genetisch bedingten Herzrhythmusstörungen, erläutert Eric Schulze-Bahr:

"Das Interessante ist, das einzelne genetische Untertypen in Verbindung stehen mit bestimmten äußeren Triggersituationen, die diese Herzrhythmusstörungen provozieren. Das heißt, die Kenntnis eines bestimmten genetischen Defektes führt zu einer gezielten Beratung der Lebensumstände nämlich in der Art und Weise, dass man versucht, gefährliche, triggernde Momente, zum Beispiel Stress oder Sport, zu vermeiden."

Neben einigen polygenen Erkrankungen lassen sich heute auch bereits 500 monogene Erkrankungen in ihrem Verlauf beeinflussen. Das Wissen um genetische Erkrankungen nimmt also ständig zu - und die einst mühsame Sequenzierung ist um ein Vielfaches einfacher geworden, sagt Evelin Schröck von der TU Dresden:

"Also die Genetik ist aus keinem Fachgebiet wegzudenken und wir werden eine Ausweitung erfahren. Wir müssen in der Gesellschaft drüber diskutieren, wie viel Genetik und genetische Diagnostik jeder Patient haben möchte und wo die Gelder für die Finanzierung letztlich herkommen."

Bisher werden die neuen Sequenzierungsmethoden vor allem in der Forschung genutzt. Doch die technische Entwicklung könnte den Einzug in die breite Praxis forcieren. Denn noch schnellere Apparate für die Erbgutanalyse, die noch weniger Kosten verursachen, kündigen sich bereits an. Die Krankenkassen könnten so langfristig ihre Kosten senken. Und auch Familien wie die Neulings können davon profitieren - denn ihnen erspart eine rasche Untersuchung jahrelange Ungewissheit.


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