Bisher unveröffentlichtes Fragment des Meister-Regisseurs

Rezensiert von Carolin Fischer · 24.02.2006
Luchino Visconti ist als Regisseur für seine Literaturverfilmungen wie "Tod in Venedig" oder "Der Leopard" bekannt und nun erscheint dreißig Jahre nach seinem Tod das als "Roman" angekündigte Fragment "Angelo". Visconti hatte die Veröffentlichung immer abgelehnt, doch nun gaben die Erben das Manuskript frei. Trotzdem ist das Fragment ein überzeugender Beweis dafür, dass Literatur für Visconti mehr war als nur die Grundlage seiner zahlreichen Regiearbeiten für Theater und Film.
Luchino Visconti, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum einhundertsten Mal jährt, ist nicht nur Cineasten als Regisseur bekannt. Mit seinen opulenten Literaturverfilmungen wie "Tod in Venedig" oder "Der Leopard" hat er Filmgeschichte geschrieben. Wenn nun aber mit "Angelo" ein Roman aus seiner Feder auf den deutschen Buchmarkt kommt, so sind wir doch überrascht, dreißig Jahre nach seinem Tod von dieser Seite seines Talents noch nichts gehört zu haben.

Wer Viscontis Biographie studiert hat, der konnte wissen, dass im Zweiten Weltkrieg eine Erzählung des überzeugten Kommunisten im Corriere padano erschien. Warum wir aber von "Angelo" bislang nichts wussten, hat triftige Gründe, die wir in der Vorbemerkung erfahren: Der Autor habe die Veröffentlichung immer abgelehnt, doch nun wollten die Erben, seine Lieblingsschwester Uberta und ihr Gatte, sich dem Drängen eines Literaturwissenschaftlers nicht länger widersetzen und gaben das Manuskript frei.

Ob es rechtens ist, sich über den ausdrücklichen Willen eines Verstorbenen hinwegzusetzen, sei dahingestellt. Sicher hat der SchirmerGraf Verlag, nachdem der Text ohnehin in der Welt ist, das Recht, ihn anlässlich des doppelten Jahrestages auf den deutschen Buchmarkt zu bringen. Allerdings ist es grober Etikettenschwindel, dass auf dem Cover "Roman" zu lesen ist, denn zwischen den Buchdeckeln finden wir lediglich den Anfang eines Romans, ein Fragment, und ein unfertiges noch dazu. Erbost möchte man fragen: was soll das?

Ja, was soll das? Als unbeschwertes Lesevergnügen ist dieses Bruchstück sicher nicht zu empfehlen, aber die Faszination, die es auf den Literaturhistoriker ausübt, lässt sich durchaus nachvollziehen. In den 30er Jahren, so erfahren wir aus dem umfangreichen Nachwort, sollen die rund hundert schmal bedruckten Seiten entstanden sein. Beschrieben wird, wie der 14-jährige Titelheld nach einer schweren Typhusinfektion aus dem Hospital in sein ärmliches Elternhaus zurückkehrt, wo sich die Verhältnisse keineswegs zum Bessern gewendet haben. Als er und mit ihm der Leser gerade zu verstehen beginnt, was sich abspielt, und die eigentliche Romanhandlung einsetzten könnte, bricht der Text ab.

Dennoch liefert Visconti die atmosphärische dichte Schilderung eines bedrückenden Lebensumfeldes, das seinem eigenen so gänzlich fern ist. Als Sohn eines Adligen und einer äußerst wohlhabenden Industriellentochter, wuchs er in Mailand, ihrer Villa am Comer See und dem väterlichen Schloss auf. Doch nicht dieser Kontrast macht das Buch für den Leser spannend. Vielmehr besteht sein Reiz darin, dass Visconti hier den Neorealismus vorweg nimmt, der als literarische Strömung aber auch für sein cineastisches Schaffen in den Folgejahren ausschlaggebend wurde.

Denn bereits durch seinen ersten Film, Ossessione, nach James M. Cains The Postman Always Rings Twice, wie einige Jahre später mit La terra trema prägte er diesen Stil entscheidend. Von daher ist dieses Fragment ein überzeugender Beweis, dass Literatur für Visconti mehr war als nur die Grundlage seiner zahlreichen Regiearbeiten für Theater und Film, und es zeigt, wie treffend, ja antizipierend er die künstlerischen Tendenzen seiner Zeit umzusetzen vermochte.

Luchino Visconti: Angelo
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
SchirmerGraf 2006
144 Seiten, 16,80 Euro