Biometrisches Indien

Digitale Vermessung aller Bürger für Aadhaar

Julia Jaroschewski  · 25.04.2018
Audio herunterladen
Zwölf Ziffern hat die Aadhaar-Karte, die jeder Inder inzwischen für Konto- oder Handyvertrag braucht. Zur Nummer gehören Fingerabdruck, Gesichtsfoto und Iris-Scan. Hinterlegt in der größten Biometrie-Datenbank der Welt mit 1,2 Milliarden Menschen. Nun beginnt die Verknüpfung.
Eine Bankfiliale im Süden Neu-Delhis. Hier will Sushma ein Bankkonto eröffnen. Sie ist 34, arbeitet als Hausangestellte, kann lesen und schreiben, aber mit den offiziellen Formularen kommt sie nicht zurecht – also fragt sie nach am Bank-Schalter:
"Ich brauche so eine Aadhaar-Karte, eine Pen-Karte und einen Mietvertrag, richtig? Ich schaffe das aber nicht alles allein auszufüllen. Ich weiß nur, wo ich meinen Namen eintragen soll. Und die Aadhaar-Dinge hier verstehe ich auch nicht wirklich."

Im Weltzeit-Podcast hören Sie auch ein Interview mit Constanze Kurz über die Pläne der EU-Kommission zur biometrischen Datenerfassung für Ausweise in der EU.

Aadhaar, das lernt Sushma, ist eine zwölfstellige Nummer, die jedem Inder individuell zugeordnet wird, sobald er irgendwelche Dienste in Anspruch nehmen will. Zu Aadhaar gehören auch biometrische Daten. Deshalb muss Sushma – wie inzwischen schon 1,2 Milliarden Inder – ihre Fingerabdrücke abgeben, die Iris scannen und Fotos des Gesichts machen lassen. Diese Daten sind jedem Menschen eindeutig zuzuordnen, angeblich fälschungssicher. Mittlerweile braucht Aadhaar jeder Inder, der ein Konto eröffnet, Sozialleistungen beantragt, seine Steuerabrechnung macht oder eine SIM-Karte für das Handy kauft.
Aadhaar ist die größte biometrische Datenbank der Welt und ein ambitioniertes Vorhaben, denn es soll die gesamte Verwaltung der 1,3 Milliarden Inder vereinfachen, gegen Korruption helfen und das riesige südasiatische Land insgesamt nach vorne katapultieren.

Vorteil von Aadhaar: Alles soll schneller gehen

Der Campus des Indian Institute of Technology in Neu-Delhi. Hier studiert Indiens nächste Generation der "Tech-Elite". Eine Gruppe Doktorandinnen hat sich zur Mittagspause auf dem schattigen Hof versammelt. Sie sehen in den technologischen Entwicklungen rund um Aadhaar vor allem Vorteile.
"Menschen müssen dann nicht mehr in Schlangen stehen, wir haben so viele Schlangen gerade. Wenn alles digital ist, werden die Dinge endlich leichter und zeitsparender."
"Wenn wir die ganze Papierarbeit reduzieren können, wird das viel Zeit sparen und wir werden schneller vorankommen. Es wird uns wirklich helfen."
Derei junge Inderinnen in Kalkutta schauen auf ihre Smartphones.
Drei junge Inderinnen.© dpa / EPA / Piyal Adhikary
Großstädter wie die Doktorandinnen sehen vor allem Verbesserungen im Alltag durch Aadhaar – mit der Nummer und den Biometrie-Daten können Ämtergänge und Bürokratie auch von zuhause im Internet erledigt werden. Der Regierung Indiens geht es dagegen um Größeres: Sie will Indien modernisieren, das "Digitale Indien" schaffen und gesellschaftliche Veränderungen vorantreiben. Vor allem in den rückständigen ländlichen Regionen, wo rund 70 Prozent der Bevölkerung lebt. Dort haben Wenige Zugang zu Technologie oder besitzen ausreichend Kenntnisse, um einen Computer zu bedienen. Etwa jeder fünfte Inder lebt unterhalb der Armutsgrenze.
"Indiens Probleme liegen größtenteils auf dem Dorf, denn der Großteil der Bevölkerung lebt in Dörfern auf dem Land, wo man digitale Informationen nicht so nutzt wie in der Stadt. Also versucht Modi Technologien auch aufs Land auszuweiten, was schwierig ist."
Für die hindu-nationalistische Regierungspartei BJP ist die Digitalisierung der Gesellschaft ein Prestigeprojekt. Ministerpräsident Narendra Modi kam 2014 auch mit Hilfe von Internetplattformen wie Facebook und Twitter an die Macht. Seitdem betont Modi die Relevanz von Technologie für das gesamte Land.
"Ganz langsam versucht auch der einfache Bürger sie zu benutzen, versucht sie zu erlernen, damit es dem ganzen Land hilft. Das ist eine große Anstrengung der Regierung – und es wird Zeit brauchen, bis es sich tatsächlich aufs ganze Land verbreitet hat."

Aadhaar begann 2009 freiwillig

Das Aadhaar-System hatte schon viel Zeit sich zu verbreiten. Es startete 2009 - unter Modis Vorgängerregierung. Damals noch freiwillig, mit dem Ziel die Lebensbedingungen für die Landbevölkerung zu verbessern.
Hier ist die Rate der Analphabeten hoch, nicht jeder spricht die Geschäftssprache Englisch und war auch deshalb bei Sozialleistungen auf Mittelsmänner angewiesen. Wer zum Beispiel eine Ration Reis vom Staat wollte, musste den Dorfältesten fragen oder jemand anderen der lesen und schreiben kann, um die Leistung zu beantragen. Doch diese Struktur wurde von Betrügern genutzt: Rationen wurden doppelt abgeholt, Leistungen auf Kosten der eigentlichen Empfänger abgegriffen. Die kleine Korruption war Alltag in Indien.
Aadhaar soll all dies verhindern: Mit den biometrischen Daten sollen die Bürger sich eindeutig ausweisen können, keine Leistung mehr an falsche Personen herausgegeben werden – dank eindeutig identifizierbarem Fingerabdruck und Iris-Scan. Ebenso können auch Analphabeten mit dem Fingerabdruck bezahlen, per Abdruck quasi unterschreiben – so dass auch jemand, der nicht lesen oder schreiben kann, ein Bankkonto eröffnen und sich Geld auszahlen lassen kann. So die Vision – von der auch Shaurya Doval schwärmt.
"In einem großen Land kann nicht jeder zur Bank gehen, aber die Bank kann zu dir kommen. Heute hat jeder Inder ein Bankkonto."
In einem unscheinbaren Wohnblock in der Nähe des Regierungsviertels in Neu-Delhi sitzt Doval im Büro. Er ist Direktor der India Foundation, einer konservativen Denkfabrik, die der Regierungspartei BJP nahe steht.
"Es gibt Bankkonten für Frauen, die jetzt selbst entscheiden können, was das Beste für ihre Kinder und Familien ist. Sie hätten das nicht tun können ohne ein digitales Konto, also haben wir sie vernetzt. Ohne die Macht der Technologie, wäre es für die Banken unmöglich gewesen, all dies zu leisten, denn in einem so großen Land mit so viel Landbevölkerung wäre Zugang zu Geld nicht durchzusetzen gewesen – aber im digitalen Indien können wir das nun."
Offizielle Zahlen unterstützten diese Erfolgsthese: Durch Aadhaar habe es in Indien umgerechnet knapp acht Milliarden Euro weniger Sozialbetrug gegeben seit der Einführung des Systems 2009, verkündete Aadhaar-Erfinder Nandan Nilekani Ende vergangenen Jahres.

Trotz Aadhaar ist Korruption weiterhin möglich

Doch ganz so einfach und fälschungssicher wie es Regierung und Macher darstellen wollen, ist das System nicht. Reetika Khera kritisiert, dass immer noch Betrugsmöglichkeiten existieren. Sie ist Entwicklungsökonomin im Indian Institute of Technology in Neu-Delhi und untersucht die Wirksamkeit von Aadhaar seit Jahren.
"Selbst wenn man biometrische Authentifizierung einsetzt, können Mittelsmänner immer noch betrügen. Der einzige Unterschied ist, dass man nicht mehr per Hand unterschreiben muss, dass man 200 Rupien erhalten hat, obwohl es eigentlich nur 100 waren. Sondern man bestätigt dasselbe mit einer biometrischen Identifizierung in einer Maschine."
Die Korruption wird also selbst mit moderner Technologie nicht gebannt – solange die Macht der Mittelsmänner nicht grundsätzlich eingeschränkt wird. Wissenschaftlerin Reetika Khera kritisiert auch, dass Aadhaar immer weiter greife und fast nichts mehr ohne eine solche Nummer machbar ist.
"Die Schrauben wurden in der letzten Zeit immer fester gezogen, es wird immer schwieriger ein Konto oder einen Handyvertrag zu bekommen, mittlerweile ist es eine Hürde geworden, solche Sachen zu beantragen."
Das Aadhaar-System schafft also auch neue Probleme, findet Khera:
"Jedes Mal wenn die Betroffenen in einen Laden gehen, um ihre Leistungen abzuholen, müssen sie ihre Aadhaar-Nummer und die Nummer der Sozialleistungen eingeben. Dafür muss dieses Gerät funktionieren, es muss Strom geben und eine Verbindung zum Netzwerk, der zentrale UIDAI-Server [Jeden Buchstaben auf Englisch aussprechen wie BBC] darf nicht aussetzen - und wenn dann alle vier Technologien funktionieren, dann müssen sie den Fingerabdruck geben. Dieser muss genau so aussehen, wie am Tag der Registrierung. Nur wenn all das geklappt hat, erhalten sie ihre Ration Getreide.
Entwicklungsökonomin Reetika Khera redet viel mit den Menschen auf dem Land, um zu erforschen, wie die digitale Verwaltung in der Praxis funktioniert. Weil vieles nicht klappt, machen die Landbewohner auch manchmal selbst Druck in der Stadt.

Proteste gegen Aadhaar auch von Rentnern

Sie sind aus unterschiedlichsten Regionen Indiens gekommen. Drei Tage dauert der Protest in der Hauptstadt. Hunderte wollen der Regierung selbst berichten, wie Vision und Realität bei Aadhaar auseinanderklaffen.
In Indiens Hauptstadt protestieren Anti-Aadhaar-Demonstranten aus ländlichen Regionen. Viele sitzen oder stehen nebeneinander und gucken auf die Bühne.
In Indiens Hauptstadt protestieren Anti-Aadhaar-Demonstranten aus ländlichen Regionen.© Julia Jaroschewski
In engen Reihen sitzen Frauen in bunten Saris auf dem Boden, manche stillen Kinder, andere schlafen, einige wenige tippen auf Handys herum. Dahinter stehen Männer – sie singen, sie klatschen, sie lauschen, wenn das Mikrofon an die Redner weitergeben wird. Auch alte Menschen haben die lange Reise nach Neu-Delhi auf sich genommen, denn sie sind besonders betroffen. In einigen Bundesstaaten wurde das Rentensystem mit Aadhaar verknüpft. Um Geld zu erhalten, müssen sich die Senioren biometrisch ausweisen – doch für viele ist das eine Unmöglichkeit.
"Ihre Dörfer sind nicht vernetzt. Also müssen alte Menschen, die kaum auf Toilette gehen können, neun Kilometer durch die Berge zu einer Station laufen, wo es ein Netz und Strom gibt, um ihre Rente abzuholen. Vielleicht 600 Rupien, und es kann trotzdem passieren, dass sie mit leeren Händen nach Hause gehen, weil das Gerät kaputt ist, der Server nicht läuft oder die Biometrie nicht funktioniert hat."
Die unzufriedenen Inder vom Land harren in der Hitze aus, auf hartem Asphalt. Zwischen ihnen sitzt Usha Ramanathan. Die grauen Haare zu einem langen Zopf geflochten, ergreift auch sie später das Mikrofon und wird über Aadhaar reden.
Usha Ramanathan ist Juristin und Aktivistin. Als die Kongressregierung vor zehn Jahren begann, über die Digitalisierung zu reden und über das Sammeln von Daten, kritisierte Ramanathan vor dem Parlament die Vorhaben. Seitdem versucht sie die Öffentlichkeit zu sensibilisieren:
"Es ist wie ein Experiment an der gesamten Bevölkerung - gerade die biometrischen Daten, von denen sie nicht wussten, ob das überhaupt funktionieren wird."
Juristin und Datenschutz-Aktivistin Usha Ramanathan spricht bei einer Demonstration.
Juristin und Datenschutz-Aktivistin Usha Ramanathan spricht bei einer Demonstration.© Julia Jaroschewski
Ramanathan sieht die Sorglosigkeit vieler Inder im Umgang mit ihren Daten – und hinterfragt, wie Staat und Wirtschaft die Daten nutzen. Das System, das als Modernisierungsschritt für die Bürger beworben wird, sieht sie vor allem als Geschäft. Statt wie früher an Mineralien verdienen Privatunternehmen heute am neuen Gold: den Daten.
"Wenn man sich anschaut, was die privaten Firmen davon haben: Für die Unternehmen ist das ein ganz neues Business. Wir werden alle zum Spielzeug dieser Firmen, die damit soviel Geld machen, wie sie wollen. Wer profitiert denn davon? Die Banken? Die Unternehmen? Der Mikrofinanz-Sektor? Alle machen doch mit, um von uns Informationen zu sammeln."
Tatsächlich sind sehr viele IT-Firmen im Aadhaar-Prozess an der Erfassung und Weiterverarbeitung der Daten beteiligt. Privatunternehmen stellen die digitale Infrastruktur zur Verfügung oder managen Teile des Prozesses. Aber welche Unternehmen genau beteiligt sind, wer welche Daten sammelt und welchen Wert sie haben, mache die Regierung nicht transparent, kritisiert die Juristin.
"Die meisten wissen überhaupt nicht, was das für eine Sache ist, die dort geschaffen wurde."

Aadhaar als Technologie zur Kontrolle der Massen?

Nach und nach werden nun per Aaadhaar immer mehr Daten miteinander verknüpft: Telefonnummern, Bankkonten, E-Mail-Adressen, Gesundheitsdaten. So entstehen detaillierte digitale Profile von jedem Inder – die das Tracking jedes Bürgers durch Unternehmen und den Staat ermöglichen. In Zukunft könnte das System als Kontrollinstrument missbraucht werden, eingesetzt werden, um erwünschtes Verhalten zu fördern.
Auch Richter Sajan Poovayya in Delhi hat deshalb Bedenken:
"Warum muss man das gesamte Land erfassen und diese Informationen zentral sammeln - weil man die Bevölkerung ernähren möchte?
Richter Sajan Poovayya in seinem Büro vor einer Bücherwand in weißem Hemd mit Hosenträgern.
Richter Sajan Poovayya in seinem Büro.© Julia Jaroschewski
Es geht nicht nur um Indien, zusammen ist das ein Siebtel der gesamten Weltbevölkerung. Die Biometrie eines jeden siebten Menschen auf der Erde liegt in den Händen dieser Regierung. Will man dieses Szenario? Die biometrischen Daten eines Siebtels der Bevölkerung, Iris-Scans, Informationen und Profile, Daten, ob sie zum Beispiel in eine Schwulenbar gehen oder nicht, ob sie trinken oder nicht - soll all das einer bestimmten Gruppe gehören?"
Technologie findet Richter Sajan Poovayya für den Fortschritt Indiens sinnvoll – aber er fürchtet, dass die digitalen Profile in den Händen der Regierung dazu führen könnten, dass gesellschaftliche Minderheiten, religiöse Gruppen oder Oppositionelle unter Druck gesetzt werden könnten. Unter der aktuellen BJP-Regierung wird etwa der nationale Stolz auf den Hinduismus gefördert.
"Was wenn die Regierung Informationen nutzt, die einer ganz speziellen Gruppe angehören? Und diese Daten missbraucht. Wenn sie zum Beispiel nur Informationen von Christen sammelt, Profile analysiert, wo sie sitzen, was sie machen. Oder von Hindus, Informationen einzelner Gruppen eben - das ist ein gefährlicher Trend. Wenn ich ein Instrument habe, um Massen zu kontrollieren, werde ich es nutzen. Technologie ist eine wichtige Waffe, um Massen zu kontrollieren."
Dass der Staat die Allmacht über Informationen hat, gefährde nicht nur die Privatsphäre, es gefährde das freie Denken und Handeln, kritisiert Richter Poovayya.
"Wenn die Regierung mit ihrer zentralisierten Macht und dem Potential der Technologie die Informationen der einzelnen Stellen zusammenfügt und dann Profile erstellt und mich elektronisch überwacht und mich wissen lässt, dass ich permanent beobachtet werde - dann nimmt es mir die Freiheit zu denken. Meine Freiheit mich mit anderen zu treffen, meine Bewegungsfreiheit und die Freiheit mich bestimmten Gruppen anzuschließen."
Problematisch ist auch, dass das System offensichtlich nicht gegen Angreifer gefeit ist. Mehrere Hacker-Angriffe haben zu Leaks von Tausenden Aadhaar-Nummern geführt, sodass die Regierung über bessere Sicherheitsmaßnahmen diskutiert.

Aadhaar auch für Kinder im Fußball-Verein

Während Juristen vor Gericht die Struktur von Aadhaar debattieren, ist das System für die Mehrheit der Inder bereits Alltag. Wie für Sushma: Die Hausangestellte in Neu-Delhi hat ihr eigenes Konto inzwischen eröffnet. Wie die meisten versteht sie nicht genau, wie das System funktioniert oder was mit ihren Daten passiert.
"Ich weiß nicht, warum wir all das brauchen. Sie sagen, wenn ich die Aadhaar-Karte habe, muss ich sie mit dem Konto verbinden. Dann bekommt die Regierung Informationen darüber, wieviel Geld ich habe und wieviel ich ausgebe."
Sushma ist unsicher, aber jetzt ist sie drin: ein Datensatz in der größten biometrischen Datenbank der Welt.
"Weil alle gesagt haben, in ein paar Jahren wird es sehr schwer werden ohne Aadhaar. Du wirst Aadhaar wirklich brauchen und man wird danach fragen, wenn du zum Beispiel verreisen möchtest. Was auch immer wir machen wollen, sie werden nach der Aadhaar-Karte fragen."
Gerade hat Sushma auch für ihren jüngsten Sohn eine Aadhaar-Nummer beantragt – er brauchte sie für die Anmeldung im Fußballverein.
Mehr zum Thema