Bildungschancen

Förderschule – und was kommt dann?

Die Schülerin Ümmi mit grünem Kopftuch und -schmuck bei der Abschlussfeier
Die Schülerin Ümmi - schick gemacht - bei der Abschlussfeier © Elin Rosteck
Von Elin Rosteck · 07.08.2016
Martin-Köllen-Förderschule in Köln: Für Nex und Ümmi geht die Schulzeit zuende. Reporterin Elin Rosteck begleitet sie und ihre Mitschüler in den letzten Schulwochen und in ihren Praktika. Ihr Abschluss ist auf dem Arbeitsmarkt kaum etwas wert. Das birgt Sorgen und Ängste.
Karaoke-Lied "An Tagen wie diesen" von den Toten Hosen:
"Ich wart seit Wochen auf diesen Tag. Und tanz vor Freude über den Asphalt. Als wär´s ein Rhythmus, als wär´s ein Lied, das ich immer weiter durch die Straßen zieht."
Die 10b hat gedichtet. Und jetzt übt sie ihr Lied für den Abschlusstag, d.h. die, die heute da sind, üben. Drei Wochen noch, dann gehen die Jungs und Mädchen von der Schule ab. Von der Martin-Köllen-Förderschule in Köln-Kalk.
Lehrerin: "Ich hör nichts! Kein Deutsch, kein Mathe, auch keine Pausen, um durchzudrehen, jetzt immer pünktlich, keine Verspätung, kein Eher-gehen. … An Tagen wie diesen, wünscht man sich man Unendlichkeit, an Tagen wie diesen haben wir noch ewig Zeit ... wünsch ich mir Unendlichkeit."
Die Lehrerin singt laut und tapfer vor, unterstützt von den Mädchen: von Romina, Ümmi, Vanessa. Allmählich aber stimmen selbst die Jungs ein. Dabei ist Singen doch nun echt peinlich, wenn man 16 ist und ein cooler Typ. Marcel und Nex tragen Baseballkappen mit dem Schirm nach hinten; und Budomir kann den Text, den er wie die anderen in der Hand hält, eigentlich nicht lesen. Ihnen allen dämmert es so langsam: Sie können bald nicht mehr hier in die Schule kommen. Sie müssen bald raus in die Welt.
Aber jetzt ist erstmal Pause.
Auf dem Schulhof ist nicht viel los, obwohl die Martin-Köllen-Förderschule immerhin 250 Kinder unterrichtet. Aber aufgeteilt auf zwei Standorte. So ist viel Platz auf dem Schulhof. Nex, Budomir und die anderen Mädchen und Jungs aus der 10 stehen in Grüppchen unter dem Baum, rund um die Bank, die auf dem großen Hof vor der Schule steht. Andere spielen Ball oder lungern am Zaun herum. Und Bianka Heider, die Lehrerin der 10b, hat Toiletten-Aufsicht. Sie schlendert hinter dem Schulgebäude auf und ab, mit einer Rolle Klopapier in der Hand.
Bianca Heider: "Ich fiebere den Ferien entgegen, eigentlich wie jedes Jahr, wie alle Kollegen, aber dieses Jahr war ich so viel krank wie noch nie, da ist das noch ein bisschen spezieller."
Sie spricht mit ihrer "Stressstimme", wie sie sie nennt. Ihre Klasse schlägt ihr auf den Magen. Die 10b ist besonders Kräfte zehrend, findet sie. Seit einigen Wochen rufen Kinder und Eltern noch öfter bei ihr an als sonst, zu jeder Tages- und Nachtzeit.
"So die Damen, wer hätte gerne?"

Regelschule oder Förderbedarf?

Die Toilette liegt etwas abseits, in einem Nebengebäude. Heider geht mit zum Aufschließen. Sie ist Mitte 40, klein mit drahtiger Figur, aber sie wirkt jetzt angezählt und zerbrechlich. Auffällig sind ihre Haare: winzige Locken, die ihr wild um den Kopf herum stehen. Die beiden Schülerinnen kichern und giggeln. Zwei ganz normale, fröhliche Mädchen scheinbar; vielleicht fünfte Klasse. Das eine hat sich Zöpfe geflochten.
Bianca Heider: "Dieses Mädchen habe ich getestet, da hat man natürlich auch noch mal 'ne andere Beziehung dazu, weil man die ja öfter besucht, auch zuhause besucht und mit den Eltern was macht ..."
Getestet heißt, herausfinden, ob ein Kind einen "sonderpädagogischen Förderbedarf hat", wie es auf Fachchinesisch heißt. Da ist das Kind vorher durch sein Benehmen oder durch Lernprobleme in der Schule oder dem Kindergarten aufgefallen. Frau Heider und ihre Kollegen prüfen und empfehlen, ob es in der Regelschule klar kommt, ob es dort Hilfen braucht, oder ob es vielleicht am besten in der Förderschule aufgehoben ist.
"Der Vorteil einer kleinen Schule ist natürlich, man kennt viele Schüler auch aus anderen Klassen. So. Man hat ein freundschaftliches, nettes, was auch immer für´n Verhältnis. Was in einer Schule mit tausend Leuten untergeht, was für die meisten Kinder auch sehr hilfreich ist, weil wenn man irgendwo Probleme und Defizite hat, ist es schön, man kommt irgendwo hin, wo man gesehen wird und wo man nicht irgendwie einer von tausend anderen ist."
"So, Ihr Lieben, nehmt Ihr den Ball mit nach vorne bitte und geht, es hat geklingelt ... Hoch jetzt alle!"
Ihre Klasse hat sich draußen vor der Eingangstür gesammelt. Heider ist jetzt seit drei Jahren ihre Klassenlehrerin und es hat eine ganze Weile gedauert, bis die Kinder das gelernt haben; aber sie geht immer gemeinsam mit ihnen nach oben.
"Natürlich! Man kann die nicht alleine gehen lassen! Wenn man nicht Klopperei im Treppenhaus will. Das muss man ein bisschen im Blick behalten."
In ihrer Klasse sind eigentlich 15 Kinder bzw. Jugendliche. Aber selten sind alle da. Schule schwänzen ist ein beliebter Sport. Weil auch die Eltern zum Teil keine Schulbildung haben; oder weil ihnen das nicht wichtig ist. Und wenn sich zuhause keiner kümmert, sagt Heider, dann sehen auch die Kinder keinen Sinn.
"Unser Thema war ja bisher ... was war eigentlich unser Thema? Du warst ja auch nie da. Worum ging es in Geschichte gerade?"
Der zweite Weltkrieg, die Trümmerfrauen, dann die Teilung Deutschlands und schließlich der Fall der Mauer, eine komplexe Zeit, die für diese Kinder zwar spannend ist, aber auch Lichtjahre entfernt. Nicht nur, weil es einfach vor ihrer Zeit war. Viele von ihnen, oder zumindest ihre Eltern, kommen selbst aus Krisen- oder gar Kriegsgebieten weit weg. Die 10b ist so etwas wie eine Migrationsklasse, wenn auch eher zufällig. Nur ein einziger deutscher Junge. Und der bleibt meistens ganz weg.

"Man schämt sich"

Heute ist er zufällig mal da, sitzt breitbeinig am Tisch und trommelt gelangweilt mit dem Stift auf sein Heft. Ümmi sitzt neben ihm. Heiders motivierteste Schülerin, eigentlich aus Süddeutschland, Ümmi ging früher mal zur Hauptschule.
"Man schämt sich, wenn Freunde fragen, auf welche Schule gehst Du, dann stockt man so´n bisschen, will es nicht sagen … aber ich hab mich jetzt dran gewöhnt, ich sag einfach 'Förderschule', weil es ist halt so. Ich sag 'Förderschule' und es ist ok, man muss sich nicht schämen, ich liebe meine Schule und meine Mitschüler und ich bin sehr glücklich, dass ich auch glücklich darüber bin, weil manche empfinden es nicht so ... aber zum Glück ich nicht."
Ümmi strahlt über das ganze Gesicht. Sie trägt Kopftuch und ist mit 17 die älteste in der Klasse. Frau Heider hat eine Reihe von Wörtern an die Tafel geschrieben "sehr lange Wörter", wie sie sagt;
"Moulka, einmal laut vorlesen, danach darfst Du Dir eins aussuchen."
Es ist nicht nur die Sprache, die für diese Kinder schwierig ist, sondern das Lernen überhaupt, das Sich-Einlassen auf etwas, das Dranbleiben, das Sich-konzentrieren. Und auch die Zuversicht, dass Schule, dass Bildung und dass dieser Stoff hier überhaupt etwas bedeuten. Dass diese Dinge etwas ändern können an ihrer Situation. "Wir sind ja eh' nur Förderschule", der Satz fällt hier oft.
Aber Ümmi ist eifrig, sie will was vom Leben. Jetzt hat sie sich "Flucht" als Erklärwort ausgesucht.
"Warum sind so viele aus der DDR geflohen? – Sie durften nicht ihre Meinung äußern... – ok, ein ganz wichtiger Punkt ... es war sehr gut in BRD, die Industrie hat gut weitergearbeitet ..."
Der Klassenraum ist hell und freundlich, das Mobiliar gut in Schuss. Buchenholzfarbige Tische und -stühle mit roten Kufen. Hinten an der Wand selbstgestaltete Plakate. Praktikumsberichte. Jeder und jede hat ein Foto im Betrieb gemacht: Oghusan mit Kochmütze; Romina vor dem Regal eines Drogeriemarktes, Ümmi im Reisebüro. Stolze Posen sind das, mit kurzer Beschreibung der Aufgaben. Und mit einer Bewertung: Kann ich empfehlen, kann ich nicht empfehlen. Förderschüler müssen sich ranhalten, damit sie irgendwo unterkommen. Jetzt in der 10. gehen die Schüler sogar einmal die Woche fest in einen Betrieb.
Es ist Mittwoch, Praktikumstag. Der Bus ist da. Der Bus mit den Senioren. Um acht Uhr morgens steht Ümmi draußen parat und geleitet die alten Leute in die Senioren-Tagesstätte.
Ümmi: "Man weiß nie, wohin die sonst gehen würden, deswegen immer aufpassen."
Ümmi kennt die Abläufe. Am Anfang des Jahrespraktikums war sie drei Wochen lang am Stück hier. Sie hat im Laufe der Schulzeit auch schon mal Lebensmittel in Regale gepackt, in einem Modegeschäft beraten und in einem Reisebüro ausgeholfen. Aber da eigentlich nur Kaffee gekocht, sagt sie. Förderschüler schnuppern ab der achten Klasse in Betriebe rein und Ümmi hat gemerkt, dass sie mit Menschen arbeiten möchte, mit alten Menschen.
"Mit denen kann man sich richtig unterhalten, die sind irgendwie offen und ehrlich, also wenn man sich mit Jugendlichen unterhält, vielleicht schämt man sich, über das eine oder das andere, aber wenn man sich mit Senioren unterhält, das macht Spaß." (lacht).

Arbeit mit Senioren könnte Ümmi sich gut vorstellen

Drinnen ist schon fürs Frühstück eingedeckt, der erste Programmpunkt für die alten Leute. Seniorengarten, das ist wie ein Kindergarten, nur eben für Alte. Überall stehen Rollatoren im Weg, Ümmi räumt auf. Dann reicht sie Brötchen an, rückt Stühle zurecht und schenkt Kaffee ein.
"Möchten Sie noch was? – Nee...."
So was, das könnte sie sich für ihr Leben vorstellen. In Köln gibt es eine verkürzte und vereinfachte Ausbildung extra für Förderschüler. Ümmi hat da einen Ausbildungsplatz ergattert, mit Frau Heiders Hilfe. In einem Krankenhaus, als richtige Auszubildende zum "Fachpraktiker Service"; sie könnte nach den Ferien anfangen ...
"Ja, aber ich werde umziehen ..."
Sie guckt verzweifelt. Sie kann nicht in Köln bleiben. Sie muss zurück nach Süddeutschland. Warum genau ... sie druckst herum. Zuhause ist alles kompliziert, erzählt sie. Ihre Eltern leben getrennt, sie wuchs bei ihren Großeltern auf. Und ist ganz oft umgezogen, zum Vater, zur Mutter, zu einer Tante, zu einer anderen Tante, überall nur kurze Zeit ... und jetzt geht es eben zurück in den Süden. Gar nicht so einfach, da seinen eigenen Platz zu finden.
"So viele Jahre sind schon vergangen, ich bin in der 10. Ich bin schon 17 – krass! Wenn ich zurückblicke und gucke, was ich alles geschafft habe und nicht geschafft habe, was ich mitbekommen habe und nicht mitbekommen habe ... also, je älter man wird, je bewusster wird man ja auch. Z.B. ich konnte keinen Arzt anrufen, konnte ich nicht und jetzt rufe ich den Arzt an und kann einen Termin machen für mich, für meine Tante, für meinen Papa ... ich bin offener ... das ist was Großes für mich." (lacht)
"Frau Piel, möchten Sie auch Gymnastik machen? Für alle, die wollen ..."
Die Arbeit ruft. Ümmi nimmt einen älteren Herrn am Arm und geleitet ihn in den Aufenthaltsraum. Singen und Gedächtnistraining steht auf dem Plan, bis zum Mittagessen. Beim Rausgehen sagt Ümmi noch: Mathe und Englisch, das habe sie nicht geschafft.
"Deshalb sagt mein Lehrer, wenn ich den Beruf sage, oder den, 'dann braucht man Mathe, Ümmi', ich so, ja, 'du musst lernen', ok, ich versuche alles, damit ich es schaffe ... mal gucken."
Ihre Lehrerin nutzt den Mittwoch immer auf ihre Weise. Die Schule ist auch ein bisschen wie ein Kindergarten, sagt sie und wie ein Zuhause. Alles, was die Eltern versäumen, dafür ist Heider da: Suche nach Praktika, Kopieren von Unterlagen und Organisation für die Zukunft.
Ein Anruf bei der Stadt, bei der Stelle, die Anschlussmöglichkeiten für Förderschüler koordiniert. Eine Berufsausbildung schaffen die wenigsten, Vladan soll immerhin in ein Projekt rein, das ihn weiter an den Arbeitsmarkt heranführt.
Heider am Telefon: "Er ist ein sehr umtriebiger, williger Schüler, das Problem ist eben, wenn ich morgens halb neun da anrufe, dass ich die ganze Familie wecke, (...) da ist eben der Tagesrhythmus in der Siedlung so verschoben, so dass die, die morgens um sechs aufstehen müssen, einfach schlechte Karten haben ..."

Jeder verdient eine faire Chance

Bianka Heider legt sich ins Zeug. Sie wollte schon als Kind Förderschullehrerin werden, erzählt sie. Üben konnte sie an ihrem behinderten Bruder. Für den hat sie von klein auf alles geregelt. Jeder, so sagt sie, verdient eine faire Chance und die haben viele, die an der Förderschule landen, nie gehabt.
Nex ist auch so einer, der ihr am Herzen liegt. Vergesslich, unkonzentriert, immer zu spät dran aber ein Guter.
Heider am Telefon: "Die sind beide sehr willig, kommen beide zu spät, aber sind auf ihre Art echt Schätzchen."
Die Dame vom Jugendamt hat viel zu erzählen an dieser Stelle, es klingt wie eine Gardinenpredigt über Jugendliche, die sich nicht rechtzeitig um ihre Zukunft kümmern, aber Frau Heider hört geduldig weiter zu. Sie kennt das; an den richtigen Stellen abwarten; so kommt man in diesen Dingen weiter.
"Dann hoffe ich mal, gut, danke, Tschüss!"
"Boa, das war echt´n Glückzufall, die hätte den Nex nicht genommen, weil er zu spät war (...) keine Plätze, vielleicht rutscht er jetzt doch noch rein, hui ..." (strahlt)
Nex weiß nichts von diesem Anruf. Nex ist an diesem Mittwoch auch im Praktikum, an einer Grundschule.
Er hat sich nach langem Hin-und-her und erst vor wenigen Wochen einen Schnupperplatz gesucht. Offener Ganztag, es ist gerade Mittagspause. Nex macht Aufsicht.
Nex und Kinder: "In die Hoden ... – Ach so, ey, steh auf ... – Er kann keine Kinder mehr machen. – Geht´s?"
Das hier ist eine sozial schwierige Gegend. Zwei Jungs, dritte Klasse, haben zu doll Fußball gespielt, aber es geht dem Angeschossenen schon wieder gut. Nex hilft ihm hoch, ermahnt die beiden noch mal und schlendert allmählich zurück zu seiner Lieblingskollegin; Bahar arbeitet schon seit langen Jahren hier als Betreuerin und Tanzlehrerin. Hiphop trainiert sie oft auch mit Nex. Er hat ein Talent dafür. Bahar studiert Sozialarbeit, will nach der Prüfungsphase ins Ausland. Große Pläne. Und Nex?
Bahar/Nex: "Du weißt doch, Jugendwerkstatt und so. – Ah so, Männerarbeit möchtest Du machen, Wahrscheinlich so KFZ-Mechaniker oder so. Passt auch zu Nex. – Ja ich muss nehmen, was kommt. – Du hast doch bestimmt auch ´ne Vorstellung. – Ja aber erreicht man nicht so. – hast so Interessen ... Obwohl du könntest auch Sozialarbeiter werden, so was machen. Ist´n sehr sozialer Junge. Er kommuniziert gerne, mit Leuten und so ... – Würde ich gerne irgendwann machen, ja. Aber läuft nicht mit Schule, eh?!"
Er zuckt die Schultern.
Nex: "Am Anfang sagt man 'Schule ist scheiße', dann merkt man aber doch, Schule war besser als Arbeiten ..."
Neuer Tag, neues Glück. In der letzten Stunde versucht´s Heider noch einmal mit Geschichte, sie hat für jeden Schüler eigene Aufgaben vorbereitet, wie immer. Budomir soll in seinem Heft auf einem Zeitstrahl nur die Reihenfolge von Ereignissen anordnen. Nex und Ümmi dagegen arbeiten mit konkreten Jahreszahlen in ihrem Buch.

Die Lehrerin wiederholt jedes Thema

Stillsitzen, selbständig arbeiten, was Nachlesen alles kompliziert für Nex. Dabei mag er Geschichte.
"Ja, aber mündlich, Buch nicht, Buch tot, aber mündlich bin ich gut ... mit unserer alten Lehrerin haben wir fast täglich über so was geredet, jeden Tag, da habe ich mir das im Kopf gemerkt, darum bin ich so gut darin ... – Romina: Er hat gut lesen gelernt – Buchstabe für Buchstabe ... früher konnte er nicht gut lesen, aber jetzt besser... – Und Romina, sie weiß, was das ist, aber sie kann das nicht so richtig in Worte ausdrücken, formulieren ... Sie weiß nicht, wie sie das formulieren muss ... und Moulka mischt alles zusammen ... und Ümmi ist dumm." (Kichern)
Nex ist beliebt, besonders bei den Mädchen. Ein schlaksiger Typ mit langen Armen und Beinen, der sich kleiner macht, als er ist; weil er die anderen sonst um mehrere Kopflängen überragt. Schwarze Augen, schwarze Haare mit einem offenbar unzähmbaren Schopf. Der eigentlich hinten bleiben soll, der ihm aber immer wieder nach vorne in die Augen fällt. Typische Geste für diesen Jungen mit albanischen Wurzeln: sich cool die Haare aus dem Gesicht streichen.
Nex liest vor, vertauscht die Jahreszahlen: "Die Besatzungszeit endet 94. – WANN? – 94. – 49? – ah, Frau Heider ... . Also, wann fing die Besatzungszeit an? Ach, ich weiß es, aber ich sag jetzt nicht noch mal die Zeit ..."
"Ich kann Euch unmöglich entlassen. Ihr bringt alles sowas von durcheinander!"
Heider wiederholt jedes Thema regelmäßig das ganze Jahr über und immer wieder, sonst ist alles vergessen. Und trotzdem werfen die Kinder oft genug verschiedene Themen in einen Topf, sagt sie, weil sie nicht alles verstehen.
Heider: "Ich hatte auch schon mal in einer anderen Klasse, da floss dann der Nil durch Polen. Wir hatten über den Nil gesprochen, wir hatten über Polen gesprochen, da gibt´s dann sehr interessante Verknüpfungen. Das gehört ... das gehört zu uns. Wenn der Nil durch Polen fließt, dann ist das nicht schön, aber es ist nicht schlimm. Hauptsache die Kompetenzen für´s Leben sind mitgegeben."
Heider ruft: "Alle Bücher zu! zählt laut runter, Tumult der Kinder im Hintergrund."
In diesem Schuljahr hat sie deshalb auch immer wieder Themen wie Kinderkriegen behandelt, Säuglingspflege; Organspende ja/nein und Ämter und Behörden: Wo man Sozialhilfe und wo Hartz vier beantragt. Ihre Schüler haben im Internet sogar die Adressen rausgesucht und aufgeschrieben.
"So, haben wir alles? Tschüss, Frau Heider ..."
Auf dem Arbeitsmarkt ist wenig Platz für Förderschüler. Deshalb sind die Kontakte zu den Betrieben so wichtig.
Nachmittagsspaß in der Seniorentagesstätte. Ein Dutzend Gäste sitzt im Kreis. Alle singen mit, so gut sie können, auch Ümmi. Ihr Fuß wippt im Takt. Alle wissen, es ist das letzte Mal, dass sie da ist; das Jahrespraktikum geht zu Ende.
Leute: "Ich hab sie so gern, sie ist unser Engelchen. Die Ümmi ist eine Bereicherung für uns, ein tolles Mädchen ... Aber sie geht jetzt weg ..."
Ümmi nickt. Ihr Umzug nach Stuttgart naht. Da muss sie noch einmal ganz von vorne anfangen, ohne Frau Heiders Hilfe.
Ümmi: "Mein Ziel ist, dass ich einen richtigen Ausbildungsplatz habe und ihn drei Jahre lang durchziehe und dann was in der Hand habe und wenn ich heirate, dass ich sagen kann, 'ich kann auch arbeiten', dann arbeite ich auch, verdiene mein Geld. Und meine Wünsche ... glücklich zu sein und in eigenen Beinen zu stehen. Das ist das Wichtigste, finde ich."
Draußen fährt der erste Bus vor, Ümmi huscht George hinterher, Abschied nehmen. Sie wird ihn wohl nicht wiedersehen.
Auch für Nex ist heute der letzte Tag des Praktikums. Die Hausaufgabenbetreuung und die Pausenaufsicht in der Grundschule hat er schon überstanden. Jetzt aber kommt das Highlight des Tages. Die Hip-Hop-AG mit seiner Kollegin Bahar.
Bahar: "Machst Du das Aufwärmen heute ... mach Du das mal, wir haben Special guest ..."

Beim Tanzen in der Förderschule Blut geleckt

Nex ist Co-Trainer. Er schaltet in der Aula die Anlage ein. Alle fangen an, sich zur Musik zu bewegen. Und Nex verändert sich. Sein Körper ist nicht mehr schlaksig. Der Ausdruck nicht mehr verloren. Er wirkt geschmeidig und effektiv. Jetzt zeigt er den Kindern ein Basic, Schritt-Schritt-wippen-hopp. Bei ihm bewegen sich Arme und Beine, Kopf und Rumpf mit, mal gegenläufig, mal als eine Einheit.
Nex ist cool. Auf einmal macht auch die Bomberjacke Sinn und die Turnschuhe. Michael Jacksons Moonwalk ist nichts im Vergleich zu dem, was Nex auf die kleine Bühne zaubert. Seine Augen leuchten. Das da oben ist ein anderer Nex. Einer, der in seinem Element ist. Der anderen zeigt, wie was geht. Pfeif doch auf Deutsch und Mathe.
Nex hat das Tanzen in der Förderschule gelernt. Er hat Blut geleckt bei dem Trainer, der einmal die Woche dorthin kommt und der Junge, der sich in der Schule nach 20 Minuten nicht mehr konzentrieren kann, der ewig zu spät kommt und alle Zettel verschlampt, dieser Junge übt stundenlang allein zuhause; seit vier Jahren. Jetzt ist Nex selbst Trainer. Die Kinder saugen jeden Move auf, den er vormacht. Und er wacht mit Argusaugen über ihre Moves.
Hin und wieder zupft er mal ein Kind rhythmisch am T-Shirt, um einen besonderen Extra-Beat in der Musik fühlbar zu machen. Dann können die Kinder den mit einbauen. Richtig gute Tänzer nehmen so was nämlich auf und antworten der Musik mit einer kleinen oder alleinigen Bewegung von Hals und Kopf oder den Armen und Beinen. Nex achtet auf so was.
Nex: "Chris und Pia sind schon richtig weit schon, für ihr Alter. Die werden Maschinen mit 20 oder so, boa, die überholen mich noch. Nicht mehr lange, dann haben die mich. Ich bin stolz, wenn die so gut werden! Am Anfang waren die nicht so, guck mal, das ist noch gar nicht lange her, ein Jahr vielleicht, da sind die so krass geworden. Das ist nicht mehr normal ..."
Wenig fordern, viel anbieten, so unterrichten Nex und Bahar. Erfolgsrezept bei solchen Kindern, weiß Nex aus eigener Erfahrung. Er hat noch drei Geschwister und wächst ohne Vater auf. Seine Mutter hat es schwer damit.
Kollegin: "Jeder nimmt sich einen Partner und trainiert. Korrigiert Euch gegenseitig ... Ich hab schon Nex ..."
Früher hat Nex oft Ärger gemacht und sich geprügelt, jetzt hat er das Tanzen. Es hat ihn von der Straße geholt. Und es wird ihn auffangen, falls er den Platz in der Jugendwerkstatt doch nicht bekommt. Die Praktikumsbescheinigung aber, mit der Bewertung seiner Chefin, die vergisst er abzuholen. Dabei braucht seine Lehrerin die für die Zeugnisübergabe.
Und dann ist die Entlassfeier da, an einem Freitag Morgen um elf im Gemeindesaal.
Vor der Bühne sind lange Stuhlreihen aufgestellt für die Kinder und deren Anhang. Wo sind die Eltern?
Heider: "Ich glaube, meine Schüler sind alle da und die Eltern ... ja ist ja auch noch zu früh. Wenn wir den Tag treffen, sind wir gut. Ich glaube, von ganz vielen kommt überhaupt niemand, egal um welche Zeit."
Aus der 10b haben nur Oughsans Vater und Mutter und eine weitere Mutter den Weg hierhin gefunden. Alle anderen haben offenbar kein Interesse. Die Feier nimmt ihren Lauf.
"Ich bin froh, wenn´s vorbei ist. Oh, meine Taschentücher! Ich muss Taschentücher holen!"
Das Programm mit Theateraufführung und Hip-Hop-Einlage der Lehrer ist durch, die Zeugnisübergabe steht bevor. Die 10b drängelt sich hinter der Bühne. Fast alle haben sich schick gemacht. Romina im roten Abendkleid, Nex im feinen Anzug mit fliederfarbenem Hemd, und Ümmi hat sich zur Feier des Tages heute ein smaragdgrünes Kopftuch angezogen, statt des schwarzen, und trägt einen Schmuck auf der Stirn.
Der Direktor teilt die Zeugnisse aus. Auf dem Arbeitsmarkt wertlose Stücke Papier, kein anerkannter Schulabschluss. Doch für diese Kinder ein erster Schritt in eine wie auch immer geartete Zukunft. Viele von ihnen, so sagt Frau Heider, werden auf dem Sofa enden, mit Sozialhilfe, aber manch ein Förderkind wird auch etwas erreichen. Sie steht mit auf der Bühne und umarmt jedes Kind. Sie hält sich wacker in diesem Jahr, was die Tränen angeht.
Ümmi dagegen kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Sie verteilt Abschiedsgeschenke an ihre Freundinnen. Ihre Tante sitzt im Publikum und nimmt sie gleich mit nach Süddeutschland. Die einzige aus der 10b mit einem echten Ausbildungsplatz lässt ihn tatsächlich sausen.

Elin Rosteck: "Ich habe bei der Recherche zu einem Tanzprojekt einige Förderschüler kennengelernt. 10. Klasse und am ersten Tag schon erzählten die, welche Sorgen die sich um ihre Zukunft machen. 10. Klasse, Förderschule und so nette Kinder! Ich wollte sie näher kennenlernen und wissen, wie die ticken. Was für Chancen sie haben im Leben. Ich wollte auch einige zuhause besuchen, aber das habe ich nicht geschafft. Ich glaube, die schämen sich. Für die Eltern. Vielleicht für ihr Leben."

© Andreas Garrels / NDR
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