"Black Earth" von Timothy Snyder

Wie der Holocaust möglich wurde

Wagen im früheren Konzentrationslager Auschwitz
Ein Waggon im KZ Auschwitz: Timothy Snyder sucht nach den Bedingungen, die den Holocaust möglich machten. © dpa / picture alliance / Valeriy Melnikov
Von Wolfgang Schneider · 19.10.2015
Mit dem Ende aller Staatlichkeit beginnt das Morden: Nach dem großen Erfolg seiner Studie "Bloodlands" untersucht Historiker Timothy Snyder in seinem neuen Buch "Black Earth" den Holocaust und seine Bedingungen.
Über den Holocaust wurden ganze Bibliotheken geschrieben. Überwiegend sind es Werke der Erinnerung. Wenn der Yale-Historiker Timothy Snyder nun mit "Black Earth" ein weiteres Buch zum Thema vorlegt, geht es ihm um etwas anderes: gedankliche Durchdringung des Unfassbaren, so dass dessen Logik deutlich wird.
Zu Beginn skizziert er in aller Schärfe Hitlers Weltbild als Metaphysik des unerbittlichen Daseinskampfes: "Eden war kein Garten, sondern ein Schützengraben." Als Schlange in diesem Paradies firmiert "der Jude", der seine kränkelnden Botschaften einflüstert: Mitleid, Moral, Humanität.
Aufgabe der Politik war die Rückkehr in den Naturzustand des Schützengrabens. Ungeachtet seiner satanischen Philosophie war Hitler aber auch von der Angst vor dem Hunger der deutschen Bevölkerung nach immer mehr Wohlstand getrieben. Da das angestammte Territorium zu knapp bemessen war, um die Deutschen üppig zu ernähren (so Hitlers von der modernen Agrartechnik stark bedrohte These), musste Lebensraum erobert werden. Hitler übertrug die allgegenwärtigen Phantasmen der Kolonisierung auf die fruchtbare "schwarze Erde" der Ukraine.
Snyder hält die Vorstellung vom Dritten Reich als einem allmächtigen Staat, der seine Bürger bürokratisch katalogisierte, unterdrückte und auslöschte für so klischeehaft und irreführend wie die Festschreibung von Auschwitz als zentralem Symbol für den Holocaust. Die gezielte Zerstörung von staatlichen Strukturen und Bürokratie, beginnend mit der Auslöschung (nicht Besatzung) des polnischen Staates, sei viel wichtiger für die Durchführung des Holocaust gewesen.
Warum überlebten in Dänemark 99 Prozent der Juden, während in Estland 99 Prozent ermordet wurden?
Diese These kann Snyder eindrucksvoll belegen, indem er die Menschenvernichtung in allen besetzten, eroberten beziehungsweise zerstörten Staaten Europas vergleicht. Warum überlebten in Dänemark 99 Prozent der Juden, während in Estland 99 Prozent ermordet wurden? Unterschiede in der antisemitischen Einstellung der Bevölkerung spielten offenbar keine wesentliche Rolle. Entscheidend war vielmehr die doppelte "Zerschlagung der höheren Verwaltung und der politischen Elite", zunächst durch die Sowjets (den "Seniorpartnern" in Sachen Gewaltherrschaft), sodann durch die deutschen Eroberer. Sie war Voraussetzung des Mordens in den Todesszonen der osteuropäischen "Bloodlands" sowie der Versuchung zur doppelten Kollaboration, wobei vielfach durch Übereifer die frühere Willfährigkeit vergessen gemacht werden sollte. Das Ende der Staatsbürgerschaft: Für Snyder ist es der Anfang des Schreckens.
Nach dem großen Erfolg von "Bloodlands" ist der Autor in den Beraterstab von Präsident Obama aufgenommen worden. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass sich "Black Earth" auch gegen eine amerikanische Illusion richtet: Dass die Destabilisierung und Zerstörung missliebiger Staatsordnungen (wie im Irak oder Syrien) freiheitliche Ordnungen hervorbringe wie in Westdeutschland nach 1945. Die wirkliche Lehre aus Weltkrieg und Holocaust wäre die Einsicht gewesen, dass in der Schaffung staats- und rechtsloser Zonen die eigentliche Gefahr besteht. Welche Virulenz sie für die Zukunft besitzt, skizziert Snyder im letzten Kapitel, das über vage und geläufige Bedrohungsszenarien (Klimakriege etc.) allerdings nicht hinausgelangt.
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