Besuch bei Hans Magnus Enzensberger

Ein Rückblick ins 20. Jahrhundert

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger
Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger © picture alliance / dpa
Von Knut Cordsen · 20.04.2018
In "Überlebenskünstler" porträtiert Hans Magnus Enzensberger 99 Intellektuelle, die sich im 20. Jahrhundert angesichts von Krieg und Terror bewähren mussten. Im Vergleich dazu lebten wir heute in "harmlosen Zeiten", sagt er.
Die russische Autorin Nadeschda Mandelstam hat das 20. Jahrhundert das "Jahrhundert der Wölfe" genannt. Nun hat sich der Lyriker und Essayist Hans Magnus Enzensberger, der 1957 mit dem Gedichtband "verteidigung der wölfe" debütierte, daran gemacht, Lebensläufe dieses grausamen Jahrhunderts der Extreme in 99 literarischen Vignetten zu erzählen.
Lauter "Überlebenskünstler", unter ihnen auch Nadeschda Mandelstam, deren Mann Ossip von Stalin verfolgt und inhaftiert wurde und schließlich 1938 in einem sowjetischen Lager starb. In seiner Münchner Wohnung erzählt der 88-jährige von der Idee, die dahinter steht:
"Naja, das ist ein Rückblick eigentlich ins 20. Jahrhundert, ich komme ja von daher, Jahrgang 1929, ein alter Herr, also hatte schon einiges Gepäck aufgeladen, schon von der Jugend her. Gut, ich habe mich jetzt nicht auf alle, sondern ich habe mich auf die Schriftsteller konzentriert, weil bei denen kenne ich mich am besten aus. Und außerdem kenne ich sehr viele von denen persönlich oder habe sie irgendwo getroffen."

Opportunist? Mitläufer? Mann des Widerstands?

Sockfuß und wohlgelaunt sitzt der Lyriker, Essayist, Übersetzer, Herausgeber und Verleger Hans Magnus Enzensberger in seiner Schwabinger Mansardenwohnung. Tänzelt zur Küche, macht einen Kaffee und beschreibt dann die Frage, die ihn beim Schreiben seines jüngsten Buches umgetrieben hat:
"Wie haben die das fertig gebracht, nicht an der Front zu krepieren, in Russland oder so? Wie haben sie es fertig gebracht, dass sie nicht im KZ gelandet sind? Viele sind geflohen, emigriert, also das Exil ist auch kein leichtes Brot, und trotzdem haben es manche verstanden, sich da zurecht zu finden in diesem Wirrwarr, in diesem Tohuwabohu. Und so gibt es eine Reihe von Fallbeispielen, anhand derer ich das mal zum Vorschein bringen wollte. Wie hat sich der in dieser sehr schwierigen Zeit verhalten? War er ein Opportunist, war er ein Mitläufer, war er ein Mann des Widerstands oder hat er es irgendwie fertig gebracht, durch intelligente Strategien durchzukommen, zu überleben, nicht vor die Hunde zu gehen?"
Hans Magnus Enzensberger, nach wie vor der wirkmächtigste Intellektuelle der Bundesrepublik, porträtiert - auf wenigen Seiten jeweils nur - lauter Große: den chilenischen Dichter Pablo Neruda, mit dem er in Moskau frühstückte, den polnischen Reporter Ryszard Kapuscinski, den Enzensberger in seiner "Anderen Bibliothek" verlegte, die jüdische Poetin Nelly Sachs, mit der ihn eine Arbeitsfreundschaft verband, die Ärzte Gottfried Benn und Alfred Döblin, die als Schriftsteller berühmt wurden, die Autorin Ricarda Huch. Aber auch weniger bekannte Gestalten nimmt er sich vor, solche, die sich durchmogelten.
"Also Verwandlungskünstler, Täuschungskünstler. Es gibt zum Beispiel einen Mann, ein gewisser Baumann, der hat immer diese HJ-Lieder geschrieben. Und der war ein großer Erfolgsschriftsteller in der Nachkriegszeit. Sogar in einem Gesangbuch der Bundeswehr ist dieser Herr Baumann vertreten. Also, das ist nun einer der am wenigsten anziehenden Charaktere in diesem ganzen Buch, ja, aber es ist ein Durcheinander."

An Klatsch spart er nicht

Hans Baumann war übrigens der Grund dafür, dass Enzensbergers Freundin Ingeborg Bachmann dem Piper Verlag den Rücken kehrte. Auch an Klatsch spart Enzensberger in diesem wunderbaren Buch nicht. Auch das ein Beleg dafür, dass er hier keineswegs Heiligenbilder malen möchte.
"Denn das ist ja nicht so einfach, dass man nur ein paar Heilige hat, und ein paar teuflische Verbrecher, sondern die Grautöne, die sind das Interessante. Und ich denke, das gilt auch für heute, das gilt überzeitlich. Die Grautöne sind das Interessante. Welche Kompromisse gehe ich ein? Wie weit kann ich gehen, wo ich sage: Jetzt ist aber Schluss!"
Ein Überlebensmittel, so Enzensberger, dessen Name selbst eine Marke eigener Art geworden ist, sei es natürlich gewesen, einen "Weltnamen" gehabt zu haben. Etwa als Nobelpreisträger, von denen er hier einige porträtiert.
"Also Boris Pasternak konnte man nicht umbringen, Knut Hamsun konnte man schwer einsperren zur Strafe, ja, usw. Das sind die einen, die eine Möglichkeit ist, groß zu werden und die andere Möglichkeit ist, praktisch unsichtbar zu werden. Ich habe da Leute gefunden, die sind vielleicht gar nicht so berühmt, aber die sind sehr interessant. Die haben den ganzen Krieg und die ganzen Diktaturen in irgendwelchen Schreibstuben zugebracht. Die haben sich geweigert, sich befördern zu lassen. Ich habe einen zum Beispiel, der hat es noch nicht mal zum Gefreiten gebracht. Der hatte Deckung, irgendeinen, der ihn beschützt hat. Irgendeinen Offizier, der lesen und schreiben konnte. Einige von diesen Typen habe ich auch. Und das ist auch eine nicht zu vernachlässigende Möglichkeit: sich kleinzumachen."

"Wir sind ja Trockenschwimmer"

Sagt der Dichter und zündet sich eine Zigarette an. Auf sein hohes Alter, das man ihm nicht anmerkt, will er gar nicht angesprochen werden. Runde Geburtstage wie sein im nächsten Jahr bevorstehender neunzigster seien doch nichts Besonderes. Von solchen Terminen ließen sich viel zu viele Journalisten leiten. "Eine schlechte Angewohnheit: Der Kalender ersetzt die Idee", sagt Enzensberger, lächelt und giggelt vergnügt. Ein survial-kit der besonderen Art hat Hans Magnus Enzensberger da für uns geschnürt. Eines, das gerade uns Heutige angehen könnte.
"Natürlich, wir sind ja Trockenschwimmer. Wir haben ja nicht die Stasi vor der Tür oder die SS, wir leben in harmlosen Zeiten, jedenfalls hier, in diesem Land, aber man weiß doch nicht, was uns alles bevorsteht. Und da könnte es vielleicht ganz nützlich sein, ein bisschen zu trainieren."

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert
Suhrkamp, Berlin 2018
360 Seiten, 24 Euro

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