Blick hinter Mauern und Schleier

Von Katja Bigalke · 08.08.2006
Ursprünglich illustrierte Marjane Satrapi Kinderbücher. Doch Freunde überredeten sie aus ihren Jugenderfahrungen in Teheran einen Comic zu machen. "Persepolis" wurde erst in Frankreich und dann weltweit mit mehr als einer Million verkaufter Bücher zum Bestseller. Die Autorin arbeitet jetzt an einer Trickfilmversion.
Ein kleines Hinterhof-Atelier in der Nähe der Bastille: Zeichenpult, Lineale, unzählige Filz- und Bleistifte. Marjane Satrapi kommt fast jeden Tag hierher, um an ihren Bildgeschichten zu arbeiten. Die 35-jährige Iranerin ist eine eindrucksvolle Erscheinung: Dichtes schwarzes Haar, roter Lippenstift, energischer Auftritt.

Es gibt aber noch eine andere Marjane, auf Papier. Sie ist schmal, hat große dunkle Knopfaugen und meist das letzte Wort. Marjane, die Comic-Heldin.

"Das Mädchen kenne ich sehr gut. Deswegen glauben die Leute die Geschichte auch. Es ist eben keine erfundene Person. Ich habe meine Geschichte erzählt: Es ist Marjane Satrapi, die das erlebt hat und Marjane Satrapi, die das denkt."

Teheran 1981, die Mullahs beherrschen das Land und führen Krieg gegen den Irak.

"In der Schule mussten wir uns zweimal am Tag aufstellen und um die Opfer des Krieges weinen. Die Schulleitung spielte traurige Musik, und wir schlugen uns auf die Brust."

Lehrerin: "Los, Kinder auf das Herz!"

"Es war nicht so traumatisierend, wie es klingt. Sich selbst zu schlagen gehörte zu den Ritualen des Landes. Bald nahm niemand mehr diese Klageveranstaltungen ernst. Ich als erste: Ich ging nach vorn und machte den Clown. Märtyrer! Märtyrer! Erlöst mich!"

Lehrerin: "Satrapi, was tust du am Boden?"

"Leiden, was denn sonst?"

In Persepolis verarbeitet Satrapi eigene Erlebnisse. Ein Mädchen aus der Mittelschicht gerät mit ihrer Familie in das Chaos der islamischen Revolution. Für den Westen ist die Sache schnell klar: Der Iran und seine Bewohner befinden sich auf dem Weg ins Mittelalter. Doch Marjane Satrapi möchte aufräumen mit solchen Klischees.

"Vor 1979 war der Iran immer so das Land von 1001 Nacht, mit fliegenden Teppichen. Es gab einen König und eine Königin, einige Prinzessinnen. Und nach 1979 sind aus dem fliegenden Teppich dann Raketen geworden. Die Leute haben ein total falsches Bild vom Iran im Kopf. Die Medien haben immer nur gesehen, was auf der Straße stattfindet. Auf der Straße ist aber alles verboten. Man muss also hinter die Mauern schauen."

Hinter die Mauern und hinter die Schleier.

"Alle sprechen immer vom Tschador: Der Tschador ist so ein Stofftuch, was vom Kopf bis zu den Füssen alles bedeckt. Die meisten Frauen tragen aber einen Schleier und einen Mantel und gehen dabei sehr bewusst nach der Mode: In den 80ern gab es zum Beispiel diese weiten Batman- Ärmel oder so goldene Knöpfe wie bei Michael Jackson. Der westliche Beobachter sieht aber immer nur eine schwarze Masse. Nie das Subtile."

Mit viel Humor und Selbstironie erzählt Satrapi vom schizophrenen Alltag in Teheran. In "Sticheleien" geht es um die selbstbewussten Frauen in den Hinterzimmern. Beim Tee aus dem Samowar wird über männliche Geschlechtsorgane, Sex vor der Ehe und die künstliche Wiederherstellung der Jungfräulichkeit geplaudert. Die kleine Marji, Satrapis Alter ego, erlebt eine andere, tabulosere iranische Gesellschaft.

"Meine Oma war süchtig nach Opium. Ihr Arzt hatte es ihr empfohlen, um Schmerzen zu lindern. Das sagt sie zu mindest. Nach dem Aufstehen, wenn sie unter Entzug stand, war sie oft sehr schlecht gelaunt. Aber das hielt nie sehr lange an. Sie musste nur ein Stückchen Opiumsud in Ihrem Tee auflösen und ihr Humor und ihre natürlich Freundlichkeit kehrten zurück."

Oft hat Satrapi in Paris solche Anekdoten zum Besten gegeben. Und ihre Freunde waren jedes Mal erstaunt. Das gab es bei Euch? So kam sie auf die Idee, ihre Geschichten aufzuschreiben. Aber warum gerade als Comic?

"Alle fragen mich das immer, das würde man nie einen Schriftsteller fragen oder einen Regisseur. Aber immer die Comiczeichner, vor allem wenn sie ernsthafte Themen behandeln. Mir erlaubt es Abstand zu meiner Geschichte zu behalten und Dinge zu sagen ohne zynisch zu werden."

Satrapi gehört zu einer neuen Gruppe von Comic-Autoren. "Grafische Novellen" nennen Kritiker ihre symbolisch verdichteten Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Sie erzählen vom Privaten als Ort der Selbstbehauptung und des Widerstands.


1994 verlässt Satrapi das erste Mal Iran, beendet im europäischen Exil die Schule. Eine schwierige Zeit ohne Eltern und Freunde. Sie kehrt nach Teheran zurück, studiert Grafikdesign und heiratet, eher unglücklich. Vor fünf Jahren verließ sie Heimat und Familie ein zweites Mal. Ihr Ziel: Frankreich.

"Als ich nach Europa kam, dachte ich, dass die europäische Frau extrem frei sei. Das scheint mir aber nicht unbedingt so. Wir hatten zwar weniger Freiheiten, aber wir haben viel mehr dafür gekämpft. Was die Leute hier für ihre Freundin oder Ehemann machen, das habe ich bei einer iranischen Frau nie gesehen."

Marjane Satrapi sitzt vor einem Café im 11. Arrondissement. Sie trägt eine große dunkle Sonnenbrille im Haar, raucht ihre fünfte Zigarette und hat Heimweh. Die iranische Botschaft hat der ersten Comicautorin des Landes zu verstehen gegeben, dass sie und ihre Kunst nicht erwünscht seien. Dass in Teheran junge Menschen ihre Bücher illegal weitergeben, macht ihr Hoffnung:

"Ich glaube nicht, dass sie die Liberalisierung komplett rückgängig machen können. Immerhin sind 60 Prozent der Menschen im Land unter 30 Jahre alt. Das ist eine enorme Kraft. Vielleicht bin ich da zu optimistisch. Aber das ist immerhin mein Land. Ich bin in Teheran immer mit dem Blick auf die Berge mit dem ewigen Schnee aufgewacht. Berge über 5000 Meter hoch. Und allein, um die wieder zu sehen, muss ich schon an den Fortschritt glauben."