Bio-Lifestyle

Trendige Saftschorle und glückliches Huhn

Der Schattenumriss eines Paare Arm in Arm vor dem Bio-Prüfsiegel der EU.
In den Staaten der sogenannten ersten Welt ist Bio im Trend, die Branche boomt, die Kunden werden bewusster. © imago / Ralph Peters
Von Elmar Krämer · 15.01.2019
Ob Äpfel, Eier oder Bionade - Bioprodukte sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Für junge Familien, Besserverdiener oder auch Hipster gehört Bio einfach dazu. Das bringt der Ökobranche Wachstum, aber auch Probleme.
Ein Bio-Supermarkt in einem dieser Bezirke der deutschen Hauptstadt, in denen man den Eindruck bekommen kann, dass an jeder Ecke ein Bioladen ist. Rund 37.000 konventionelle Lebensmittelgeschäfte gibt es in Deutschland – davon ist die Bio-Branche noch weit entfernt.
Der Alnatura Supernaturmarkt in der Chaussestraße in Berlin-Mitte ist einer von derzeit ca. 2500 Bioläden in Deutschland. Und auch wenn die Branche damit dem konventionellen Lebensmittelhandel noch keine starke Konkurrenz ist, ist die Tendenz steigend: basic, denns Biomarkt, LPG, Biocompany – in den Großstädten findet man in fast jedem Bezirk mindestens einen Biosupermarkt und einer ist größer als der andere.
Dennoch sind selbst die großen Biosupermärkte von ihrer Verkaufsfläche meist deutlich kleiner als viele sogenannte Vollsortimenter wie Edeka und Rewe, die über 20.000 Artikel in den Regalen haben, oder Discounter wie Aldi oder Lidl, die im Durchschnitt auf über 1000 Quadratmetern ihre Ware anbieten.
"Wir haben hier eine wunderschöne, knapp 700 Quadratmeter große Filiale", sagt Max Neumann, Filialleiter bei Alnatura. "Ganz klassisch aufgebaut, wie ein ganz normaler Supermarkt, den man konventionell auch kennt - nur eben bei uns alles in Bio-Qualität. Wir haben über 6000 Artikel im Angebot."

Der Trend geht Richtung Vollsortiment

Das hat nichts mehr mit den kleinen, inhabergeführten Bioläden zu tun, die einst mit ausgewählten Produkten befreundeter Bauern Exoten im Lebensmittelhandel der Städte waren.
Mehr noch: Der Trend in der Bio-Branche geht in Richtung Vollsortiment und Abwechslung. Unterschiedlichste Brote, das ganze Jahr über eine Vielfalt an Gemüse und Obst – auch exotisches –, Wein aus vielen Teilen der Welt, Fleisch und Käse an der Frischetheke, Fertiggerichte, Baby- und Kosmetikartikel. Es gibt fast nichts, was es im Bio-Supermarkt nicht gibt.
Ein Einkaufswagen ist gefüllt mit verschiedenen Bio-Produkten.
Viele Lebensmittel sind im Supermarkt als Bio-Produkte erhältlich© picture alliance / Marc Müller
"Bio wird immer mehr – zumindest in den Regalen", sagt Friedhelm von Mering, Politischer Referent beim Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft BÖLW in Berlin.
"Unser Ziel als Branche war nicht, wir haben irgendwie 20 Prozent Bio irgendwo in einer kleinen Ecke. Unser Ziel war immer: Alles soll Bio sein. Das bedeutet natürlich auch, dass auch exotische Produkte, die wir üblicherweise in Deutschland haben, wie die Ananas, dass die auch Bio sein soll, und wir haben gerade aktuell – oder seit zwei Jahren jetzt – eine intensivere Zusammenarbeit im entwicklungspolitischen Bereich, wo es genau darum geht, dass man die Vorteile, die eine Bio-Ananasproduktion für die Elfenbeinküste bringen kann, dass man das auch umsetzt und dass man das auch macht."
Die Akteure der Bio-Branche sind überzeugt, dass das Engagement für Biodiversität, also eine biologische Vielfalt, für Boden-, Wasser-, Luftschutz und vieles mehr nicht an Ländergrenzen haltmachen darf.

Für Hardliner muss es auch "Regional & Saisonal" sein

In den Staaten der sogenannten ersten Welt ist Bio im Trend, die Branche boomt, die Kunden werden bewusster. Sie sind oft bereit, mehr Geld für Bio-Lebensmittel auszugeben. Auf exotische Südfrüchte, Chiasamen und ähnliche als Superfoods vermarktete Produkte, die weite Wege hinter sich haben, bevor sie in den Regalen landen, will der Kunde hingegen meist nicht verzichten. Aber wenn schon, dann wenigstens nach ökologischen Standards angebaut.
"Wir können leider nicht immer das ganze Jahr auf Ware aus Deutschland zurückgreifen. Gerade beim Thema Zitrusfrüchte oder sonstiges müssen wir auf Spanien, Italien, Frankreich zurückgreifen."
Für Hardliner ist Bio erst dann richtig Bio, wenn die Produkte nicht nur den entsprechenden Richtlinien gemäß, sondern auch regional angebaut wurden. "Regional & Saisonal", das bedeutet auch, dass es bestimmte Produkte zu bestimmten Jahreszeiten nicht gibt. Was vor wenigen Jahrzehnten noch völlig normal war, wird heute zum Ausdruck einer Überzeugung.
Den dem Klischee entsprechenden, Birkenstock tragenden Überzeugungskunden gibt es immer noch, aber er fällt in der Masse der Kunden nicht mehr auf. Im Jahre 2017 wurden erstmals über 10 Milliarden Euro mit Biolebensmitteln erwirtschaftet, knapp drei Milliarden davon in Bioläden, der Rest in den Bio-Ecken konventioneller Drogerie- und Supermärkte. Bewusste Ernährung setzt sich immer mehr durch. Junge Familien, Besserverdiener, sogenannte Hipster – Bio gehört heute für viele Menschen nicht mehr nur auf den Tisch, sondern auch zum "Lifestyle". Doch auch im konventionellen Supermarkt sieht man immer öfter Kunden, die Inhaltsangaben der Packungen studieren – das nimmt auch die Politik zur Kenntnis.
Julia Klöckner (CDU), Bundesagrarministerin, stellt den Ernährungsreport 2019 "Deutschland, wie es isst" vor. 
Julia Klöckner (CDU), Bundesagrarministerin, stellt den Ernährungsreport 2019 "Deutschland, wie es isst" vor.© dpa/ picture alliance/ Britta Pedersen
"Die Verbraucher, verehrte Kollegen, sind anspruchsvoller und kritischer geworden. Sie setzen auf klare Herkunfts-Erkennbarkeit, auf Regionalität. Auch bei der Tierhaltung."
So Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, in ihrer ersten Regierungserklärung im März 2018.
"Ich will, dass es allen Tieren gut geht, dass Tierwohl sich lohnt: für den Verbraucher, für den Tierhalter und für das Tier. Das muss klar erkennbar sein. Deshalb will ich ein staatliches Tierwohllabel einführen. Bessere Standards müssen erkennbar sein. Das Label soll dem Verbraucher Orientierung geben, und er entscheidet, was ihm selbst Tierwohl wert ist. Fleisch und Wurst aus Tierhaltung mit hoher Lebensqualität der Tiere kostet auch mehr. Die Kosten dafür können aber nicht alleine die Bauern tragen."

Wer weiß schon, wie Legehennen gehalten werden?

Drastische Bilder und Skandale aus der Massentierhaltung, die oft die schwarzen Schafe der Branche zeigen, haben Einfluss auf den Verbraucher. Meist sind es Extrembeispiele, die den einen oder die andere zum Umdenken bringen. Lieber weniger und dafür hochwertig ist dann oft nicht nur in Bezug auf den Fleischkonsum die Devise.
Eine Muttersau steht in einem Stall eines Schweinezuchtbetriebes in Mecklenburg-Vorpommern.
Hinter Gittern: Eine Muttersau steht in einem Stall eines Schweinezuchtbetriebes in Mecklenburg-Vorpommern.© dpa/ picture alliance/ Jens Büttner
"Viele sehen einen Bio-Markt schon als etwas, wo man auch ausgefallene Sachen bekommt, die man sonst nicht bekommt", sagt Max Neumann von Alnatura. "Fragen dementsprechend auch nach, ist prinzipiell sehr beratungsintensiv. Ein gutes Thema sind zum Beispiel Eier, wo viele gar nicht wissen, wie Hühner oder Legehennen eigentlich gehalten werden. Das ist so eine klassische Frage."

Das Zweinutzungshuhn - dank Öko ist es wieder da

Die Bio-Landwirte erfinden die Welt nicht neu. Oft wird vielmehr auf alte Kulturtechniken zurückgegriffen oder im Bereich der Nutztierhaltung auf alte Rassen. So wird auch vergessen geglaubtes Wissen reaktiviert. Ein Verdienst der Biolandwirtschaft, sagt Michael Wimmer. Er ist der Geschäftsführer der Fördergemeinschaft ökologischer Landbau Berlin-Brandenburg und versucht auch, Landwirte in der Region zur Umstellung auf Bio zu motivieren.
"Man denke nur, das ganze Thema Züchtung, also Zweinutzungshuhn als Beispiel, ist einfach die letzten 50 Jahre völlig vergessen worden. Es ist jetzt eigentlich erst über den Ökolandbau wieder aufs Tablett gekommen."
In der traditionellen Hühnerhaltung war das Standard: Ein Huhn war ein Lieferant von Fleisch und Eiern. Das änderte sich mit der Industrialisierung und der Züchtung sogenannter Hybridhühner. Das sind spezialisierte Züchtungen, die als Schlachttiere sehr schnell wachsen oder als Legetiere viele Eier produzieren. Zweinutzungshühner hingegen legen deutlich weniger Eier, wachsen langsamer und wiegen weniger, das heißt, sie bringen weniger Ertrag. Doch sowohl ihre Eier als auch ihr Fleisch sind zum Verzehr hervorragend geeignet.

"Wir haben einen netten, mobilen Stall"

Hasenfelde, ein mit rund 300 Einwohnern kleines, landwirtschaftlich geprägtes Dorf in Brandenburg, rund 30 Kilometer von Frankfurt an der Oder entfernt. Hier findet sich der Naturlandhof Määhgut, der Bauernhof von Anne Reinsberg und Jörg Köhne. Mit ihren zwei Kindern leben und arbeiten die beiden in der Stille und Weite ihrer Gemeinde. Vorrangig ist Määhgut ein Hühnerhof, seinen Namen hat er aber nach dem zweiten Standbein, den Schafen. 2011 haben die engagierten Landwirte ihren Hof auf Biolandbau umgestellt.
Määhgut ist einer von fünf Bio-Höfen, die als "ei-care" auf eine französische Hühnerrasse setzen, die aufgrund ihrer blauen Füße "Les Bleus" genannt wird. Anne Reinsberg und Jörg Köhne haben rund 500 Hennen auf ihrem Hof.
"Wir haben einen netten, mobilen Stall, den man halt auch auf der Fläche weiterziehen kann, dass man den Hühnern immer frisches Futter anbieten kann, also Grünfutter anbieten kann. Das ist das eine und das andere: Wir arbeiten mit einer Rasse, wo es sich lohnt, die Hähnchen aufzuziehen, dass die eine einigermaßen gute Mastleistung haben und auch die Legehennen eine ansprechende Legeleistung haben. Das ist natürlich auch ein Vorteil von unserer Rasse, dass sie sich in der Zeit, wo sie legen, nicht so verausgaben und alles, was sie da an Kapazitäten haben, in die Eier stecken, sondern man hat auch nach dem Jahr, wo die Hühner gelegt haben, auch noch ein gutes Suppenhuhn."
Hühner picken am Mittwoch (04.04.2012) in Hasenfelde (Landkreis Oder Spree) auf der Wiese vor ihrem mobilen Hühnerstall.
Die französischen Hühner mit den blauen Beinen auf dem Biohof Määhgut.© picture alliance / ZB / Bernd Settnik
Es sieht idyllisch aus auf dem Määhguthof in Hasenfelde – Blick über weite Wiesen und Felder, Schafe auf der einen Wiese, die Hühner mit den blauen Beinen auf der anderen. Fast schon prototypisch für das, was der Städter in seiner idealisierten Vorstellung von einem Bauernhof vor dem geistigen Auge hat. Offensichtlich und gut vorstellbar, dass es den Hühnern hier besser geht als in einer konventionellen Halle unter Kunstlicht und mit automatisierter Fütterung.
"Biotiere werden im Prinzip gehalten mit Futter, was auch ökologisch erzeugt wurde, sodass der Kreislauf eigentlich schon weiter vorne anfängt und nicht erst beim Huhn, sondern dass auch die ganzen Futtermittel, die die Tiere kriegen, nach den Richtlinien des ökologischen Landbaus produziert wurden. Also sprich ohne synthetische Dünger, ohne Pflanzenschutzmittel oder synthetische Pflanzenschutzmittel. Das andere ist halt auch, dass in der Bio-Haltung, also in den Biobetrieben dürfen die Einheiten von den einzelnen Tiergruppen nicht so groß sein, wie sie es auch im Konventionellen sind."
In konventionellen Betrieben dürfen maximal 6000 Tiere pro Stalleinheit gehalten werden. In Bio-Betrieben sind es maximal 3000, wobei pro Tier 18 Zentimeter Sitzstange und vier Quadratmeter Auslauf zur Verfügung gestellt werden müssen. Die besseren Bedingungen für die Bio-Tiere schlagen sich allerdings im Preis wieder, auch bei den Eiern: Circa 26 Cent kostet ein Bio-Ei, das die niedrigsten Richtlinien erfüllt, im Discounter. Um die 40 bis 60 Cent im Bioladen. Ein konventionelles Ei kostet zwischen 13 und 16 Cent. Doch nicht nur die Skandale in der Eierbranche, sondern auch das Thema Kükenschreddern lassen Kunden immer öfter zum Bio-Ei greifen.
"Wir sind hier gerade im Eierraum, wo die Eier nach Gewicht sortiert werden und dann auch verpackt werden. Dann muss natürlich jedes Ei noch gestempelt werden, damit man weiß, aus welchem Betrieb bzw. aus welchem Stall sie dann in den Betrieb kommen, dass es für die Verbraucher nachvollziehbar ist. Da steht: 0, das bedeutet Bio-Ei, dann kommt DE, das heißt, dass es halt in Deutschland produziert wurde, und dann kommt die Betriebs- und die Stallnummer."

70 Prozent finden artgerechte Tierhaltung wichtig

Das Interesse der Verbraucher an einer transparenten Kennzeichnung, nicht nur im Bio-Bereich, ist gestiegen. Ebenso die Bereitschaft, für bessere Qualität mehr zu bezahlen. Plastisch wird dies in Umfragen für den Ernährungsreport 2018 des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft in Bezug auf den Fleischkonsum. 47 Prozent der Befragten gaben an, auf jeden Fall dazu bereit zu sein, mehr Geld für Fleisch zu bezahlen, wenn die Tiere besser gehalten würden, 43 Prozent stimmten "eher" zu. Nur zwei Prozent lehnen das strikt ab. Im Ernährungsreport 2019 geben 70 Prozent der Befragten an, dass es ihnen wichtig sei, dass Tiere artgerecht gehalten würden. Ebenso wichtig ist 68 Prozent der Befragten der schonende Umgang mit den natürlichen Ressourcen, und 64 Prozent legen Wert auf faire Löhne in der Landwirtschaft. Sind all das Zeichen eines gesellschaftlichen Wandels?
"Der Öko-Landbau ist momentan gerade in einer total spannenden Phase, weil wir gesamtgesellschaftlich schon seit Jahren dabei sind, wirklich Stück für Stück in der Mitte der Gesellschaft anzukommen", sagt Michael Wimmer von der Fördergemeinschaft ökologischer Landbau. "Wir haben auch einen lang anhaltenden Gap zwischen der Angebotsseite und der Nachfrageseite, sprich: Wir könnten deutlich mehr verkaufen, wenn wir es hätten."

Das 20-Prozent-Ziel rückt in greifbare Nähe

Der Anteil des ökologischen Landbaus an der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland ist in den letzten zehn Jahren kontinuierlich gestiegen von 2,1 Prozent im Jahr 1996 auf 7,5 Prozent im Jahr 2016. In der "Zukunftsstrategie Ökologischer Landbau" nennt die Bundesregierung als Ziel bis 2030 20 Prozent. Keine neue Zahl.
"Renate Künast hat das damals ausgerufen dieses Ziel von 20 Prozent Ökolandbau. Damals sollte es bis 2010 gehen, jetzt aktuell im Koalitionsvertrag steht bis 2030", sagt Friedhelm von Mering. "Wir hatten jahrelang ein bisschen das Problem, dass viele politisch verantwortliche Akteure gesagt haben: Ja, wir finden Öko gut, aber das mit den 20 Prozent, das ist eigentlich unrealistisch. Jetzt haben wir die letzten beiden Jahre, auch bedingt durch bessere Förderangebote für die Bauern, eine sehr positive Entwicklung bei der Umstellung gehabt. Wir haben wirklich zum Teil zweistellige Zuwachsraten in der Fläche gehabt und plötzlich rückt dieses 20-Prozent-Ziel in greifbare Nähe."
Friedhelm von Mering wie auch Michael Wimmer sehen als Hauptproblem den Bereich Bildung und Forschung und nicht an erster Stelle die Flächen und die Bereitschaft der Landwirte, auf Bio umzustellen.
"Die Bereitschaft bei den Landwirten haben wir", so von Mering. "Das zeigen auch alle Umfragen, dass ein zunehmender Teil der Landwirte sagt: Ich bin eigentlich bereit, mich auf diesen Weg zu machen, aber die Rahmenbedingungen müssen passen. Die Beratung haben wir nicht flächendeckend, die Ausbildung haben wir nicht."
Michael Wimmer meint: "Das ist etwas, was so ein Betrieb wirklich lernen muss. Das hat der konventionelle Landwirt die letzten Jahrzehnte wirklich verlernt damit umzugehen, das ist uralte Kulturtechnik. Die muss ein Biobauer erst lernen."

Viele Auflagen bei der Umstellung

Die Entscheidung, einen landwirtschaftlichen Betrieb auf ökologischen Landbau umzustellen, ist nicht nur eine wirtschaftliche. Die Experten sind sich einig: Eine Umstellung kann nur gelingen, wenn die Landwirte überzeugt von dem Vorhaben sind. Ohne den Willen, auch Durststrecken durchzustehen und routinierte Abläufe komplett zu überdenken und zu ändern, ist es unmöglich, sich von einem konventionellen Betrieb zu verabschieden. Der Landwirt muss sich intensiv mit der Thematik beschäftigen.
"Hinzu kommt, dass er gerade in der Umstellungsphase all diese Auflagen einhalten muss", sagt Michael Wimmer. "Also, er darf dann keinen Stickstoff mehr einsetzen, er darf vor allem keinen Pflanzenschutz mehr einsetzen. Er muss, wenn er Tierhaltung hat, muss er dann noch die Ställe umbauen, Auslauf bereitstellen etc. Das kostet alles Geld, und gleichzeitig muss er sich wirklich im Kopf geistig fundamental mit dieser neuen Form auseinandersetzen. Er hat einen deutlichen Mehraufwand, und gleichzeitig hat er aber in den zwei Jahren Umstellungsphase nur die Möglichkeit, die weniger Produkte, die er hat, dann aber noch zu einem konventionellen Preis abzusetzen. Das ist eine Hürde oder ein Graben. Da muss man dann schon wissen, was man tut, um zum Sprung anzusetzen."
Friedhelm von Mering ergänzt: "Bio ist nicht so sehr inputintensiv. Ich muss nicht so viele Dinge einkaufen als Hilfsstoffe. Aber Bio ist sehr wissensintensiv. Es gibt staatliche Zahlen, die sagen, 1,5 Prozent der Agrar-Forschungsmittel gehen zurzeit in Öko-Fragestellungen, 1,5 Prozent, Bund und Länder zusammengefasst. Das ist ein Witz und so werden wir keine 20 Prozent Ökolandbau bis 2030 schaffen."

Auf Pellworm ist bereits jeder fünfte Betrieb öko

Pellworm, die drittgrößte Nordseeinsel und die wohl unbekannteste, denn Pellworm hat keinen Sandstrand. Für Party- und Strandtouristen ist die Insel uninteressant. Ein Deich umgibt das Eiland, das im Schnitt gut einen Meter unterhalb des Meeresspiegels liegt. Pellworm ist geprägt von der Landwirtschaft. Was auf Bundesebene bis 2030 erreicht werden soll, ist hier im Kleinen bereits Realität: 20 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche wird nach den Richtlinien des ökologischen Landbaus bewirtschaftet. Auch hier in der besonderen Abgeschiedenheit mitten in der Nordsee setzt bei vielen Betrieben ein Umdenken ein.
Ein Leuchtturm auf der Nordsee-Insel Pellworm, im Vordergrund ein Getreidefeld
Leuchtturm auf der Nordsee-Insel Pellworm.© Deutschlandradio / Elmar Krämer
Familie Thams bewirtschaftet seit Generationen einen Bauernhof auf der Insel. Ernst-August Thams ist ein leidenschaftlicher Landwirt, so wie Vater und Großvater zuvor: "Jetzt werden meine Bullen noch mal gefüttert, und dann ist Feierabend."
Die weiten Wiesen und Felder von Pellworm dienen Enten und Gänsen auf ihren Zugbewegungen als Zwischenstation. Für die Landwirtschaft ist das ein Problem - aber auch Anschub in Richtung Umstellung. Mitte 2017 hat sich Familie Thams nach Jahrzehnten konventionellen Landbaus dazu entschieden, ihren Hof auf Öko-Landbau umzustellen, aus mehreren Gründen:
"Mein Getreide wird permanent aufgefressen von den Enten und Gänsen. Ich habe kaum noch Verkaufsgetreide. Ich hab keine Frachtkosten mehr. Die Qualität ist besser, und der Markt ist auch inzwischen so, dass die Nachfrage größer wird nach Biofleisch. Und das versuche ich abzudecken."

"Ich möchte wissen, was die Tiere fressen"

Ein Sohn der Familie studiert Agrarwissenschaften und wird eines Tages den Betrieb übernehmen. Vater und Sohn sind auf einer Linie, was die Ausrichtung des Hofes betrifft. Für sie ist die Umstellung eine logische Folge aus den Gegebenheiten der Natur und dem Blick in die Zukunft. 104 Hektar bewirtschaftet die Familie. Rund 160 Rinder stehen auf den Weiden und im Stall. Wenn Thams auf seine Rinder blickt, ist für ihn klar, dass es der richtige Schritt ist, auf Bio umzustellen:
"Weil mich das langsam nicht mehr überzeugt hat, das andere. Auch mit dem Kraftfutter. Ich möchte gerne wissen, was die Tiere fressen. Das ist mir wichtig. Jetzt weiß ich genau, was sie fressen. Das sind so viele Sachen. Auch die Haltungsform: Ich habe jetzt einen Tret-Mist-Laufstall. Die haben Platz, die sind alle ruhig und zufrieden und dann ist der Bauer das auch."
Reporter Elmar Krämer interviewt Deichgraf Ernst August Thams.
Deichgraf Ernst August Thams wird von Feature-Autor Elmar Krämer interviewt.© Deutschlandradio
Den wirtschaftlichen Herausforderungen der Umstellung will Familie Thams mit einem eigenen Hofladen begegnen, und außerdem haben sie ja ein zweites Standbein: ein Gästehaus. So wird aus Urlaub auf dem Bauernhof bald Urlaub auf dem Bio-Bauernhof.
"Viele sehen einen Bio-Markt schon als etwas, wo man auch ausgefallene Sachen bekommt, die man sonst nicht bekommt."
Zum Beispiel auch trendige Getränke in kleinen Flaschen, die auch vom Etikett mit den angesagten Bierflaschen der Ausgehszene mithalten können. Fruchtsäfte und Schorlen erobern die Partywelt und verlieren zusehends ihr Image als Kindergetränke.

Streuobstwiesen - unsere kleinen Regenwälder

Eine große Streuobstwiese in Storkow, Landkreis Oder-Spree in Brandenburg im September. Schafe liegen gemütlich unter einem Baum. Ein Bussard kreist. Man fühlt sich wie in einem verwilderten Garten hinter Omas Haus.
Ein Garten mit vielen Apfelbäumen. Knorrige, teils sehr alte Bäume, die unterschiedlichste alte Apfelsorten tragen. Sorten mit so illustren Namen wie "Minister von Hammerstein", "Geheimrat von Breuhan", "Geflammter Kardinal" oder "Roter Stettiner". Es ist ein sonniger Herbsttag – ideal zur Apfelernte.
Eine Streuobstwiese unterscheidet sich auch durch die Art der Bewirtschaftung von einer konventionellen Apfelplantage. Die Bäume sind hier nicht in Reihen gepflanzt, können nicht maschinell abgeerntet werden, was die Ernte erschwert. Hier muss buchstäblich Hand angelegt werden.
Die Wiese in Brandenburg hat etwas Verwunschenes. Sie wirkt wie ein Reich, in dem die Natur das Sagen hat. Und das ist sie, sagt Bernd Schock. Er steht mit leuchtenden Augen auf der Streuobstwiese. Schock ist Gründer des Vereins "Äpfel & Konsorten", mit dem er Bildungsprojekte für Kinder und Jugendliche anbietet. Er und seine Mitstreiter wollen Kindern zeigen, was es heißt, einen Apfelbaum zu pflanzen und zu pflegen und dann aus Äpfeln Saft zu machen. Genau das macht Schock mit seiner Firma "Ostmost". Auf die Idee, sich um die Streuobstwiesen im Osten Deutschlands zu kümmern, kam er, nachdem er beruflich in Afrika zu tun hatte:
"Da hab ich zum ersten Mal in meinem Leben gesehen, was es heißt, wenn man vier Stunden lang im Auto fährt und der Regenwald frisch abgeholzt ist. Und auf dieser Strecke, wo wahnsinnig viele Tiere total lost umherirren, habe ich für mich den Rückschluss gezogen oder mir gesagt, ich will da was tun, ich muss da was tun, ich muss da was ändern. Und bin quasi auf einer Reise durch meine Heimat an einer frisch abgeholzten Streuobstwiese vorbeigefahren. Das ist mir so ins Auge gesprungen, dass ich mich dafür interessiert habe und dann halt festgestellt habe, okay, 80 Prozent abgeholzt. Klingt ja schon mal so wie beim Regenwald. Arten und Sorten sterben aus, Biodiversität verschwindet und so, klingt ja auch wie beim Regenwald. Und so ist halt diese Idee geboren, da auch zu sagen: Streuobstwiesen sind unsere kleinen Regenwälder."
Blick auf eine Streuobstwiese in Brandenburg. Dazu blauer Himmel und einige Wolken
Von Streuobstwiesen wie dieser gewinnt Ostmost die Äpfel für seine Saft-Produkte.© Deutschlandradio / Elmar Krämer
Streuobstwiesen erhalten, pflegen und nachhaltig bewirtschaften. Was anfangs wie eine fixe Idee klang, wurde bald schon zu einem funktionierenden Unternehmen. Seit fünf Jahren ist Ostmost auf dem Berliner Markt. In den angesagten Bezirken wie Neukölln oder Friedrichshain gibt es mittlerweile die Streuobstschorlen von Ostmost in diversen Clubs und Bars. Von der Streuobstwiese in die Party-Welt der Hauptstadt – Bernd Schock hatte genau recherchiert:
"Und hab mir die ganze Szenen-Gastronomie angeguckt, die ganzen Zielgruppen und hab mich schnell dazu entschieden, quasi ein Getränk zu entwickeln mit 0,33 für die Gastronomie, für die Spätis, für die Festivals, für die ganzen nachhaltigen Leute, die halt in Berlin Premiumqualität von der Streuobstwiese trinken wollen."
So kam es zu den kleinen Flaschen mit künstlerisch gestalteten Etiketten, gefüllt mit Saft, Saftschorle und Cidre, die alle die gleiche Basis haben: Äpfel von Bio-zertifizierten Streuobstwiesen. Doch eine Idee allein reicht natürlich nicht, um zu einem wirtschaftlichen Unternehmen zu werden.
"Marketing ist schon sehr wichtig, gerade in dem sehr umkämpften Feld der Getränke", sagt Lukas Küttner, der sich bei Ostmost um das Marketing kümmert und auch versucht, die Idee hinter dem Produkt unters Volk zu bringen:
"Getränke in Berlin ist ein unglaublich volatiler Markt. Jedes Jahr kommen unzählige neue Produkte, Marken, Variationen, neue Kreationen auf den Markt, die alle um die Gunst der Konsumentinnen und der Gastronomie und der Einzelhändler kämpfen. Da muss man natürlich irgendwie herausstechen."

"Schmeckt superlecker"

Das scheint geklappt zu haben. Vielleicht auch deshalb, weil durch die Verbindung mit dem Verein, mit den Angeboten für Kinder und Jugendliche und die deutlich zu Tage tretende Leidenschaft – kombiniert mit einem auffälligem Design – authentisch erscheinendes Marketing möglich ist. Der Trend jedenfalls ist deutlich.
"Am Anfang habe ich die ersten hundert Flaschen noch selber mit dem Fahrrad ausgefahren. Das war alles überschaubar", sagt Bernd Schock. "Jetzt ist es aber so, dass wir einfach wachsen und bekannter werden. Am Anfang hab ich mir gedacht: Wenn das so weitergeht, dann bin ich da ein Einzelkämpfer, wie bisher in meinem ganzen Leben. Aber letztens nimmt's gerade echt so eine Welle auf, wo immer mehr Leute sagen: Hey, wow, schmeckt superlecker, supergeiles Konzept. Finden wir total gut, weitermachen! Wie können wir unterstützen? Ah ja, Baumpatenschaften im Verein – und das wird immer mehr."
Immer auf der Suche nach neuen Produkten für ihr Sortiment, haben auch drei der großen Bio-Supermärkte in Berlin, Alnatura, LPG und die Biocompany, die Getränke von Ostmost für sich entdeckt. Vielleicht so etwas wie der Ritterschlag für die Wirtschaftlichkeit in der Bio-Szene der Hauptstadt, auf jeden Fall aber ein Zeichen dafür, dass auch mit Idealismus und Engagement für Biodiversität Geld zu verdienen ist. Rund 750.000 Flaschen bringt Ostmost mittlerweile pro Jahr auf den Markt. Die kleine Berliner Firma ist längst kein Ein-Mann-Unternehmen mehr und hat derzeit sechs Festangestellte. Dazu kommen noch freie Mitarbeiter, die bei Bedarf aushelfen. Lukas Küttner, der fürs Marketing der Firma Zuständige, freut sich natürlich darüber, dass auch er mittlerweile auf Nebenjobs verzichten kann. Dennoch sei das nicht sein Hauptantrieb, sagt er:
"Was uns ganz besonders macht, ist, dass wir ziemlich genau wissen, wo das Limit in unserer Produktion besteht. Es gibt einfach nur eine begrenzte Anzahl von Streuobstwiesen im Osten von Deutschland. Wenn die alle geerntet sind – und wir sind ja nicht die einzigen, die diese Äpfel haben wollen – da wissen wir ziemlich genau, dass wir bei knapp vier Millionen Füllungen im Jahr ungefähr an der Grenze sind. Also dieser zentrale Punkt, dass wir nicht rein wachstumsgetrieben sind, ist für mich schon sehr besonders."
Bio scheint tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein und Öko nicht mehr Schimpfwort, sondern Statement und Lifestyle. Dennoch ist der Weg von der Idee bis zur Wirtschaftlichkeit für nachhaltige Unternehmen auch in der boomenden Bio-Branche immer noch ein weiter.

"Die Nachfrage steigt, steigt, steigt"

Berlin im November. In der Station Berlin, einem herausgeputzten ehemaligen Postbahnhof trifft sich die szeneaffine Bio-Branche zum Stelldichein - bei Club-Musik, Gesprächsrunden und Vorträgen. Für junge Unternehmen und Start-ups bietet sich an fünf Wochenenden über das Jahr verteilt in Hamburg, Nürnberg, Stuttgart, München und eben Berlin die Möglichkeit, beim sogenannten "Heldenmarkt" ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu treten.
"Der erste fand 2010 statt, da waren so 60 Aussteller am Start, das war dann schon so ein bisschen Hippie-mäßig", erinnert sich Annika Brümmer vom Heldenmarkt. "Mittlerweile haben wir in Berlin 200 Aussteller am Start und haben ein richtig fettes Rahmenprogramm. Es ist so ein bisschen 'the place to be' in der Nachhaltigkeitsszene. Die Nachfrage steigt, steigt, steigt. Überall poppen Bioläden auf – klar, das ist die Zukunft. Auf jeden Fall!"
Verschiedene Stände mit Bio-Produkten auf dem "Heldenmarkt" in einem alten Bahnhof in Berlin-Kreuzberg.
"The place to be" - der "Heldenmarkt" in Berlin-Kreuzberg.© Deutschlandradio / Elmar Krämer
Lebensmittel, Kleidung, Kosmetik, Hausbau, Geldanlage – Besucher des Heldenmarktes sind nicht die, die zu Bio überzeugt werden müssen. Statistiken zeigen, dass die Gruppe der 18-45-Jährigen am ehesten bereit ist, mehr Geld für Bio auszugeben. Dennoch: Der große gesellschaftliche Wandel wird wohl noch etwas dauern – aber er wird kommen, davon ist die Branche überzeugt.
"Im Moment ist unsere Preisbildung so gestaltet, dass ich auf Kosten von allgemeinen Gütern wie Umwelt, Wasser, Luft wirtschaften kann, ohne dass ich dafür Geld zahlen muss", so Friedhelm von Mering vom Bund ökologische Lebensmittelwirtschaft. "Und ich sage immer: Wenn ich in einen Laden gehe und nicht Bio kaufe, dann müsste ich eigentlich zu mehreren Kassen gehen. Dann habe ich meine normale Kasse, wo ich meine Butter und mein Obst bezahle und denke: 'Oh, das war aber schön günstig.' Und eigentlich müsste dahinter noch eine Kasse kommen und sagen: 'So, bitteschön, Ihr Beitrag für den Trinkwasserschutz. Ihr Beitrag für die Ausgaben, die wir haben zum Naturschutz.' Das kostet ja auch was, Naturschutzgebiete aufrechtzuerhalten. Eigentlich müsste das alles in den Produktpreisen drin sein. Und dann würde sich das ganz schnell verschieben. Und dann würde nach unseren Schätzungen wahrscheinlich das Bio-Produkt das günstigere sein."
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