Bildungspaket "geht an der Lebenswirklichkeit doch sehr vorbei"

Anne Lenze im Gespräch mit Frank Meyer · 28.03.2012
Dass nur 30 Prozent der berechtigten Kinder von den Angeboten profitierten, läge am lebensfernen Konzept des Bildungs- und Teilhabepakets der Bundesregierung, kritisiert die Sozialrechtlerin Anne Lenze. Besonders Bedürfnisse von älteren Kindern und Jugendlichen könnten durch Gutscheine nicht abgedeckt werden, sagt sie.
Frank Meyer: Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung, das schafft mehr Probleme, als es löst, so heißt es in vielen Berichten darüber. Dabei sollte doch dieses Paket die Leistung direkt zum Kind bringen, so wollte es die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen.

Ein Jahr ist dieses Paket jetzt in Kraft und die Sozialrechtlerin Anna Lenze hat sich mit den bundesweiten Auswirkungen dieses Paketes befasst. Sie ist Professorin an der Hochschule für Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit in Darmstadt (Anmerkung: Das ist nicht der Name der Hochschule, sondern ein Fachgebiet an der Hochschule Darmstadt.). Frau Lenze, seien Sie uns willkommen!

Anne Lenze: Ja, guten Tag, Herr Meyer!

Meyer: Es war ja die Klage am Anfang, die Klage bis heute, im Beitrag war es auch wieder ein wichtiges Thema: Diese Förderleistungen sind nur mit großem bürokratischem Aufwand zu kriegen. Ist das das Kernproblem dieses Paketes?

Lenze: Das ist auch ein Problem. Ein anderes Problem ist, dass sozusagen das Paket von einem Marktkonzept ausgeht: Man hat also gedacht, wenn man den Kindern jetzt Gutscheine in die Hand drückt oder diese Gutscheine an die Kinder bringt, dann würden die nun losgehen und sich im Sportverein engagieren oder Musik erlernen. Das ist aber sozusagen, geht an der Lebenswirklichkeit doch sehr vorbei, weil Kinder natürlich in den Familien gefördert werden oder auf bestimmte Angebote gestoßen werden. Und wenn jetzt ein Kind einen Gutschein hat, wird jetzt auch kein türkisches Kind sich zum Beispiel im Schwimmverein anmelden, oder der Junge, der sonst immer am PC sitzt, wird jetzt nicht anfangen, plötzlich im Fußballverein zu spielen. Also, da braucht es doch noch mehr, um Kinder auch an die Angebote hinzukriegen.

Meyer: Und was wäre jetzt das andere Modell statt dieses Marktmodells? Wie würde das besser funktionieren?

Lenze: Ja, also, das Bundesverfassungsgericht hat ja im Februar 2010 eigentlich gesagt, dass hier Geld an die Familien soll, also, es war davon ausgegangen, dass dieser zusätzliche Bedarf von Kindern eben über Geld gedeckt wird. Das wollte die Politik nicht. Und wenn man jetzt noch was ändern will, müsste man dafür sorgen, dass Menschen, die mit diesen Kindern sowieso zu tun haben – also natürlich zuvorderst die Eltern, aber wenn das nicht geht, dann vielleicht Lehrerinnen oder Sozialarbeiter in der Jugendsozialarbeit –, diese Personen müssten also Kinder motivieren, bestimmte Angebote wahrzunehmen.

Meyer: Es ist ja auch immer gesagt worden, dieses Paket soll Kindern aus sozial schwachen Familien die Möglichkeit schaffen, Nachhilfe zum Beispiel zu bekommen in der Schule, Sport zu treiben, ein Instrument zu lernen. Wir haben gerade in dem Beitrag gehört: Genau diese Bildungsmöglichkeiten werden nicht genutzt in Ostthüringen. Ist das bundesweit eigentlich so, dass gerade dieser Bildungsbereich dann am schwächsten nachgefragt wird?

Lenze: Ja, das ist genau so, wie es auch für Thüringen beschrieben worden ist. Also, die Nachhilfe, die ja von vornherein, das muss man ja auch sagen, im Gesetz schon sehr, sehr streng formuliert ist, also nur, wenn die Versetzung gefährdet ist, wird Nachhilfe gewährt, sobald die Note vier erreicht wird, wird sie wieder eingestellt.

Also, wenn Kinder oder Familien sozusagen sich qualifizieren möchten für eine bessere Schulart, dann wird dafür auch kein Geld ausgegeben für Nachhilfe. Also, von vornherein hat man wohl, anscheinend hatte man wohl erwartet, dass da eine Antragsflut auf die Jobcenter zukommen würde, das war natürlich auch fern jeglicher Lebenserfahrung. Also, hier müsste man sehr viel großzügiger Anträge, wenn sie denn überhaupt kommen, Anträge auf Lernförderung, müsste man sehr viel großzügiger hier genehmigen.

Meyer: Wie wird das Paket überhaupt genutzt bundesweit, wie ist da die Quote?

Lenze: Also, wir haben, von den Städten und Landkreisen, wissen wir, dass an die 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen hier davon profitieren. Zwischenzeitlich wurden es auch 50 Prozent. Das hat aber nicht damit zu tun, dass nun mehr Leistungen an die Kinder geraten sind, sondern dass vorher Landesprogramme, zum Beispiel was das Schulessen anging oder die Beförderung, die Kosten für die Schulfahrkarten, dass die jetzt nicht mehr über die Länder finanziert werden, sondern jetzt über das Bildungs- und Teilhabepaket. Also, hier scheint es jetzt mittlerweile eine Antragshäufigkeit von circa 50 Prozent zu geben. Aber das, was Sie gerade gesagt haben, das hat sich nicht verbessert, also, die soziale und kulturelle Teilhabe und die Lernförderung wird nach wie vor sehr, sehr schwach nachgefragt.

Meyer: Also, um das zu übersetzen: Nicht einmal die Hälfte oder knapp die Hälfte der Kinder, die eigentlich diese Förderung in Anspruch nehmen könnten, tun das auch tatsächlich, oder ihre Familien tun das. Eine schwache Quote bundesweit. Es scheint aber in einigen Regionen besser zu funktionieren: Im sächsischen Chemnitz zum Beispiel haben knapp 80 Prozent der Kinder aus sozial schwachen Familien Hilfen aus diesem Bildungspaket bekommen. Also zeigen solche Einzelbeispiele, dass es dann auch an der regionalen Umsetzung liegt?

Lenze: Ja. Dieses Paket wird natürlich regional in den Kommunen umgesetzt und da gibt es sehr, sehr unterschiedliche Modelle auch. Es gibt Kommunen, die – und das ist natürlich sehr, sehr positiv – das in den Schulen anbinden. In den Schulen sind ja alle Kinder, dort ist der Zugang auch diskriminierungsfrei. Also, wenn sie in den Sportverein gehen und dann dort ihren Gutschein vorlegen, müssen sie sich ja als Kind oder Jugendlicher eben zu erkennen geben als Hilfeempfänger, das ist auch nicht schön, gerade für ältere Kinder und Jugendliche.

Wenn Sie das aber in den Schulen anbinden und dort eben alle daran teilnehmen und nur für die Kinder, die aus Hilfe-Empfänger-Haushalten kommen, das eben dann durch Kostenübernahmeerklärung oder Gutschein geregelt wird, ist das natürlich ein ganz anderer Ansatz, als wenn Eltern zu bestimmten Stellen im Jobcenter gehen müssen, noch nicht mal zu ihrem persönlichen Ansprechpartner, sondern noch mal zu einer Zusatzstelle, um dort etwas für ihre Kinder zu beantragen. Das ist natürlich eine ganz andere Herangehensweise.

Und es gibt auch einzelne Kommunen, wo sich vorbildhaft Schule, Jugendhilfe und Jobcenter zusammensetzen und gucken, was gibt es denn vor Ort für Angebote und wie können wir die Kinder dazu motivieren, sie wahrzunehmen? Das ist also, wie gesagt, kommunal wird das sehr unterschiedlich umgesetzt.

Meyer: Dann wäre doch jetzt die logische Folge, aus den erfolgreichen Kommunen diese Modelle zu übertragen bundesweit. Ist das in Sicht?

Lenze: Ja, auf jeden Fall. Das wäre auf jeden Fall ... Und das sehe ich nicht, dass das in Sicht ist, aber das wäre natürlich die Forderung, die man aus diesen Erfahrungen ziehen müsste.

Meyer: Damit wir nicht nur über die Schattenseiten reden: Würden Sie denn sagen, wo sind die Erfolge dieses Bildungs- und Teilhabepaketes, gibt es da Erfolge?

Lenze: Ja, also, es gibt auf jeden Fall Verbesserungen, sagen wir mal so. Bis 2011 war es so, dass die Schülerfahrkarten für Kinder, die eine weiterführende Schule also ab dem 15., 16. Lebensjahr besucht haben, also nicht übernommen wurden. Das war praktisch eine Barriere. Wenn sie also einen weiten Weg zu einer weiterführenden Schule hatten, mussten sie das aus dem Regelsatz zahlen. Das ging praktisch ja auch nicht. Also, das ist auf jeden Fall eine Verbesserung. Und ich meine, dass es grundsätzlich auch möglich ist, Nachhilfe zu beantragen, ist auch eine Verbesserung, die wir vorher so nicht hatten.

Meyer: Im Grundsatz aber, Sie haben es vorhin beschrieben: Nur knapp die Hälfte der Kinder kommt in den Genuss dieser Verbesserungen. Und liegt das auch – das haben Sie auch vorhin schon mal angesprochen – an diesem grundsätzlichen Konzept: Wir geben den Familien kein Geld – Klammer auf: weil wir ihnen misstrauen, sie könnten das Geld für andere Sachen ausgeben, und nicht für die Kinder –, stattdessen kriegen sie diese Gutscheine, das ist aber mit einem komplizierten System verbunden. Also wäre das Prinzip Geld für die Familien aus Ihrer Sicht besser als dieses Gutscheinsystem?

Lenze: Ja, aus meiner Sicht auf jeden Fall. Sie müssen auch sehen: Dieses Gutscheinsystem und das, was damit auch gefördert werden kann, kommt den Bedürfnissen einiger Kinder nahe, also Kinder, die sich im Sportverein zum Beispiel engagieren wollen, das ist in Ordnung. Aber Sie haben ja gerade bei Jugendlichen, die wollen also sozusagen mit ihren Freunden in der Freizeit etwas unternehmen und das wird ja über das Bildungspaket überhaupt nicht abgedeckt. Also ein gemeinsamer Kinobesuch, ein gemeinsamer Besuch im Freizeitpark, im Schwimmbad, auch mit der Familie zum Beispiel, das können sie darüber nicht finanzieren. Sodass also ...

Ich finde, dass gerade die Bedürfnisse von älteren Kindern und Jugendlichen hier nicht abgedeckt werden. Für sie ist sogar der Regelbedarf, also das, was sie an Geld bekommen, sogar noch gekürzt worden, weil diese Positionen wieder rausgenommen wurden. Also, da hat sich ihr Aktionsradius wirklich eingeschränkt. Und auch Kinder, die zum Beispiel Sport treiben nicht im Verein, aber vielleicht mit ihrem Skateboard fahren oder mit ihren Inlinern, auch die haben sozusagen, können das nicht über dieses Paket abdecken. Und das, denke ich, ist nicht förderlich für diese Kinder.

Es ist also nur für einen ganz bestimmten Kreis wirklich interessant und viele fallen hier raus. Und wenn man wirklich Kinder Bildung und Teilhabe fördern will, müsste man hier sicherlich auch die Kinder mit mehr Geld ausstatten. Geld ist geprägte Freiheit, sagt Dostojewski, und das ist gerade für ältere Kinder auf jeden Fall richtig.

Meyer: Also, zum Teil gibt es sogar Verschlechterungen durch das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung, das jetzt seit einem Jahr in Kraft ist. Darüber haben wir gesprochen mit Anne Lenze, Professorin an der Hochschule für Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit in Darmstadt (s.o.). Frau Lenze, herzlichen Dank für das Gespräch!

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