Beziehungspause mit China?

Taiwan steht vor der Wahl

13:26 Minuten
Arbeiter-Demonstration in Taiwan.
Arbeiter-Demonstration in Taiwan. © Deutschlandradio / Andre Zantow
Von André Zantow · 13.01.2016
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Rund 180 Kilometer vor dem chinesischen Festland hat sich eine lebendige Demokratie entwickelt. Erst seit 20 Jahren können die Bewohner von Taiwan den Präsidenten selbst bestimmen. Am 16. Januar wird erneut gewählt - der Regierungspartei droht eine Niederlage.
Warmrufen vor dem Start der jährlichen Arbeiter-Demonstration. Gut tausend Gewerkschaftsvertreter aus dem ganzen Land sind in die Hauptstadt Taipeh gekommen. Sie verwandeln die breite Straße vor dem Außenministerium in ein buntes Fahnenmeer. Knallgelb, rot, blau, grün – ob Schauspieler oder Fabrikarbeiter: Alle fordern ihre Rechte ein. Auch die Sozial-Demokraten halten ihre rosa Fahne hoch – in Taiwan sind sie eine kleine Oppositionspartei, die hofft, über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen und so ins Parlament. Die Sozialdemokration Wie Ting Shyu sagt:

"Ich denke, wir sind heute hier, weil die Regierung unsere Lage nicht versteht. Ihre Politik sollte unsere Probleme lösen. Das betrifft vor allem unsere jungen Menschen in Taiwan, deren Jobsituation ist sehr schlecht. Die Arbeitszeiten sind viel zu lang, das Gehalt sehr niedrig. Das ist schlecht, deshalb wollen wir erreichen, dass die Regierung weiß, dass die jetzigen Gesetze falsch sind. Wir hoffen, dass die Gesetze unseres Landes linker werden und nicht so stark von den Konservativen geprägt werden."
Offener Protest gegen die Regierungspartei – auf Taiwan - rund 180 Kilometer vor dem chinesischen Festland hat sich eine lebendige Demokratie entwickelt. Erst seit 20 Jahren können die Inselbewohner den Präsidenten selbst bestimmen. Zuvor herrschte jahrzehntelang allein die Kuomintang. Die mächtige Partei musste nach Protesten in den 1990er Jahren Reformen einleiten und schaffte es auch nach dem Übergang an der Macht zu bleiben. Aber jetzt bei den Wahlen am 16. Januar droht ihr erstmals der Verlust von Präsidentenamt und Parlamentsmehrheit. Für das Selbstverständnis der alten Kuomintang ein Albtraum. Beherrschte sie vor 80 Jahren doch noch das gesamte Festland-China – bis zum Bürgerkrieg mit den Kommunisten. Lu Ya-li, ein älterer Mann, sagt:
"Die Lage war damals nicht schlecht. Einige glaubten, dass die Kuomintang den Bürgerkrieg gewinnen würde. Aber viele unterschätzen die Kommunisten."
Die Flucht von zwei Millionen Zivilisten nach Taiwan
Der Chinesische Bürgerkrieg dauerte mehr als 20 Jahre bis 1949. Nach Millionen Toten ziehen sich die Nationalisten der Kuomintang-Regierung auf die östliche Insel Taiwan zurück, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr zu Japan, sondern zu China gehört. Dort setzt die Kuomintang ihre autoritäre Alleinherrschaft fort – und nennt ihr Gebiet weiterhin "Republik China". Sie will zeigen, dass sie die rechtmäßige Regierung bleibt und ihren Anspruch auf das Festland nicht aufgibt. Neben den Kuomintang-Anhängern fliehen rund zwei Millionen Zivilisten nach Taiwan. Auch die Familie von Lu Ya-li.
""Als Kind - 1947."
Elf Jahre war Lu Ya-li, als er erstmals taiwanischen Boden betrat. Er entwickelte sich zu einem der wichtigen Intellektuellen der Insel. Fast 30 Jahre lang hat er als Politikprofessor an der Kaderschmiede des Landes gelehrt: der National Taiwan University. Er hat Einschätzungen zu Taiwan für Medien weltweit geliefert und trotzdem fühlt sich der jetzt 79-Jährige noch immer nicht als Taiwaner.
"Ich bin Chinese. Ethnischer Chinese. Kultur und ethnische Abstammung sind für mich viel wichtiger als der politische Status. Aber das unterscheidet sich je nach Familie. Manche sehen sich auch als beides: Chinesisch und Taiwanisch. Und eine einige sehen sich auch nur als Taiwaner – das werden immer mehr – ihre Zahl steigt."
Der emeritierte Politik-Professor sitzt auf einer Bank – hier auf dem Campus seiner Universität. Studierende gehen oder fahren vorbei. Sie sind es, die Lu Ya-li meint. Vor allem die jüngeren im Land sehen sich nur als Taiwaner und brechen so mit den Vorstellungen ihrer Eltern und Großeltern. Die fühlen sich oft immer noch China zugehörig und setzen auf eine enge Partnerschaft mit der alten Heimat – so wie die noch regierende Kuomintang – kurz KMT.
Zeitung in Taiwan mit den drei Präsidentsanwärtern und ihren Vizekandidaten.
Zeitung in Taiwan mit den drei Präsidentsanwärtern und ihren Vizekandidaten.© Deutschlandradio / Andre Zantow
"Natürlich hat die KMT das bessere Verständnis im Umgang mit China. Ganz im Gegensatz zur anderen großen Partei – der DPP. Die hat einen Partei-Flügel, der die vollständige Unabhängigkeit will. Aber das wird China nie akzeptieren. Das weiß auch die Führung der DPP und deshalb wird sie auch nach einem Wahlsieg die Beziehungen zu China weiterführen. China ist militärisch, wirtschaftlich und politisch einfach zu stark. Jedes Kind weiß das."
Die kommunistische Partei Chinas sieht Taiwan als abtrünnige Provinz an und nicht als souveränen Staat. Pekings Sichtweise haben alle Industriestaaten übernommen, genauso wie die Vereinten Nationen und die Europäische Union. Sie alle befürworten die sogenannte Ein-China-Politik.
Nur 22 kleine Länder erkennen Taiwan an
Nur 22 kleine Länder auf der Welt sind ausgeschert und erkennen Taiwan an – in Europa tut dies nur der Vatikan. Diese diplomatische Randstellung engt den Spielraum der taiwanischen Regierung stark ein. Notwendige Handelsverträge zum Beispiel mit der EU kommen aufgrund des chinesischen Drucks nicht zustande. Wir brauchen mehr Unabhängigkeit und neue Partner in der Region, proklamiert deshalb die zweite große Volkspartei des Landes.
"Willkommen im Hauptquartier der DPP – der Democratic Progressive Party."
Huang Chih-Fang begrüßt in einem schmucklosen, leer wirkenden Raum, der mehr als Nachsitz-Zimmer einer Schule passt, als zur Zentrale der wohl künftigen Regierungspartei. Die DPP will zum zweiten Mal das Präsidentenamt erobern. In der ersten Periode von 2000 bis 2008 war Huang Chih-Fang für zwei Jahre taiwanischer Außenminister. Jetzt bemüht sich der Oppositionspolitiker schnell heimische Themen anzusprechen.
"Bei einer Umfrage meiner Partei zu den wichtigsten Themen für die Wähler kam überraschenderweise heraus – an Nummer eins: die Lebensmittelsicherheit. Weil wir in den letzten drei Jahren einige Lebensmittelskandale in Taiwan hatten. An Nummer zwei: die hohen Staatsschulden - ähnlich wie in den EU-Ländern. Vor allem die junge Generation ist besorgt, weil sie sich fragt, wie sie das künftig bezahlen soll. Und an Nummer drei: die Reallöhne. Die stagnieren seit 18 Jahren. Das beunruhigt viele, weil die Preise von Immobilien in den Städten im gleichen Zeitraum extrem angestiegen sind. Junge Leute können inzwischen mit ihren Gehältern eine Wohnung nicht in ihrem ganzen Leben abbezahlen.”
Viele junge Talente wandern aus Taiwan ab
Und so wandern viele junge Talente des Landes ab – nach Singapur oder Hongkong, erklärt der DPP-Politiker. Hier müsse sich etwas tun. Wenig Handlungsdruck sieht Huang Chih-Fang dagegen bei der China-Politik. Der Umgang mit dem Nachbarn auf der anderen Seite der Taiwan-Straße – dieser 180 Kilometer breiten Meerenge – sei für die Wähler nicht so wichtig, weil seine Präsidentschaftskandidatin Tsai Ing-wen sich klar festgelegt hätte. Der "Status quo" gegenüber China soll erhalten bleiben.
"Laut unseren Umfragen wollen 70 Prozent den gegenwärtigen Status beibehalten. Tsai Ing-wen liegt also mit ihrer Politik genau auf Linie der Mehrheit. Zwar spricht auch die KMT vom "Status quo”. Aber für Tsai Ing-wen bedeutet das: Friedliche und stabile Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwan-Straße, um die demokratische und freie Lebensweise in Taiwan erhalten."
Freiheit und Demokratie könnten mit zu großer Nähe zu China verloren gehen, befürchtet der DPP-Politiker. Eine Angst, die der politische Gegner von der Kuomintang nicht teilen kann. Für ihn bleibt China der mit großem Abstand wichtigste Wirtschaftspartner. Deshalb gehe es den Taiwanern besser, wenn die Zusammenarbeit vertieft wird, schlussfolgert Eric Huang von der noch regierenden Kuomintang.
"In Taiwan sind die Beziehungen zu China sehr wichtig. Denn die Mehrheit der Wähler legt bei ihrer Entscheidung vor allem Wert auf eine stabile Wirtschaft. Und weil Taiwans Wirtschaft eng mit China verknüpft ist, braucht es Stabilität in unseren Beziehungen. Und das können wir bieten."
Symbolisches Treffen der Regierungen im Jahr 2015
Die Kuomintang verspricht Stabilität und "Status quo" – genauso wie die Oppositionspartei DPP. Der Unterschied liegt allein in der Umsetzung, sagt Eric Huang:
"Für uns bedeutet der "Status quo” mit China genau das, was wir die letzten sieben Jahre in Regierungsverantwortung getan haben: Unsere Wirtschaftsbeziehungen weiter ausarbeiten, außerdem kulturellen und geschäftlichen Austausch. Und das ist alles möglich durch unseren Konsens von 1992. Genauso wie das historische Treffen zwischen den Führern beider Seiten - Präsident Ma und Präsident Xi. Und das wollen wir weiterführen."
Erstmals haben sich die Staatsoberhäupter der "Republik China" – also Taiwan und der "Volksrepublik China" im November 2015 in Singapur getroffen. Grundlage dieser symbolische Annäherung ist der Konsens zwischen den beiden Parteien von 1992. Damals hatten sich die Kuomintang und die Kommunisten geeinigt, dass es nur ein China gibt, aber beide diesen Anspruch für sich erheben dürfen.
So konnten die beiden Chinas ihr Selbstbild bewahren und die Kooperation mit dem Gegner trotzdem vorantreiben. Das bedeutet für die Menschen, dass es inzwischen Direktflüge gibt zwischen China und Taiwan gibt. Touristengruppen vom Festland dürfen zahlreich auf die Insel strömen. Insgesamt 22 Abkommen hat die Kuomintang mit Peking in der aktuellen Regierungszeit abgeschlossen. An einem jedoch entfachte sich großer Protest: Am Dienstleistungsabkommen.
Medien weltweit berichten im Frühjahr 2014 aus Taiwan, als bis zu 500.000 Menschen auf die Straße gehen, um gegen den Vertrag mit China zu demonstrieren. Der erlaubt es Dienstleistungsfirmen im jeweils anderen Land Geschäfte zu machen. Darüber wurde zu wenig debattiert, klagen als erstes Studenten und besetzen das Parlament in Taipeh. Auch die jetzt 24-jährige June Lin war dabei.
"Am ersten Tag war ich nicht drin. Aber meine Freundin war drin, ich hatte Angst, dass sie nichts zu essen hat oder von der Polizei geschlagen wird – also bin ich am dritten Tag auch reingegangen."
Kampf um Demokratie im Zeichen der Sonnenblume
Rund drei Wochen lang besetzen die Studenten das Parlament und erhalten währenddessen Unterstützung aus dem ganzen Land – in Form von Essen, Getränken und immer wieder Sonnenblumen. So erhält die Bewegung ihren Namen. Sie ist ein Sammelbecken vieler Unzufriedener, die ein Thema vereint. June Lin warnt:
"Die Gefahr dieses Dienstleistungsabkommens ist, dass unsere Regierung uns vorspielt, dass damit alle Probleme unserer Wirtschaft gelöst wären. Aber das ist falsch. Im Gegenteil: Mehr Abhängigkeit von China könnte für die Taiwaner großen Schaden bedeuten. Aber unsere Regierung sagt nur, dass wir zurück fallen ohne das Abkommen, hinter Länder wie Südkorea. Diese falschen Botschaften sollen den Menschen Angst machen. Aber die Leute verdienen wirklich ehrliche Erklärungen zu solchen Abkommen."
Das Dienstleistungsabkommen mit China liegt durch den Protest der Sonnenblumen-Bewegung vorerst auf Eis. Nach der Wahl soll es wieder neu diskutiert werden. Dass ein Regierungswechsel zur DPP etwas ändert, glaubt die Studierende nicht.
"Ich sehe kein Zeichen, dass die DPP das Dienstleistungsabkommen stoppen will. Ich glaube auch nicht, dass die DPP noch für die Unabhängigkeit von Taiwan ist. Oder dafür die Gespräch zu stoppen, bis China keine Raketen mehr auf uns richtet. An diesem Punkt ist die DPP nicht. Sie wollen auch mit China sprechen und verhandeln – nur anders als die Kuomintang."
June Lin hat wenig Vertrauen in die beiden großen Parteien. Wohl auch deshalb hat sie selbst eine kleine politische Gruppe gegründet nach dem Ende der Sonnenblumen-Bewegung - mit einigen Mitstreitern. Sie kämpfen für Demokratie im Land – eine Errungenschaft, die sich die neue Generation in Taiwan nicht mehr nehmen lässt.
Weitere Infos:

Zum Nachhören: Ein Gespräch mit dem Autor André Zantow über den bunten Wahlkampf in Taiwan

Die Recherche des Autoren wurde im Rahmen einer Reise des gemeinnützigen Vereins "journalists.network" realisiert, gefördert von der Robert Bosch Stiftung, der Taipeh Vertretung und Evonik.

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