Bete und denke!

Von Thomas Kroll · 18.04.2009
In der katholischen Kirche wird Anselm von Canterbury als Heiliger verehrt und als Kirchenlehrer geschätzt aufgrund seiner besonderen Leistungen in der Theologie. Aber auch jenseits der konfessionellen Grenzen gilt Anselm von Canterbury als bedeutender Theologe und Philosoph des Mittelalters.
Jorissen: "Die bleibende Aktualität Anselms von Canterbury ist in seinem Grundmotto seiner Theologie gelegen: Fides quaerens intellectum. Der Glaube sucht nach Verstehen."

Ruster: "Er hat mit allem, was er geschrieben hat, die Geschichte maßgeblich beeinflusst. Selten hat ein Theologe mit so wenigen Worten so viel Einfluss gehabt. Mit seinem Gottesbeweis hat er die ganze Philosophie in Bewegung gebracht. Und mit seiner Schrift über die Frage, warum Gott Mensch werden muss, hat er die christliche Erlösungsvorstellung bis in die Gegenwart maßgeblich geprägt."

Annäherungen an einen großen Theologen. Noch heute kommt an Anselms Deutung des Todes Jesu kein Student der Theologie vorbei, an seinem Beweis der Existenz Gottes keine Studentin der Philosophie.
Im Jahr 1033 wird der spätere Benediktinermönch Anselm im norditalienischen Aosta geboren. Schon der 14-Jährige will Mönch werden, doch sein Vater ist dagegen.
Mit 23 Jahren verlässt Anselm Italien; sein Bildungsweg führt nach Frankreich. Drei Jahre lang besucht Anselm verschiedene Klosterschulen. Im Kloster von Le Bec wird er Schüler des seinerzeit berühmten Lehrers Lanfrank und mit 27 Jahren schließlich doch noch Mönch.
Zu Anselms weiterem Werdegang Dominik Perler. Er ist Professor für Theoretische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

"Er war dann zunächst in der Normandie Mönch, wurde dort Abt des Klosters von Bec, ging dann nach England, nach Canterbury, wo er auch Erzbischof wurde und sich in der zweiten Lebenshälfte dann sehr stark auch mit kirchenpolitischen Themen beschäftigt hat."

Ruster: "Anselm lebt in einer Zeit, wo die Christenheit anfängt, die ganze Gesellschaft zu prägen, wo die Kirche die entscheidende Institution dieser mittelalterlichen Gesellschaft ist."

Thomas Ruster, Professor für Systematische Theologie an der Technischen Universität Dortmund.
Zur Zeit Anselms bestellen Könige bevorzugt Bischöfe und Äbte zu Reichsfürsten. Über die damit verbundene Amtseinsetzung von Geistlichen in Kirchenämter durch Nicht-Geistliche entbrennt im elften Jahrhundert ein heftiger Streit zwischen Königen und Päpsten.
In den wird auch Anselm verwickelt. Denn als Erzbischof von Canterbury kämpft er ab dem Jahr 1093 für die Unabhängigkeit der Kirche Englands gegen die Machtbefugnisse des Königs.
In den gut dreißig Jahren zuvor aber widmet sich Anselm im Kloster Le Bec dem Gebet, seinen Schülern und der Schreibtätigkeit.

Ruster: "Er ist kein monomanischer Theorienmacher, kein Schreibtischtäter, sondern jemand, den man sich gleichsam im Kreuzgang wandelnd mit seinen Mitbrüdern vorstellen muss, wie er dort über die Dinge spricht und dann eben das Gespräch hinterher zu Protokoll gibt."

Diesen mehrstimmigen Gesang könnte Anselm in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts gehört haben. Da verfasst er für seine Mitbrüder zwei literarische Perlen. Sie tragen die griechischen Titel "Monologion", zu Deutsch: "Selbstgespräch", und "Proslogion". Das heißt "Anrede". Für den klösterlichen Schulbetrieb schreibt Anselm zum Beispiel "Über die Wahrheit" und "Über die Freiheit des Willens".

"Wohlan, jetzt, Menschlein ...
‚Tritt ein in die Kammer’ deines Herzens,
halte fern alles außer Gott und was dir hilft, ihn zu suchen, und
‚nach Schließung der Türe’ suche ihn."

Zu Beginn des "Proslogion" fordert Anselm von Canterbury auf zu konzentrierter Suche nach Gott. Wenige Zeilen später spricht Anselm direkt zu Gott:

"Ich versuche nicht, Herr, Deine Tiefe zu durchdringen, ...
aber mich verlangt, Deine Wahrheit einigermaßen einzusehen,
die mein Herz glaubt und liebt.
Ich suche ja auch nicht einzusehen, um zu glauben,
sondern ich glaube, um einzusehen."

Perler: "Credo ut intelligam. Ich glaube, damit ich verstehe. Das bedeutet: Glauben ist nicht irgendetwas Irrationales, das man einfach annimmt, weil es mal da ist oder weil man es gelernt hat oder übernommen hat durch die Tradition, sondern etwas, was man auch intellektuell erforschen möchte."

Runggaldier: "Credo ut intelligam, das ist der Spruch, der bekannt wurde. Ich will nicht wissen um zu glauben, sondern ich glaube, um wissen zu können, das ist typisch für ihn."

Edmund Runggaldier lehrt und forscht zur Zeit an der Berliner Humboldt-Universität als Inhaber der Guardini-Professur für Religionsphilosophie und Katholische Weltanschauung.

Runggaldier: "Anselm ist nach wie vor eine Symbolfigur für eine bestimmte Haltung in der Religion. Nach ihm glaubt der gläubige Mensch nicht deshalb, weil Gott ganz was anderes ist oder Absurdes ist, er glaubt nicht, weil er einen Sprung ins Paradoxe tun muss. Nein, er glaubt, um besser, tiefer verstehen zu können, um die größeren Zusammenhänge besser erfassen zu können."

Perler: "Und deshalb fragt Anselm: Ja, wie kann ich das überhaupt verstehen, was ich glaube? Was soll das denn heißen, es existiert ein Gott? Was soll das denn heißen: Gott ist allmächtig, Gott hat die Welt erschaffen und so weiter?"

Diesen Fragen geht Anselm im "Proslogion" nach, Schritt für Schritt, Kapitel für Kapitel, mit Thesen und Argumenten im Sprachgewand des Gebets.
Am Beginn formuliert Anselm die alles entscheidende These, Zitat, "dass Gott in Wahrheit existiert".

Runggaldier: "Was ist mit Gott gemeint? Darauf gibt es verschiedene Antworten. Eine die Anselm uns bietet, entspricht der damaligen augustinischen Tradition: Gott ist das Wesen, dasjenige, was so groß ist, so vollkommen ist, dass es darüber hinaus nicht Größeres geben kann."

Perler: "Und das ist etwas, was als Prämisse zunächst einmal jeder annehmen kann. Ja, so denken wir uns Gott – in verschiedenen Religionen. Aber auch wer überhaupt keinem Glauben verpflichtet ist, kann sich das denken."

Jorissen: "Diesen Ansatzpunkt halte ich für sehr wichtig, weil sehr oft der Fehler gemacht wird, zu meinen, Anselm würde von einer Definition des Gottesbegriffes ausgehen. Nein, er geht aus von dieser Denkanweisung: Denke über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann."

Hans Jorissen. Er war in den 60er-Jahren Kollege von Joseph Ratzinger an der Bonner Universität.
Folgt man Anselms Denkanweisung, dann ist das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, im Verstand.

Jorissen: "Dann muss dieses notwendigerweise als existierend gedacht werden. Denn wenn es als nicht existierend gedacht würde, gäbe es ja etwas, über das hinaus noch Größeres gedacht werden könnte. Das wäre ein Widerspruch."

Ruster: "Im Grunde kann man das psychologisch auflösen. Was für jemanden das Größte ist, dem billigt er auch Existenz zu. Also, so wie Martin Luther später einmal sagen wird: Woran Du Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott. Das will im Grunde Anselm aber unpsychologisch, eben philosophisch sagen: Was ein Mensch für sein Größtes hält, woran er sich ausrichtet, woran er sich hängt, das ist eigentlich sein Gott. Und das hat für ihn auch Realität."

Der Dortmunder Professor für Systematische Theologe, Thomas Ruster, ist fasziniert von Anselms Beweis der Existenz Gottes.

Ruster: "Er ist wirklich genial, er ist auf zwei Seiten in seinem Buch "Proslogion" zusammengefasst. Und er ist so genial, dass sich alle Philosophen später die Zähne daran ausgebissen haben und keiner ihn wirklich hat widerlegen können."

Perler: "Der Gottesbeweis wurde sehr umstritten diskutiert. Es ist keineswegs so, dass sich alle ihm angeschlossen haben, im Gegenteil, er hatte vor allem Kritiker."

Noch heute beschäftigt Anselms Argumentation die Philosophen. Moderne Logiker etwa fragen: Was sind Anselms unausgesprochene Voraussetzungen? Inwiefern muss man diesen Prämissen folgen – oder nicht?
Aber auch Theologen wie Thomas Ruster äußern Bedenken.

Ruster: "Bei Anselm schlägt mindestens tendenziell die Freiheit des Glaubens in den Zwang der Vernunft um. Indem er den Glauben in dieser Weise vernünftig zu beweisen sucht, macht er ihn zu einem Zwang. Man muss jetzt glauben, dass Gott existiert. Man kann es nicht mehr nicht glauben."

"Meine beiden kleinen Werke, das Monologion und das Proslogion, sind vor allem dazu geschrieben, dass das, was wir im Glauben ... festhalten, mit notwendigen Beweisgründen ohne die Autorität der Schrift bewiesen werden kann."

Das schreibt Anselm im "Lehrbrief über die Menschwerdung des Wortes" ein Jahr vor seiner Bischofsweihe. "Mit notwendigen Beweisgründen ohne die Autorität der Schrift". Kurz: Sola ratione. Nur mit der Vernunft. So will Anselm Gläubige und Nichtgläubige erreichen.
Diesem Programm bleibt Anselm auch als Bischof treu. In Canterbury beginnt er sein Hauptwerk "Cur Deus homo". Zu Deutsch: Warum wurde Gott Mensch?

"Diese Frage pflegen sowohl die Ungläubigen ... uns vorzuwerfen, als auch viele Gläubige in ihrem Herzen zu erwägen: aus welchem Grund nämlich und aus welcher Notwendigkeit Gott Mensch geworden sei und durch seinen Tod ... der Welt das Leben wiedergeschenkt habe."

Erstmals fragt ein Theologe auf systematische Weise nach dem Grund für die Menschwerdung Jesu Christi. Erstmals legt ein Theologe eine systematische Erlösungslehre vor.

Ruster: "Er sagt, dass die Menschheit durch ihre Sünde Gott beleidigt hat, unendlich beleidigt hat und dass sie von sich aus alleine nicht fähig ist, Gott, wie man damals sagte, Satisfaktion zu leisten, also Genugtuung zu geben. Wenn nun Gott diese Beleidigung sühnen will und damit den Menschen wieder freisprechen will, dann muss er selbst es tun, aber er muss es zugleich durch einen Menschen tun lassen, da ja die Menschen diese Genugtuung leisten müssen. Also muss Gott Mensch werden, um als Mensch die ihm geziemende Genugtuung zu leisten."

Im Hintergrund dieser Erlösungslehre steht das germanische Rechtsdenken. Anselm ist ein Mann seiner Zeit.

Jorissen: "Es genügt nicht, dass die Schuld wieder gut gemacht wird, sondern nach germanischem Recht muss der Schuldige gleichsam einen Mehrwert leisten, damit die Schuld getilgt und gesühnt werden kann. Dieser Mehrwert ist nun der Tod Jesu Christi am Kreuz."

Ruster: "Und das ist natürlich ein sehr ambivalenter Gedanke, dass Gott den Tod seines Sohnes benötigt, um die Ordnung der Welt wieder herzustellen – und das hat sicher auch zu einem schiefen und falschen, zu einem grausamen Gottesbild geführt. Gott will Opfer sehen auf Seiten der Menschen, auch wenn er selbst es ist, der das Opfer bringt."

Ein weiterer Kritikpunkt: Bei Anselm steht die Menschwerdung Jesu Christi ganz im Dienst des Kreuzesopfers. Daher formuliert der Theologe und Philosoph Herbert Frohnhofen überspitzt:

"Jesus hätte nicht befreiend und heilend verkündigen zu brauchen; um uns von unserer Sündenschuld zu erlösen, hätte es gereicht, pünktlich zum Leiden und Sterben in Jerusalem zu erscheinen. Seine Lebensjahre zuvor hätte er mit Herumhängen und Kartenspielen vergammeln können."

Bei aller notwendigen und berechtigten Kritik: Anselm ist und bleibt ein Meilenstein der Theologiegeschichte. Denn er stellt erstmals systematisch nahezu alle Glaubensaussagen vor die kritische Instanz der Vernunft. Theologie wird Wissenschaft.