Bicentenario

Von Ole Schulz · 25.11.2009
Im Jahre 1809 brodelt es in Lateinamerika: Viele der Bewohner der vier spanischen Vize-Königreiche Neu-Spanien, Neu-Granada, Peru und Rio de la Plata sind unzufrieden. Es ist der Anfang vom Ende der spanischen Kolonialherrschaft in Amerika - von Mexiko bis Feuerland. In diesem Jahr wird in vielen Ländern der "Bicentenario" gefeiert, das 200. Jubiläum der Gründung der meisten lateinamerikanischen Republiken.
Der klassischen Geschichtsschreibung zufolge war es in Boliviens La Paz, damals zum Vizekönigreich Peru gehörend, wo die Unabhängigkeitskriege im Sommer 1809 ihren Anfang nahmen. Die "Criollos", wie die spanisch-stämmige Elite seinerzeit genannt wird, die "Kreolen" erheben sich hier gegen das spanische Kolonialsystem: Kaufmänner und Handelsleute ebenso wie Grundbesitzer, dazu Studenten und Beamte, aber auch eine große Zahl von spanisch-indianischen Mischlingen, die "Mestizen".

Obwohl der Aufstand schnell niedergeschlagen wird, geht er als "primer grito libertario", als "erster Freiheitsruf", in die Geschichte Lateinamerikas ein. Heute sehen das viele Historiker allerdings anders. Die Peruanerin Mónica Ricketts:

"Ich glaube nicht, dass die Unabhängigkeitsbewegung in Bolivien angefangen hat. Was damals begonnen hat, war der Kampf um eine größere Autonomie von Spanien. Das ist nicht das Gleiche wie der Kampf um völlige Unabhängigkeit. Dass passierte in La Paz, weil es eine Universitätsstadt war. Außerdem fühlte sich die Region von den Vizekönigreichen Rio de la Plata und Peru, denen sie zugeordnet war, gegängelt. Es gab hier ein sehr starkes regionales Selbstbewusstsein."

Was war geschehen? Spanien hatte im 18. Jahrhundert seine Rolle als Weltmacht allmählich verloren und war in Kriege verwickelt. 1808 wird das Land schließlich von den Franzosen besetzt und der spanische König Ferdinand VII. von Napoléon Bonaparte gefangen gesetzt. Das hat auch Folgen in den lateinamerikanischen Kolonien:

Stefan Rinke: "Das war der entscheidende Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Als im Jahre 1808 der letzte Rest an spanischer Autorität sozusagen in sich zusammenbrach, brachte das Ereignisse ins Rollen, die zunächst erst einmal gar nicht auf die sofortige Erringung der Unabhängigkeit ausgerichtet waren, die aber letztendlich eine Eigendynamik entwickelten, die sich ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr aufhalten ließ, und dann in diese Unabhängigkeitsbewegungen gipfelte."

Stefan Rinke, Geschichtsprofessor am Lateinamerika-Institut in Berlin. Im Frühjahr 2010 erscheint beim Beck-Verlag München sein Buch "Revolutionen in Lateinamerika: Wege in die Unabhängigkeit 1760-1830". Rinke arbeitet darin den welthistorischen Zusammenhang heraus, in dem die südamerikanischen Unabhängigkeitskriege stattfanden.

"Er ist eingebettet in einen größeren atlantischen Kontext, das heißt also verbunden mit all den Ereignissen, die sich in diesem Zeitraum - in dieser auch von europäischen Historikern sogenannten Sattelzeit - zugetragen haben, die anfingen auch mit der nordamerikanischen Revolution der englischen Kolonien, der Loslösung dieser ersten anti-kolonialen Befreiungsbewegung, über die französische Revolution, und dann aber eben auch mit Auswirkungen direkt im südlichen Amerika, nämlich mit der Sklavenrevolution von Saint-Domain, dem heutigen Haiti, über die langwierigen Befreiungsrevolutionen im spanischen Amerika, bis schließlich dann, die mehr oder weniger, muss man sagen, unblutige Emanzipation Brasiliens diesen Prozess zum Abschluss brachte."

Bis sich die heute bestehenden Länder Mittel- und Südamerikas als unabhängige Republiken gründen sollten, war es ein langer Weg. Zunächst wiederholen sich in Quito, heute die Hauptstadt Ecuadors, damals dem Vizekönigreich Neu-Granada zugeordnet, im Herbst 1809 ähnliche kreolische Aufstände wie in La Paz im Sommer. Warum die ersten Erhebungen gegen die spanische Krone gerade in Bolivien und Ecuador stattfanden?

Stefan Rinke: "Es waren nämlich wirtschaftlich starke Regionen - das kann man sich heute gar nicht mehr so vorstellen, aber damals waren es wirtschaftlich starke Regionen und zwar Bolivien aufgrund seines Reichtums an Silber. Bolivien ist das Land des großen Silberberges Potosí, der damals sinnbildlich stand für den Reichtum Amerikas, und das heutige Ecuador war damals ein Zentrum einer doch relativ stark prosperierenden Textilindustrie in den sogenannten 'obrajes'. Diese beiden wirtschaftlich relativ starken Regionen sahen sich eigentlich immer hinten angestellt in diesem Kolonialsystem aufgrund der Tatsache, dass sie eben nun Vizekönigen untergeordnet waren, die weit weg waren, die eigentlich bloß Gelder abzogen."

Auch im südlichen Teil Lateinamerikas, im damaligen Vizekönigreich Rio de la Plata, rebelliert die kreolische Oberschicht gegen den spanischen König und seine Kolonialverwaltung. Überall fordert man jetzt größere politische Autonomie und weniger Restriktionen im Außenhandel[ weil Spanien wegen der Kriege sowohl seine Rolle als militärischer Beschützer wie auch als verlässlicher Handelspartner der Kolonien verloren hatte. Doch dann beginnt nach der Niederschlagung der Aufstände in La Paz und Quito eine spanische Gegenoffensive.

Stefan Rinke: "1814/15 ist sowohl das Vizekönigreich Neuspanien fest in royalistischer Hand als auch das nördliche Südamerika, bis hinunter nach Chile reicht die königliche Macht wieder. Die einzigen Räume, die davon ausgenommen sind, das ist im Wesentlichen der Rio de la Plata-Raum, also der Raum, der die heutigen Staaten Argentinien, teilweise auch Uruguay, und Paraguay umfasst."

Auf dem amerikanischen Kontinent bot sich in diesen Jahren eine sehr unübersichtliche Lage. Der Historiker Héctor Pérez-Brignoli, Professor an der Universität von Costa Rica:

"Es gab 15 Jahre lang ununterbrochen Kriege. Und diese Kriege waren Bürgerkriege. Sich das zu vergegenwärtigen, ist wichtig. Inzwischen gibt es viele Untersuchungen über die Zusammensetzung der Heere. Und wer kämpfte da gegeneinander? In fast allen Truppen, die aufeinander trafen - sowohl bei den 'Patrioten', die für die Unabhängigkeit eintraten, als auch bei den königstreuen 'Royalisten' -, waren neben den Kreolen auch Mestizen und Indigene dabei. In Peru zum Beispiel kämpfte die Mehrheit der Indianer auf Seiten der Royalisten."

Erst die Spanier hatten die Institution einer professionellen Armee nach Lateinamerika gebracht. Jetzt ermöglichte sie den sonst weitgehend rechtlosen Sklaven, Indios und Mischlingen immerhin Aufstiegschancen.

Mónica Ricketts: "Es war eine sehr scharfsinnige, gewiefte Methode der Spanier, die Loyalität ihrer Untertanen zu gewährleisten, dadurch, dass man sie in diese moderne Einrichtung des Heeres integrierte, wo sie die Möglichkeit hatten, sozial aufzusteigen. Es gab eigene Einheiten von Sklaven, von Mischlingen und von Indianern. Dadurch nahmen sie eine neue Rolle ein, die durch ihren Beruf definiert wurde. Das war wichtig in einer Epoche, wo die Stellung in der Gesellschaft normalerweise einzig und allein von der Hautfarbe abhing."

Und die Grenze, wer wo auf wessen Seite kämpfte - ob königstreu oder auf Seiten der liberalen Separatisten -, war auch bei der Oberschicht fließend - je nach Region und Interessenlage:

Mónica Ricketts: "In Peru und Mexiko zum Beispiel waren die Kreolen tief gespalten, viele wollten den spanischen Protektionismus nicht verlieren. Sie hatte enge wirtschaftliche, politische und familiäre Verbindungen mit der spanischen Elite. Sich auf die Seite der Unabhängigkeitskämpfer zu schlagen, war darum keine einfache Entscheidung. In Mexiko, Peru und auch auf Kuba lebten auch vielm mehr Adlige als zum Beispiel in Venezuela und Chile."

Auch die Frage, welche Staatsform die zu gründenden Staaten haben sollten, war lange offen:

Hector Pérez-Brignoli: "Die republikanische Idee hatte anfänglich nicht viele Anhänger, es gab auch Verfechter einer Monarchie - einer konstitutionellen Monarchie, die strikte gesetzliche Garantien für die einzelnen Länder festlegen sollte. Die Idee, einen Thronfolger - wobei dabei immer an einen bourbonischen Prinzen gedacht wurde -, zum König zu krönen, war weit verbreitet; auch gab es die Vorstellung, einen Inka zu krönen."

Besonders schwierig war die Lage für die indianischen Ureinwohner: Sie mussten einen "Tribut" an die spanische Krone zahlen und wurden zur Arbeit in Minen und Bergwerken gezwungen. Trotzdem hofften viele von ihnen auf königlichen Schutz.

Hector Pérez-Brignoli: "In fast allen indianischen Volkserhebungen gegen die Spanier kann man beobachten, dass der König als der Gute gilt - und wer schlecht ist, das sind die Funktionäre. Darum sind es Aufstände gegen die schlechte Regierung, gegen die lokalen Entscheidungsträger. Nur selten hat sich daraus die Idee entwickelt, sich generell gegen die Unterdrückung durch das koloniale System zu erheben. Wenn das angestrebt wurde, dann mit der Vorstellung verbunden, in eine präkoloniale, mythische Vergangenheit zurückzukehren."

Mit den Lockungen von Freiheit und Mitbestimmung bemühten sich auch die um Unabhängigkeit ringenden "patriotischen" Truppen unter kreolischen Führern um Schwarze, Indios und Mischlinge; schließlich brauchten sie "Kanonenfutter" für ihre Armeen. Die Einstellung der mächtigen Kreolen gegenüber ihren nicht-weißen Landsleuten blieb insgesamt aber ambivalent.

Stefan Rinke: "Man hatte eben immer dieses mulmige Gefühl, man sorgte sich, dass mit der aktiveren Rolle, die diese Indigenen nun übernehmen, sich in der Tat eben auch politisch-soziale Forderungen daraus ableiten ließen."

Das Jahr 1815 bildet eine Zäsur. Danach beginnt sich das Blatt auf den Schlachtfeldern langsam zugunsten der liberalen Unabhängigkeitskämpfer zu wenden. Argentinien erklärt 1816, nach einem ersten Versuch 1810, endgültig seine Unabhängigkeit. Im selben Jahr kommt ein Mann aus dem Exil in der Karibik zurück, um in seiner Heimat Venezuela zu triumphieren: Simón Bolívar.

Simón Bolívar: "Ich bin ein Sohn der unglücklichen Stadt Caracas, auf wunderbare Weise ihren Trümmern entronnen; stets treu dem von meinem Vaterland proklamierten liberalen und gerechten System, bin ich den Standarten der Unabhängigkeit gefolgt, welche hier so ruhmreich flattern."

Bolívar, hier Nachgesprochen von einem venezolanischen Schauspieler, führt die Rückeroberung seiner Heimat persönlich an - finanziell unterstützt von der Sklavenrepublik Haiti. 1818 schafft er in Venezuela die Sklaverei ab - als Anreiz, sich der "Befreiungsarmee" anzuschließen. Ein Jahr später ruft Bolívar schließlich Abgesandte befreiter venezolanischer Provinzen zum Kongress von Angostura zusammen:

Simón Bolívar: "Die Überreste der spanischen Herrschaft werden lange bleiben, bis wir sie vernichten können. Der Despotismus hat unsere Atmosphäre verpestet, und weder das Feuer des Krieges noch das Medikament unserer heilsamen Gesetze haben unsere Luft gereinigt. Unsere Hände sind schon frei, während unsere Herzen noch an der Knechtschaft leiden. Der Mensch, sagte Homer, verliert beim Verlust seiner Freiheit die Hälfte seines Geistes."

In seiner Rede beschreibt Bolívar auch seine Vorstellung von einer künftigen republikanischen Verfassung eines von Spanien unabhängigen Venezuelas.

Simón Bolívar: "Nichts ist so gefährlich, wie die Macht über lange Zeit bei ein und demselben Bürger zu belassen. Das Volk gewöhnt sich daran, ihm zu gehorchen, und er, dem Volk zu befehlen. Hieraus entspringen Usurpation und Tyrannei."

Bald darauf dringt Bolívar von Venezuela aus über die Anden in das Land vor. Unterstützt wird er von "patriotischen" Truppen unter General José de San Martín, die aus Argentinien kommend Richtung Chile und Peru ziehen.

Stefan Rinke: "Das hat immer noch viele Jahre auch gedauert, und es hat viele Rückschläge auch gegeben, gerade im venezolanischen und heutzutage kolumbianischen Raum, da gingen die Kämpfe hin und her. Es war nicht so, dass Bolívar kam, sah und siegte, sondern es zog sich in der Tat noch lange hin, aber innerhalb von einem Zeitraum von 6, 7 Jahren hat er es dann geschafft, diese enormen Distanzen und naturgeografischen Schwierigkeiten zu überwinden."

Vor allem in Peru, der Hochburg der "Royalisten", betrachtet man den Siegeszug Bolívars mit Skepsis:

Stefan Rinke: "Allerdings war dieser Prozess der Befreiung von Beginn an ein ambivalenter, denn die Befreiten betrachteten ihre Befreier oftmals eher als Usurpatoren, denn als echte Befreier, da sich diese auch wiederum als fremde Truppen gerierten, die plünderten und Subventionen abpressten und so weiter."

1821 wird unter der Präsidentschaft Símon Bolívars das neue republikanische Staatengebilde "Großkolumbien" gegründet - bestehend aus den heutigen Staaten Ecuador, Kolumbien, Venezuela und Panama.

Simón Bolívar: "Die Grundlagen der Regierung müssen die Souveränität des Volkes, Teilung der Gewalten, bürgerliche Freiheit, Ächtung der Sklaverei und Abschaffung der Monarchie sein. Wir brauchen Gleichheit, um den Menschen, die politischen Meinungen und die öffentlichen Sitten in ein Ganzes umzuschmieden."

Der vermeintlich "liberale" Bolívar, selbst Sohn einer reichen Kreolenfamilie, kann sich in der Frage der Staatsform gegen den "Monarchisten" San Martín durchsetzen. Danach wird darüber gestritten, wie eine solche Republik zu organisieren sei.

Hector Pérez-Brignoli: "Einige wollen ein föderales System errichten wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, das damals auch das einzige Vorbild für eine solche Staatsform war. Jenen Städten in dem Kolonialsystem, die sich von anderen dominiert fühlten, schien ein föderaler Verbund eine geeignete Lösung. Andere befürchteten dadurch chaotische politische Zustände, zum Beispiel auch Bolívar, er war entschiedener Befürworter einer zentralistischen Republik."

Simón Bolívar: "Seien wir nicht dünkelhaft, sondern bescheiden in unseren Ansprüchen. Es ist unwahrscheinlich, dass wir etwas erreichen, was das Menschengeschlecht noch niemals erreicht hat, was auch die weisesten Nationen nicht geschafft haben. An der unbegrenzten Freiheit, der unbeschränkten Demokratie sind bisher alle republikanischen Hoffnungen zerschellt. Lasst uns das föderale System abschaffen."

Simón Bolívars Konzept einer Präsidialverfassung mit einem starken Zentralstaat wird umgesetzt, und er selber macht als "Libertador", als Befreier des Kontinents, Geschichte. Im historischen Urteil bleibt Bolívar, der viele Länder Europas bereist hatte und ein Freund des aufgeklärten deutschen Naturforschers Alexander von Humboldt war, aber eine umstrittene Persönlichkeit: Er war ein Mann, dessen politische Vorstellungen im Laufe seines Lebens immer autoritärer wurden.

Stefan Rinke: "Er war Republikaner, das schon, und zwar im Vergleich zu seinem großen Zeitgenossen San Martín, der eben ein überzeugter Monarchist war, und der ein monarchistisches System auch anstrebte, das wollte Bolívar nicht, aber man darf natürlich nun auch nicht davon ausgehen, dass Bolívar ein überzeugter Demokrat gewesen wäre, das war er mit Sicherheit auch nicht. Er war ein überzeugter Verfechter eines zentralistischen Staates mit einer starken Exekutive. Er speiste dabei seine späteren politischen Vorstellungen aus den negativen Kriegserfahrungen, die er gemacht hatte."

Bolívar hielt nicht nur eine föderative Staatsform für gefährlich: Wie die meisten weißen Kreolen lehnt er auch die politische Mitbestimmung der Indios, Schwarzen und Mischlinge ab:

Stefan Rinke: "Seine Grauenvorstellung war die sogenannte 'Pardocrácia', also die Herrschaft jener Mischlingsbevölkerung, die zum Teil auch in hohen militärischen Befehlsstellungen ihm unterstand, und ihm zum Teil auch persönlich sehr nahe stand. Aber diese grundsätzliche Ablehnung der Nichtweißen-Bevölkerungsgruppen, die war auch bei ihm ganz ausgeprägt, da sah er keine Möglichkeit, die wirklich gleichberechtigt mit zu beteiligen."

Treu bleibt Bolívar zeitlebens der Idee eines vereinigten Kontinents: 1826 schlägt er die Gründung einer "panamerikanischen Konföderation" vor. Doch schon zwei Jahre später kommt es zum Krieg zwischen Großkolumbien und Peru. Bolívar, der sich mittlerweile selbst zum Diktator ernannt hatte, übersteht ein Attentat, bevor er 1830 frustriert alle Ämter aufgibt. Nur wenige Monate später stirbt er an Tuberkulose.

Mónica Ricketts: "Die Verfassung, die Bolívar 1826 entwarf, war sehr napoleonisch; er selbst sollte dabei lebenslang regieren. Dieses Staatengebilde konnte nicht funktionieren, weil es ein riesiges Territorium war, das aus endlosen Kämpfen hervorgegangen war. Es ist ein typisches Phänomen, dass es nach Erringung der Unabhängigkeit schwierig ist, stabile Staaten zu errichten. Darum kam es erneut zu langen Bürgerkriegen. Das passierte in Lateinamerika genauso wie vorher in Haiti. Das gleiche lässt sich in vielen Kolonien beobachten, die sich nach langen Kriegen unabhängig erklärt haben."

Bolivien, wo das Ringen Lateinamerikas um Selbstbestimmung 1809 seinen Anfang genommen hatte, erlangt seine Unabhängigkeit erst 1825, während die Bürgerkriege in Kolumbien sogar bis 1866 anhalten. Die meisten anderen Republiken Mittel- und Südamerikas können sich dagegen im Laufe des 19. Jahrhunderts konsolidieren. Damit beginnt auch die Mythisierung der Unabhängigkeitskriege, die Verklärung der jüngeren Vergangenheit:

Hector Pérez-Brignoli: "Die Geschichtsschreibung über die Ereignisse fing unmittelbar an, nachdem sich die Nationen gegründet hatten. Die Historiografie dieser jungen Republiken hatte den Charakter einer heroischen Sage: Demnach haben Helden wie San Martín und Bolívar gegen die bösen königlichen Besatzer gekämpft - das ist eine sehr vereinfachende Sicht. Nachdem wir heute im Detail wissen, wer da gegen wen gekämpft hat, können wir sagen, dass es sich überwiegend um Bürgerkriege gehandelt hat."

Die Interessen der Indios, die oft die Mehrheit der Soldaten gestellt und große Opfer gebracht hatten, geraten bald nach der Erringung der Unabhängigkeit wieder in Vergessenheit. Der "Indianertribut" wird zwischenzeitlich wieder eingeführt, und die Indigenen bleiben lange vom Wahlrecht ausgeschlossen. Versteht man die Republik als eine Herrschaftsform, bei der das gesamte Volk die höchste Gewalt des Staates und oberste Quelle der Legitimität ist, kann man die gegründeten Staaten in ihrer damaligen Form kaum als Republiken bezeichnen.

Mónica Ricketts: "In dem Moment, wo die weißen kreolischen Eliten die Macht übernehmen, kümmern sie sich nicht mehr um die Indianer und ihnen ergeht es schlechter als vorher - zumindest auf kurze Sicht. Unter der spanischen Herrschaft konnten die Indigenen zum Beispiel im Heer aufsteigen und sie unterlagen einem gewissen Schutz der Krone, weil man zum eigenen Machterhalt auf ihre Treue angewiesen war."

Stefan Rinke: "Diese historische Schuld gegenüber der indigenen Bevölkerung, die ist sicherlich noch lange nicht abgetragen, das kann man daran erkennen, dass Indigene eben immer noch schlechtere, wesentlich schlechtere Startchancen haben, dass sie in vielen Staaten nach wie vor sozial benachteiligt sind und nur sehr wenige Aufstiegschancen sich ihnen auch eröffnen. Fortschrittlichere Staaten, ich möchte nur das Beispiel Chile nennen, haben sich bemüht, hier erste Schritte zu gehen, aber dieser Weg ist lang und mühevoll und er ist mit Konflikten beladen."

Die jungen Republiken Lateinamerikas beziehen sich, um eine nationale Identität zu stiften, seit ihrer Gründung auf jene Azteken- und Inka-Führer, die nach der Entdeckung der "Neuen Welt" gegen die spanischen "Eroberer" gekämpft haben.

Hector Pérez-Brignoli: "Diese Rückbesinnung ist allerdings eine rein rhetorische. Die wirklichen Nachfahren von Tecum Uman oder Cuauthémoc sind arme, gequälte Indianer. Trotzdem werden sowohl Cuauthémoc als auch Tecum Uman Ehrenmale errichtet, ihre Antlitze auf Geldscheine und Münzen gedruckt, und Kinder singen seither in der Schule Lieder über jene indianischen Helden, die gegen die spanischen Konquistadoren gekämpft haben. All das ist aber eine rein ideologische Wiederaneignung der Vergangenheit."

Eine ähnliche identitätsstiftende Funktion sollten die Nationalhymnen der neu gegründeten Nationen erfüllen:

Mónica Ricketts: "Einige von ihnen sind Militärmärsche, die zum Teil auch von der zeitgenössischen italienischen Musik beeinflusst sind, man hörte damals Komponisten wie Donizetti. Die Hymne Perus zum Beispiel hat einen radikalen Text. Er handelt von den unterdrückten, in Ketten gelegten Peruanern. Immer tauchen diese Begriffe auf: Ketten, Schande, Unterdrückung und Joch."

200 Jahre sind seit dem Beginn der Autonomiebestrebungen vergangen. In diesen Tagen wird daher in vielen Ländern Lateinamerikas des damaligen Freiheitskampfes gedacht und der "Bicentenario" prunkvoll gefeiert. Dabei wird auch darüber debattiert, welche Belastungen das Erbe endloser Bürgerkriege hinterlassen hat.

Stefan Rinke: "Dadurch, dass eben nun diese Unabhängigkeitskriege nun 20, 25 Jahre angedauert haben, hat sich ein Recht des Stärkeren herausgebildet, das in die politischen Strukturen mit hinein übernommen wird. Der sogenannte Caudillo entsteht in der ausgehenden Phase der Unabhängigkeitskriege, eben der starke Mann, dem es gelingt durch sein Charisma, durch die Pflege persönlicher Treuebeziehungen zu seinen Untergebenen, sich eine Herrschaftsstellung aufzubauen, oftmals im ländlichen Bereich und dann von dort auch die Macht im ganzen Staate anzustreben und diese auf persönlichen Beziehungen zu begründen."

Bolívar mag der erste "Caudillo" gewesen sein, heute ist es Hugo Chávez, der populistische Präsident Venezuelas, der diesen Politiker-Typus wie kein Zweiter verkörpert. Der Ex-General Chávez finanziert mit den Gewinnen aus dem Öl-Export Sozialprogramme für die Armen und propagiert wortgewaltig eine "bolivarische Revolution", die den Kontinent in den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" führen soll.

An Chávez mögen sich die Geister scheiden. Doch er ist ein Symbol des neuen, selbstbewussten Lateinamerika - nach langer Abhängigkeit von ausländischen Mächten und einheimischen Diktatoren.

Héctor Pérez-Brignoli: "Was in den letzten 20 Jahren in Lateinamerika gewonnen hat, das ist die Demokratie. Das Neue ist, dass ist nun reguläre Wahlen gibt und keine Militärregime mehr. Auch ein Mann wie Chávez ist in völlig sauberen Wahlen mehrfach von den Venezolanern in seinem Amt bestätigt worden. Vor 20, 30 Jahren noch haben auf dem Kontinent Regierungen vorgeherrscht, die nach Staatsstreichen an die Macht gekommen waren."

Mit der Demokratisierung Lateinamerikas gelingt es allmählich auch den Indigenen, ihren Forderungen nach Mitbestimmung und Chancengleichheit Gehör zu verschaffen. 2005 wird mit dem Bolivianer Evo Morales der erste Indigene zum Präsidenten eines lateinamerikanischen Landes gewählt:

Stefan Rinke: "Das hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten, muss man sagen, geändert mit dem Aufstieg der neuen indigenen Bewegungen, die natürlich auch eigenständige politische Forderungen stellen und denen es gelungen ist, gerade im bolivianischen Fall, einen Mann aus ihren Reihen, in die Präsidentschaft zu bringen, was in der Tat auch ein historisches Datum darstellt, sicherlich von den Dimensionen her mindestens genauso ein Umbruch wie die Tatsache, dass Barack Obama als erster Afroamerikaner die US-amerikanischen Wahlen gewonnen hat."

Trotz der langsamen, wechselvollen Entwicklung in Lateinamerika: Der Historiker Stefan Rinke hält daran fest, die Unabhängigkeitskriege "revolutionär" zu nennen - selbst wenn die befreiten Sklaven, die Indios und Mestizen in den neu gegründeten Republiken von der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte noch lange weitgehend ausgeschlossen waren, und eine grundlegende Neugestaltung der Gesellschaft damals nicht stattgefunden hat.

Stefan Rinke: "Ein positiver Effekt ist natürlich auch die Tatsache, dass hier Republiken gegründet werden in den 'Amerikas' zu einem Zeitpunkt, als fast die ganze Welt eben noch unter mehr oder weniger aufgeklärten Monarchen in einer Phase der Reaktion sich befindet. Das ist sicherlich zukunftsweisend gewesen. Bei allen Problemen, gerade beim Umgang mit der indigenen Bevölkerung war doch eine Errungenschaft erhalten geblieben, und das war die Abschaffung der Sklaverei. Auch wenn sie in vielen Ländern erst schrittweise, teils auch mit Rückschritten durchgesetzt werden konnte, war doch diese Abschaffung der Sklaverei eine Errungenschaft, wo Lateinamerika ein welthistorischer Vorreiter war."
Wahlsieger in Venezuela: Hugo Chavez
Venezuelas Präsident Hugo Chavez© AP
Der bolivianische Präsident Evo Morales in La Paz
Der bolivianische Präsident Evo Morales in La Paz© AP