Betrug in der Wissenschaft

Tricksen, täuschen, fabulieren

Eine Labormitarbeiterin untersucht in Dassow (Mecklenburg-Vorpommern) bei der Firma Euroimmun bei einem Immunfluorenztest eine Probe mit Antikörpern. Für den Nachweis des Zika-Virus setzt Brasilien Diagnosetechnik ein, die in Nordwestmecklenburg produziert wird.
In der Forschung geht alles mit rechten Dingen zu - oder etwa nicht? © picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt
Von Susanne Billig und Petra Geist · 25.02.2016
Das Vertrauen in die akademische Forschung basiert auf einem Versprechen: Forscherinnen und Forscher garantieren wissenschaftlich höchste Standards und Seriosität. Doch ob Plagiate, manipulierte Daten oder erfundene Experimente – immer wieder erschüttern Skandale die Öffentlichkeit.
(Nachrichten-Ticker) Stammzellenforscherin überführt: Abbildungen manipuliert – Physiker fälscht hunderte von Studien – Minister: Doktorarbeit ein Plagiat – Archäologe bringt Funde selbst zur Ausgrabungsstätte.
Manfred James Müller: "Wissenschaftler schaffen Wissen, sie tun dies durch unabhängige Forschung, vollständige Transparenz ihrer Arbeit und in gegenseitiger Kritik."
Gerhard Fröhlich: "Ich darf nicht Ergebnisse verbiegen, weil es meiner Karriere besser täte. Ich darf nicht Ergebnisse verbiegen, weil das meinen Auftraggeber freuen würde, etwa einen Pharmakonzern. Sondern: Was rauskommt, kommt raus."
Der ethische Anspruch ist hoch: Neutral und wertfrei sollen sich Forscherin und Forscher dem Untersuchungsgegenstand nähern, sachlich und frei von persönlichen Begehrlichkeiten, nur von der Suche nach Wahrheit inspiriert. Fälschung und Betrug treffen die hoch vernetzte, moderne Forschung hart, denn jedes Ergebnis muss als Fundament des nächsten dienen. Wissenschaftler, die fälschen und verschweigen, produzieren ratlose Kolleginnen und Kollegen, deren Ideen nicht funktionieren.
Manfred James Müller: "Für einen Wissenschaftler ist es eine absolute Katastrophe. Und für den Fall, dass ein Fehlverhalten sich aufdecken lässt, würde das bedeuten, dass also die Basis unseres Miteinanders hier schwer geschädigt ist. Dass wir auch einen schweren Vertrauensverlust untereinander zunächst verarbeiten müssen – und auch damit zurückgeworfen werden in unserer wissenschaftlichen Arbeit. Also, eine ganz schlimme Situation, die dort entsteht."
Der Mediziner und Psychologe Professor Manfred James Müller von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Er ist Sprecher des Kompetenz-Netzwerks Adipositas und kam im Kollegenkreis hautnah mit Datenfälschung in Berührung. Seitdem engagiert er sich dafür, Wissenschaftsbetrug offen zu thematisieren. In der naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung ist Fehlverhalten besonders brisant, weil Forschungsdaten rasch in technische Anwendungen münden. Das kann eine Brücke sein, über die täglich tausende von Menschen pendeln. Oder ein Patient, der ein neues Therapieverfahren erhält.
(Nachrichten-Ticker) Anfang 2006 musste der norwegische Krebsforscher Jon Sudbø zugeben, dass er mehrere hundert Patientendaten von Mundkrebskranken frei erfunden hatte. Die angesehene Fachzeitschrift "The Lancet" hatte seine Studie veröffentlicht. Danach konnten Raucher ihr Risiko für Mundkrebs angeblich um die Hälfte senken, wenn sie über einen längeren Zeitraum das Medikament Paracetamol einnahmen.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG, die Max-Planck-Gesellschaft und zahlreiche Forschungseinrichtungen haben schriftliche Richtlinien zur guten wissenschaftlichen Praxis formuliert. Für viele Einzelfälle sind diese Regeln zu vage formuliert, aber im Prinzip lässt sich nachlesen, wo die Grenze zum wissenschaftlichen Fehlverhalten verläuft.
Gerhard Fröhlich: "Also wenn bewusst oder grob fahrlässig Falschangaben gemacht werden, zum Beispiel, dass ich behaupte, ich hätte eine Forschung durchgeführt, eine Studie – und in Wahrheit habe ich alle Daten erfunden."
Professor Gerhard Fröhlich von der Johannes Kepler Universität im österreichischen Linz ist international angesehener Experte für Kommunikation und Fehlverhalten in der Wissenschaft:
"Das zweite ist natürlich Plagiate, dass ich als Gutachter zum Beispiel die Forschungsanträge, die mir vorgelegt werden, plündere. Auch wenn ich Daten verfälsche, das heißt, es kam nicht das raus, was für meine Karriere oder für meinen Auftraggeber sehr schön gewesen wär, und halt ein paar Todesfälle weglasse oder einfach ein paar Stichproben vergesse, die ich gemacht habe; also das Verfälschen von Daten – wozu auch das Manipulieren von Bildern gehört. Wissenschaftler simulieren ganze Datensätze im Computer oder bezahlen Ghostwriter für ihre Promotionen. Frei erfundene Fußnoten täuschen Belege vor, die nicht existieren. Sogar Sabotage gibt es: Dann ruinieren Forscher die Untersuchungen konkurrierender Kollegen oder lassen deren Aufzeichnungen verschwinden. Alles das sind tabu-behaftete Themen, und sie werden umso unangenehmer, je näher sie an die einzelne Hochschule oder in den persönlichen Kollegenkreis rücken."

Totalfälschung eines Stammzellenforschers

(Nachrichten-Ticker) Der Koreaner Hwang Woo Suk ist der Star der internationalen Stammzellforschung. 2005 fliegt er nach anonymen Hinweisen auf – seine Arbeit ist eine Totalfälschung. Im Fachmagazin Science hatte er behauptet, zum ersten Mal einen menschlichen Embryo geklont und daraus Stammzellen gewonnen zu haben. Außerdem gab er vor, passgenaue Stammzellen für die Erforschung von Alzheimer und Diabetes gezüchtet zu haben.
Die Erforschung des Wissenschaftsbetrugs steckt noch in den Kinderschuhen. Nur wenige Untersuchungen gibt es bislang, vor allem aus dem englischsprachigen Raum. Erstes Licht ins Dunkel der deutschen Forschungslandschaft bringt das Projekt "Beschämte Wissenschaft", vom Bundesforschungsministerium auf drei Jahre finanziert. Die Soziologin und Kunsthistorikerin Felicitas Heßelmann gehört als Wissenschaftliche Mitarbeiterin zu dem vierköpfigen Team. Auch sie kann nicht sagen, wie oft Betrug in der deutschen Forschung passiert:
"Anhand der Datenlage im Moment kann man das nicht sagen. Was man auf jeden Fall sagen kann, ist, dass die Aufmerksamkeit sehr unterschiedlich verteilt ist, beziehungsweise dass die einzelnen Fachbereiche, Disziplinen, sehr unterschiedlich viele bekannt gewordene Fälle haben."
Falsche Angaben in der Germanistik oder Kunstgeschichte bringen Menschen nicht direkt zu Schaden, deshalb richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit eher auf medizinische und naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse. Die lassen sich außerdem in Datenbanken leichter recherchieren und ihre Betrugsarten fallen eher auf, zum Beispiel, weil ihre Publikationen mit vielen Abbildungen arbeiten.
Felicitas Heßelmann: "Man kann diese Abbildung nebeneinander legen und sagen: Ach, guck mal, das sollen zwei unterschiedliche Experimente sein, aber das sieht total gleich aus."
Das bestätigt auch der Fälschungsexperte Gerhard Fröhlich: "Also es gibt Gebiete, da kann man eindeutig beweisen, der Mann hat gefälscht, zum Beispiel Krebsforscher, die haben Untersuchungen gefälscht, bevor sie überhaupt die Geräte gekauft haben, die sie für die Untersuchung brauchen. Das war dann ein wunderbarer Beleg dafür, dass sie das gar nicht gemacht haben können. Während in unserer Branche, Sozialwissenschaften und so weiter – mein Gott, da können Sie also nichts beweisen! 'Die Fragebogen sind verloren gegangenen und dies und das' – und das war's."
(Nachrichten-Ticker) 1997 erschütterte einer der größten Fälschungsskandale die deutsche Wissenschaft. Der Freiburger Krebsforscher Friedhelm Herrmann und sein Team hatten 94 wissenschaftliche Arbeiten mit teils gestohlenen, teils gefälschten Daten veröffentlicht. Der Betrug flog auf, als ein Mitarbeiter einen Außenstehenden um Hilfe bat.

Was genau ist denn Fehlverhalten?

Ein seltener Einzelfall? Die Spitze eines Eisbergs? Niemand weiß es. Derzeit kursieren verschiedene Zahlen über wissenschaftliches Fehlverhalten, die sich zu keinem Gesamtbild fügen. So betreut das Ombudsgremium der DFG pro Jahr nur wenige Dutzend Fälle. Studien aus den USA sprechen mal von einem Drittel fälschender Forscher, mal von 99 Prozent Betrugsfällen, die auf Betreiben der Forschungsinstitute nicht an das zuständige Regierungsbüro gemeldet werden, mal von einem Anstieg der Fälschungen in den Lebenswissenschaften seit 1975 um das Zehnfache.
Felicitas Heßelmann ist skeptisch, denn die Studien lassen sich alle nicht vergleichen. Außerdem befassen sie sich meist mit den ans Licht gekommenen Fällen. Dagegen gibt es so gut wie keine so genannten "Dunkelfeld"-Analysen, die ausloten, wie viele Fälle in den einzelnen Disziplinen unter den Teppich gekehrt werden können:
"Bei wissenschaftlichem Fehlverhalten spielt wieder das Problem mit rein, dass Fehlverhalten halt nicht so genau definiert ist. Und dass vielleicht unterschiedliche Wissenschaftler ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wo ist jetzt die Grenze. Und wenn man jetzt hingeht und fragt: Haben Sie in den letzten zehn Jahren unangemessen Daten verändert? Und dann sagt der eine Ja und der andere Nein, weil sie eben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was bedeutet jetzt unangemessen – auch wenn sie eigentlich genau dieselbe Sache gemacht haben."
Einen Verdacht zu haben, reicht in einem Rechtsstaat nicht aus. Ihn zu erhärten, kann bei jahrelangen Manipulationen extrem aufwendig sein. Im Fall Friedhelm Herrmann setzte die DFG eine dreiköpfige Taskforce ein, die ein Jahr nichts anderes tat, als Abbildungen zu analysieren.
Gerhard Fröhlich: "Ich höre immer wieder, dass bei vielen Skandalen sich niemand findet, der da Gutachter spielt, weil man muss sich quasi in den Sumpf anderer Leute einarbeiten. Man lernt eigentlich auch nichts dabei, weil ich will ja gar nicht lernen, wie man fälscht. Und ich weiß nicht, wie viele potentielle Affären und Fälle tatsächlich ordentlich aufgearbeitet worden sind."
Angst vor Karriereknick und Arbeitsplatzverlust, falsch verstandene Solidarität, die Befürchtung, als Denunziant zu gelten – Wissenschaftler zeigen einander extrem selten an. Entschließt sich doch jemand, einen Betrugsverdacht zu melden, so stehen Ombudsleute heute nicht nur bei der DFG, sondern an vielen Forschungseinrichtungen als Ansprechpartner zur Verfügung. Sie haben eine schwierige Aufgabe, arbeiten ehrenamtlich und müssen sich in die wissenschaftlichen Gebräuche der verschiedensten Fachgebiete einlesen. Dazu kommt, dass sich jede Hochschule im föderalen Bildungssystem eigene Richtlinien geben kann.
Sanktionen erwachsen aus diesem System selten. Meist kommen überführte Fälscher mit einer Ermahnung unter vier Augen davon. In seltenen Ausnahmefällen dürfen sie bei der DFG für einige Jahre keinen Förderantrag mehr stellen. Kündigung und der Entzug der Lehrbefugnis oder des akademischen Grades stehen zwar auf den Richtlinienpapieren, kommt aber fast nie zum Einsatz. Formal bindend sind die Schiedssprüche der Ombudsleute ohnehin nicht – und auch vor Gericht müssen fälschende Forscher selten mit empfindlichen Strafen rechnen.

Aufklärung durch Whistleblower

(Nachrichten-Ticker) Um ein Exempel zu statuieren, zog die Deutsche Forschungsgemeinschaft gegen den Krebsforscher Friedhelm Herrmann und seinen Massenbetrug vor Gericht. Doch das Verfahren wurde gegen eine Zahlung von 8.000 Euro eingestellt. Friedhelm Herrmann behielt seinen Professorentitel und eröffnete in München eine Praxis als Onkologe.
Die Richtlinien der DFG und das Ombudssystem haben bereits mehr Transparenz in Deutschland geschaffen. Weitergehende Maßnahmen lehnt der Deutsche Hochschulverband ab. Es gäbe die Idee, eine zentrale Agentur für wissenschaftliche Integrität einzurichten, wie in Österreich – jenseits der Selbstkontrolle der Wissenschaften. Man könnte eine solche Agentur sogar mit echter Sanktionskraft ausstatten, wie in den USA und Dänemark. Doch die Forschungsinstitutionen möchten die Fäden in der Hand behalten und lieber ihre Ombudsleute besser trainieren. Derweil sind es anonyme Whistleblower, die die Aufklärung der meisten großen Betrugsfälle ins Rollen bringen. Ihre Hinweise können entscheidend sein.
(Nachrichten-Ticker) Der österreichische Physiker Jan Hendrik Schön forschte mit einem beeindruckenden Output. Allein im Jahr 2001 publizierte er alle acht Tage einen Fachartikel, häufig in den hochangesehenen Zeitschriften Nature und Science. Das Max-Planck-Institut für Festkörperforschung wollte ihn zum jüngsten Direktor berufen. Ein anonymer Whistleblower brachte 2002 ans Licht, dass der Physiker identische Messreihen zu völlig verschiedenen Experimenten veröffentlicht und teils per Simulation am Computer erzeugt hatte. Zu einer Verurteilung im Sinne des Strafrechts kam es nicht.
Ombudsleute wissen aber auch: Hinter einer Whistleblower-Meldung können heftige persönliche Konflikte stehen. Dann lässt sich schwer herausfinden, sagt die Soziologin Felicitas Heßelmann, was tatsächlich vorgefallen ist. Entsprechend zögerlich und unterschiedlich gehen die wissenschaftlichen Institutionen mit ihren Whistleblowern um:
"Einige sagen, also anonyme Vorwürfe gucken sie sich gar nicht an, weil sie das moralisch verwerflich finden oder weil sie denken, das ist nicht substantiiert, wenn die Leute nicht mit dem Namen dahinter stehen wollen. Es gibt aber auch die andere Seite, die sagt, anonyme Vorwürfe sind oft ganz wichtige Hinweise, so dass zum Beispiel bei der einen Universität viel, viel mehr Verfahren anfallen als bei der anderen Universität, weil eben eine ganze Gruppe von Vorwürfen und Anschuldigungen bei der einen Universität einfach direkt ausgeschlossen wird."

Publizieren oder untergehen

Whistleblower stehen schnell in dem Verdacht, persönliche Ziele zu verfolgen – was aber steckt dahinter, wenn Forscher betrügen? Im Einzelfall spielen Geltungsdrang, übermäßiger Ehrgeiz, auch Unkenntnis über das saubere wissenschaftliche Arbeiten eine Rolle. Doch die Hauptursachen liegen tiefer. Sie berühren den Kern des heutigen Wissenschaftsbetriebes, der zunehmend von prekären Arbeitsverhältnissen, steilen Hierarchien und Konkurrenzkampf geprägt ist. Es gilt das "publish or perish" – publiziere oder gehe unter. Zum Beispiel in den Ernährungswissenschaften, wo der jährliche Output der Wissenschaftler nicht selten bei 50 Publikationen liegt. Der Ernährungsmediziner Manfred James Müller:
"Mein Doktorvater hat gesagt, ein guter Assistent publiziert zwei Artikel pro Jahr. Ich kann nicht einfach mich hinsetzen und übermorgen ist die Arbeit fertig und dann reiche ich sie ein, sondern das sind Prozesse, die lange Diskussionen, begleitende Diskussionen innehaben, auch Diskussionen mit den Koautoren. Die ziehen sich über Monate hin. Wenn ich das 50 Mal im Jahr mache, dann muss ich parallel irgendwie arbeiten – und komme sicherlich unter erheblichen Druck."
Unsichere Zeitverträge. Permanente Konkurrenz. Häufig auch schlecht betreut. Und dann Höchstleistungen bringen. Diese Mischung lässt die gute wissenschaftliche Praxis auf subtile Weise erodieren.
Manfred James Müller: "Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass die Zeit nicht reicht, um ein Ergebnis, einen Versuch vielleicht noch mal zu wiederholen. Könnte bedeuten, dass ich unter den Druck komme, jetzt bestimmte Daten zu ergänzen und vielleicht auch anders zu interpretieren. Könnte auch bedeuten, dass ich bestimmte Daten weglasse aus den Datensätzen, weil sie vielleicht die Idee, die ich dann entwickelt habe, vielleicht nicht so gut unterstützen, wie die Daten, die ich dann publiziere."
Gerhard Fröhlich: "Und es ist auch nicht sinnvoll, dass all diese Leute auf Schleudersitzen sitzen und vielleicht erst mit 45, 50 Sicherheit haben – in der Regel ist Sicherheit, dass sie nie im System landen werden. Und dass dann manche versuchen, hier ein bisschen nachzuhelfen mit allen Mitteln, das wundert mich überhaupt nicht."
Der österreichische Wissenschaftsforscher Gerhard Fröhlich nennt es das "quantitative Prinzip" – schneller, höher, weiter – das auf fatale Weise überhand genommen habe. Erfolgreiche Forschung war immer auch eine Geschichte des vorsichtigen Tastens und der langen Umwege. Dieses Wissen sei verloren gegangen. In manchen Forschungszweigen, vor allem der Biomedizin, rotieren ungleich mehr Gelder als noch vor 20 Jahren, gleichzeitig ist die Konkurrenz darum härter denn je:
"Möglichst viele Promovierte, möglichst viele Gelder eintreiben, möglichst viele Publikationen: Solange ich diese Idee, dass man Wissenschaft wie Sport betreiben kann, nicht über Bord werfe, werden immer die Trickser, die Impression-Management-Experten sich durchsetzen, während die anderen als graue Mäuse, als Loser dargestellt werden."
60.000 naturwissenschaftliche und medizinische Journale weltweit publizieren rund 20.000 wissenschaftliche Artikel – jeden einzelnen Tag. Um die Güte einer eingereichten Arbeit zu bewerten, setzen viele Magazine Gutachter ein, Spezialisten aus demselben Fachgebiet. Sie sollen nicht unbedingt Betrug aufdecken, sondern in kollegialem Vertrauen prüfen, ob ein Manuskript handwerklich in Ordnung, innovativ und schlüssig ist.
Gerhard Fröhlich: "Also erstens muss ich sagen, ist Gutachter spielen, und das tue ich ja auch seit Jahrzehnten, ein äußerst unangenehmer Job. Es ist ehrenamtlich, das heißt, das Gutachterwesen ist völlig überlastet, überstrapaziert. Ich kenne Kolleginnen und Kollegen, etwa aus der Physik, die sagen: Wenn ich nicht ständig ablehnen würde, dann würde ich pro Woche drei, vier, fünf Gutachten schreiben."
Grundsätzlich steht die wissenschaftliche Gemeinde dem Gutachterverfahren positiv gegenüber. Doch es werden auch Zweifel laut. Vor allem die gebotene Neutralität gestaltet sich schwierig in einer Wissenschaftslandschaft voller Netzwerke und Kooperationen.
Manfred James Müller: "Wenn ich heute oder morgen einen Wissenschaftler begutachte, der jetzt in München arbeitet, und ich weiß ganz genau, dass dieser Wissenschaftler in drei oder sechs Monaten mich begutachten wird – dann bin ich befangen. Das ist so, da ist keine Unabhängigkeit gegeben."
(Nachrichten-Ticker) 2014 zog das "Journal of Vibration and Control" auf einen Schlag 60 Studien zu den Themen Robotersteuerung, neuronale Netzwerke und Medizintechnik zurück. Ihr taiwanesischer Autor Peter Chen soll die Begutachtung der Studien mit Hilfe von Kollegen der eigenen Universität manipuliert haben.
Seit den 1980er-Jahren hat sich in allen wissenschaftlichen Disziplinen eingebürgert, dass Zeitschriften fehlerhafte Fachaufsätze wieder zurückziehen. Sie gelten dann als ungültig.
Manfred James Müller: "In der Zwischenzeit ist aber diese Veröffentlichung dreihundert-, vierhundert-, fünfhundertmal zitiert worden. Sie ist also schon in die wissenschaftlichen Ergebnisse anderer Autoren eingegangen. Und das ist natürlich eine Vorstellung, die also mir sehr viel Kopfschmerzen bereitet."
Meist erscheint dann eine lapidare Meldung, der Forscher habe einen "Irrtum" in seinen Daten entdeckt oder eine Versuchsreihe nicht reproduzieren können.

Plagiat, Fälschung oder Aufguss

Das Thema der zurückgezogenen Artikel wird in der Wissenschaft heiß diskutiert. 2012 nahmen ein US-Biologe und sein Team gut 2.000 Publikationen aus der Biomedizin unter die Lupe, die seit 1973 zurückgezogen worden waren. Das Ergebnis: Hochrangige Magazine müssen besonders häufig zurückziehen. Und: Vier Fünftel der Facharbeiten waren gar nicht wegen Fehlern und Irrtümern aus dem Verkehr gezogen worden, sondern wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens: Plagiat. Fälschung, Aufguss alter Forschungsdaten und in 43 Prozent der Fälle: Handfester Betrug. Das klingt und ist gravierend, allerdings standen den 2.000 zurückgezogenen Fachaufsätzen 25 Millionen Gesamtveröffentlichungen in demselben Zeitraum gegenüber.
Felicitas Heßelmann: "Trotzdem zeigt das vielleicht einfach noch mal ein anderes Problem, nämlich dass eigentlich der Schaden, der durch Fehlverhalten entsteht, dieser enorme Vertrauensverlust ist in die Wissenschaft."
Selbst wenn ein Betrug für die Welt der Forschung gar nicht so relevant ist, kann der Vertrauensverlust schwer wiegen, wenn zum Beispiel ein hoher Politiker als Plagiator überführt wird.
(Nachrichten-Ticker) Freiherr von und zu Guttenberg, Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester...
Unter den Stichworten "Open Science" und "Open Access" treten inzwischen eine Reihe von Internet-Plattformen an, um es besser zu machen. So fühlt das Internetportal "Retraction Watch" zurückgezogenen Artikeln auf den Zahn, ob dahinter nicht doch eine Fälschung steht. Andere Plattformen schaffen Transparenz durch frei zugängliche Dokumentationen. Bei "arXiv" können Forscherinnen und Forscher ihre Ergebnisse direkt präsentieren und sich einer öffentlichen Debatte stellen. "VroniPlag" untersucht deutsche Dissertationen auf geklaute Passagen. Und "PubPeer" bietet allen ein Forum, die auf die Schwächen publizierter Aufsätze hinweisen möchten – manchmal mit echten Konsequenzen.
(Nachrichten-Ticker) 2012 musste die renommierte Zeitschrift "Cell" eine viel beachtete Studie des US-Klonforschers Shoukhrat Mitalipov korrigieren. Die Nutzerinnen und Nutzer von PubPeer hatten Schlampereien entdeckt.
Felicitas Heßelmann: "Das ist auch sehr umstritten, diese Plattformen, aber diese Plattformen erfahren sehr, sehr viel Zulauf. Und was man daraus vielleicht sehen kann ist, dass im Moment schon noch ein Bedarf besteht, irgendwie noch andere Wege zu finden, um solche Verdachtsfälle zu äußern und zu veröffentlichen. Dass im Moment eben so ein Bedarf besteht, der einfach nicht gedeckt wird vom System."
Die derzeit größte Bedrohung der wissenschaftlichen Integrität aber sind gar nicht spektakuläre Fälschungen – es ist die schleichende und massive Aushöhlung wissenschaftlicher Standards. Ein erhebliches Problem liegt darin, dass sich Zeitschriften, aber auch Vorgesetzte und Berufungskommissionen fast nur für so genannte positive Ergebnisse interessieren – die bahnbrechende Neuentdeckung, die Hypothese, die sich bestätigt, den heißen wissenschaftlichen Trend. Das treibt Forscher dazu, ihre Daten zu schönen – und es verzerrt die Realität. So überschätzt die Medizin nachweislich die Wirksamkeit von Therapien, weil Studien, die zeigen, dass etwas nicht hilft oder nicht wirksam ist, nicht erscheinen.

Wissenschaftlicher Nonsens

In der Grauzone der Forschung gärt dazu ein noch viel größeres Problem. Im Januar 2016 veröffentlichte Professor Ulrich Dirnagl eine Untersuchung mit dem griffigen Titel "Sag mir, wo die Mäuse sind", die internationales Aufsehen erregte. Der Leiter des Charité-Centrums für Schlaganfallforschung in Berlin hatte zusammen mit seinem Team hunderte wissenschaftlicher Publikationen aus der Grundlagenforschung zu Schlaganfall und Krebs unter die Lupe genommen. Dabei interessierte die Forscher besonders der so genannte "flow of animals".
Ulrich Dirnagl: "Das heißt letztlich nichts anderes, als dass man in eine Arbeit hineingeht und guckt: Schreiben die Autoren, wie viele Tiere sie überhaupt untersucht haben? Finden wir diese Tiere dann in der Auswertung dort, wo sie die Ergebnisse präsentieren, in dieser Anzahl wieder? Und wenn wir sie nicht in dieser Anzahl wiederfinden: Sind die Gründe angegeben?"
Doch all diese Informationen fehlten in den Publikationen. Die Texte ließen auch fast nie erkennen, wie viele Tiere die Forscher für ihren Versuch genau benutzt haben und wie viele nachher in die statistische Analyse eingingen – wissenschaftlicher Nonsens. Dazu kommt, dass fast die gesamte medizinische Grundlagenforschung in diesem Bereich offenbar mit extrem wenigen Tieren durchgeführt wird, meist nur mit einer Handvoll Mäusen. Was bedeutet es dann für die statistische Tragfähigkeit einer Studie, wenn ein, zwei Tiere einfach aus dem Studienverlauf verschwinden? Ulrich Dirnagel und sein Teamhaben zehntausende von Experimenten im Computer simuliert.
Ulrich Dirnagl: "Wir waren auch überrascht zu sehen, dass bei so niedrigen Zahlen, wenn Sie auch nur ein Tier rausnehmen, Sie aus einer Studie, die ein neutrales Ergebnis hat, eine sehr, sehr positive machen können. Oder aus einer Studie, die neutral wäre, ein negatives Ergebnis – und so weiter."
Das heißt nichts anderes als: Die Aussagekraft der meisten präklinischen Grundlagenstudien zu Schlaganfall und Krebs ist statistisch nicht belastbar und täuscht Effekte vor, die es nicht gibt. In der Fachwelt hat Ulrich Dirnagls Untersuchung eingeschlagen wie eine Bombe. "Nature“ brachte darüber einen ganzseitigen Artikel – danach griffen hunderte von Zeitschriften weltweit das Thema auf.
Ulrich Dirnagl: "Ich bin die letzten paar Tage eigentlich nicht mehr zum Arbeiten gekommen in dieser Sache, weil ich hauptsächlich Interviews gegeben hab, und ich muss ehrlich gesagt hoffen, dass es sich etwas beruhigt, weil ich muss wieder was arbeiten."
Der Wunsch, sich mit der Güte medizinischer Grundlagenforschung zu befassen, entsprang bei Ulrich Dirnagl seiner Unzufriedenheit damit, dass mit den Mäusen im Labor so viele Therapieideen gegen Schlaganfall zu funktionieren scheinen – beim Menschen im Krankenhaus aber nicht. Die wissenschaftlichen Studien haben ein so genanntes "Replikationsproblem".
Ulrich Dirnagl: "Dass wir einfach vermehrt merken, also dort, wo versucht wird, sie nachzumachen, es schwierig ist, die gleichen Befunde wiederzufinden. Das hat in der Industrie angefangen, die haben versucht, die akademischen Befunde nachzumachen, weil sie sie einlizensieren wollen, und stellen fest: Hoppla, so einfach ist das nicht! Häufig lassen sich die Dinge nicht wiederfinden!"

Wenn Forschung ausgehöhlt und nutzlos wird

Das aber ist die Grundlage aller Wissenschaftlichkeit: Ein Experiment muss mit demselben Ergebnis wiederholbar sein. Der simple Zusammenhang zwischen geringer Versuchstieranzahl und nicht belastbaren Ergebnissen – nie untersucht. Das Verschwinden von Versuchstieren – nie bemerkt. Gleichzeitig tausende solcher Experimente gemacht, begutachtet und publiziert – das lässt an der Fähigkeit der Wissenschaft, ihr Tun angemessen zu reflektieren und zu kontrollieren, tatsächlich zweifeln. Industrie und Hochschulen weltweit sind alarmiert. Untersuchungen bringen jetzt ans Licht, dass sich quer durch die naturwissenschaftliche und medizinische Forschung 60 bis möglicherweise sogar 90 Prozent der Studien nicht mit demselben Ergebnis wiederholen lassen. Handfester Betrug ist das nicht – wohl aber Unwissenschaftlichkeit bis hin zur völligen Aushöhlung und Nutzlosigkeit von Forschung.
Ulrich Dirnagl: "Ich glaube, dass eine Erosion von Qualitätsstandards oder eine nicht optimale Robustheit von Forschung am Ende viel schädlicher und viel gefährlicher ist als manche Betrugsfälle, die wir haben. Und ich glaube, dass das insgesamt einen schädlicheren Einfluss hat auf das, was wir tun, als einzelne schwarze Schafe. Wo ich ehrlich gesagt skeptisch bin, dass wir die loswerden könnten – die wird's am Ende immer geben."
Viele Detailvorschläge zum Umgang mit Wissenschaftsbetrug liegen auf dem Tisch. Sie umfassen eine bessere Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses, schärfere Sanktionen gegen überführte Betrügerinnen und Betrüger, professionell trainierte Ombudsleute, die ordentliche Bezahlung von Gutachtern, die Öffnung von Zeitschriften auch für neutrale und negative Forschungsergebnisse, die präzise Unterscheidung zwischen Vor- und Hauptstudien, die mit unterschiedlich hohen Standards arbeiten könnten, bis hin zur Einrichtung von Forschungsregistern, in denen Wissenschaftler vor dem Experiment niederlegen, welche Idee sie verfolgen, damit sie das Studiendesign später nicht ihrem Wunschdenken anpassen können. Der wichtigste Reformvorschlag aber berührt das Problem an der Wurzel von Fälschungen und sinnlosen Experimenten: Gute Forschung gedeiht nicht im Hamsterrad.
Gerhard Fröhlich: "Wir können nicht Wissenschaft betreiben wie eine Investitionsbank. Wir können nicht Wissenschaft betreiben wie Joghurtproduktion, am Fließband. Wir müssen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – wenn wir wollen, dass sie seriös arbeiten! – viel mehr Zeit gönnen. Wir müssen ihnen Umwege, Irrwege, ja sogar Fehler verzeihen."
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