Bildband

Subkultur und Schickeria in Berlin

Von Olga Hochweis · 04.02.2014
Viele schrille Fotos aus dem Berliner Nachtleben kommen in diesem tollen Band erstmals ans Licht. Der Leser blättert sich nicht durch einzelne "Szenen", sondern erfährt, wie sie sich in der Hauptstadt gegenseitig beeinflussen.
Berlin gilt mit seiner Fülle und Qualität an Clubs, Bars und kreativen Kurz-Provisorien längst als eine der interessantesten Party-Metropolen der Welt. Befördert hat diesen Ruf in den vergangenen Jahren nicht zuletzt der Ruhm des Clubs Berghain, der es sowohl in die Literatur als auch ins Feuilleton sämtlicher Zeitungen bis hin zur New York Times geschafft hat. Hedonistische Berlin-Bücher liegen im Trend, ob es Wolfgang Müllers Erinnerungen an die Subkultur Westberlins bis 1989 sind oder die Textcollage „Der Klang der Familie“ über die Techno-Phase der Wendezeit vor allem im Ost-Teil der Stadt.
Die vorliegende Neuerscheinung geht über solche Darstellungen hinaus. Im Zentrum stehen hier weder eine isolierte Musik-Szene noch ein bestimmter Stadtteil, sondern die Verbindungslinien und Kontexte von 1974 bis heute. Das wird sowohl inhaltlich wie optisch umgesetzt: Essays, Interviews, Textcollagen vieler prägender Figuren aus unterschiedlichsten Milieus, von der Modeschöpferin Claudia Skoda über den Dichter Joachim Sartorius (langjähriger Leiter der Berliner Festspiele) bis hin zum Blogger und Schriftsteller Airen ertrinken förmlich in der überbordenden Fülle an schrill-buntem, großformatigen Bildmaterial. Die bislang unveröffentlichten Fotos aus vielen privaten Schuhkartons und Schubladen bildeten für die drei Herausgeber (Verleger, Künstlerin und Journalist) überhaupt erst den Ausgangspunkt für die „erste illustrierte Geschichte des Nachtlebens in Berlin über einen Zeitraum von vierzig Jahren.“
Nirgendwo sind die Milieus so durchlässig wie in Berlin
Jenseits der klaren inhaltlichen Strukturierung in drei große Zeitphasen machen die Texte deutlich: Non-Konformismus und Experimentierfreude gedeihen in dieser Stadt zu allen Phasen bestens. Nischen und improvisierte Zwischennutzungen gehören gewissermaßen zu den Strukturmerkmalen Berlins - quer durch die Jahrzehnte und Milieus. Und so unterschiedlich die Herkunft der Protagonisten - ob sie aus der Künstler-Boheme, dem „Underground“ oder der etablierten Kultur-Schickeria Berlins kommen: Sie alle eint die Begeisterung für den Moment, fürs Ausprobieren, für die fließenden Übergänge zwischen den einzelnen Milieus. Nirgendwo sonst sind sie wohl so durchlässig wie in Berlin.
Geld spielt zumindest anfänglich eher eine Nebenrolle. Auch das Alter der Nachtschwärmer ist selten von Belang. Manche Figuren begegnen dem Leser entsprechend häufiger in unterschiedlichsten Milieus und quer durch die Jahrzehnte (zum Beispiel Dimitri Hegemann). Bleibt noch die Frage, warum ausgerechnet 1974 als sogenannte „Nachtclub-Revolution“ hier die Anfänge markiert. Ein Grund mag für die Herausgeber ein anstehendes Jubiläum sein. Am 29. Januar 1974 eröffnete Berlins „berühmteste Transsexuelle“ Romy Haag im schwulen Kiez Schöneberg ihr legendäres „Chez Romy Haag“. Ihr Nachtclub lockte nicht nur David Bowie an (mit dem sie eine Affäre hatte) , sondern auch viel andere Prominenz von Lou Reed bis zu den Rolling Stones. Seinen eigentlichen Glamour-Faktor aber bezog der Laden vor allem aus dem Mut zum Anderssein, was die schrillen Fotos exzellent dokumentieren.
Dieser prächtige Band ist ein echter Hingucker - nicht nur für den ersten Blick. Er lädt mit gelungenen Insider-Texten dazu ein, noch intensiver ins Berliner Nachtleben einzutauchen.

Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl, Heiko Zwirner (Hrsg.): Nachtleben Berlin - 1974 bis heute
Metrolit Verlag, Berlin 2013
304 Seiten, 36 Euro

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