Beseeltheit und Selbsterkenntnis

Rezensiert von Heike Schneider · 07.07.2006
Gottfried Benn liest Gottfried Benn: Seine Stimme schwingt uns manchmal fragil oder tastend, immer aber mit betörender Musikalität ins Ohr. Für seine wachsende Fan-Gemeinde bleibt er ein begnadeter Verführer des Wortes.
"Im Namen dessen, der die Stunden spendet dem Schicksal des Geschlechts, dem Du gehört, hast Du fraglosen Augs den Blick gewendet in eine Stunde, die den Blick zerstört. Die Dinge dringen kalt in die Gesichte und reißen sich der alten Bindung fort. Es gibt nur ein Begegnen: im Gedichte die Dinge mystisch bannen durch das Wort!"

Gottfried Benn liest Gottfried Benn. Seine Beseeltheit und Selbsterkenntnis gipfelt in einem Credo mit Ausrufezeichen: "Es gibt nur EIN Begegnen: im Gedichte die Dinge mystisch bannen durch das WORT!"

Der 1886 in einem Prignitzdörfchen geborene Pfarrersohn hatte sich zwar anfangs für das Theologiestudium entschieden, wechselt jedoch bald zur Medizin und sorgt schon mit Mitte 20 mit dem expressionistischen Gedichtband "Morgue" für literarisches Aufsehen. Die Hinfälligkeit des Körpers, die er als Arzt mit dem Seziermesser erkundet, bringt er als Dichter mit krasser Sinnlichkeit zur Sprache. So bannt Ästhetik Schrecken.

In dieser Zeit lernt er Else-Lasker-Schüler kennen - eine prägende Freundschaft. Seine Berliner Arztpraxis besuchen freilich keine Prominenten, eher bedürftige Patienten wie Huren von der Friedrichstraße. Benn-Biograf Fritz Raddatz wundert, wie dieser Mann mit seiner -Zitat - "mickrigen Tripperpraxis", der weder das aufregende Nachtleben, noch das Theater im Berlin der goldenen 20er Jahre besucht, auf Rezeptblöcke Gedichte kritzelt, die bis heute das Herz flimmern lassen."

"Wenn man von Faltern liest, von Schilf, von Immen, dass sich darauf ein schöner Sommer wiegt, dann fragt man sich, ob diese Glücke stimmen und nicht dahinter eine Täuschung liegt. Und auch das Saitenspiel, von dem sie schreiben, mit schwirrem Dufthauch, flügelleichtem Kleid, mit dem sie tun, als ob sie bleiben, ist anderen Ohren eine Fraglichkeit."

"Melancholie" titelt Benn dieses Gedicht und trifft damit den zentralen Ton seiner Lyrik. Anfang 33 dann eine große Verblendung - ein schnelles Sympathisieren mit den Nationalsozialisten - gipfelnd in einer Attacke all jener Intellektuellen, die den neuen Staat Hitlers bekämpfen. Seine scharfe Abwehr der Vorwürfe des Emigranten Klaus Mann wird er später bereuen.

Schon bald diffamiert die Nazipropaganda jedoch auch Benns Literatur als "entartet" und verhängt ein Veröffentlichungsverbot. Nach dem Krieg muss sich Benn -verbittert und geläutert - immer wieder seinem Irrtum stellen.

Radiostudios hat Benn zwar nicht gesucht, doch ihr Potenzial durchaus genutzt. So debattiert er 1930 mit Johannes R. Becher zur Position der Kunst. Während letzterer an parteiliche Tendenzkunst glaubt und nach 45 eine Stalineloge fabriziert, fühlt sich Benn einzig dem inneren Glauben verpflichtet. Leider ist dieses Tondokument nicht auf der CD.

Dafür Benns Kölner Funkvortrag von 1955, wo er sich zur Frage äußert "Soll Dichtung das Leben bessern?". Mit aristokratischer Strenge weist er jedwede therapeutische oder gar moralische Mission von Dichtung zurück und beruft sich stattdessen auf sein Vorbild Goethe, der Jahrzehnte Erfahrung in vier Worte fasst: "Leidend lernte ich viel." … und:

"Wunderbar ist das Wort von Joseph Conrad: Dichten heißt, im Scheitern das Sein erfahren."

Fast pathetisch beschwört Benn den Lichtstrahl wahrer Poesie:

"Das Wesen der Dichtung ist unendliche Zurückhaltung - zertrümmernd ihr Kern, aber schmal ihre Peripherie. Sie berührt nicht viel, das aber glühend."

Ein simpler Alltagsanlass, eine Postkarte der Mutter von einer Kur in Thüringen, gerinnt bei Benn zu einer Erinnerung, die bleibt.

"Jena vor uns im lieblichen Tale, schrieb meine Mutter von einer Tour auf einer Karte vom Ufer der Saale; sie war in Kösen im Sommer zur Kur. Nun längst vergessen, erloschen die Ahne, selbst ihre Handschrift Graphologie. Jahre des Werdens, Jahre der Wahne. Nur diese Worte vergesse ich nie."

Und was sich per Reim zunächst fröhlich anlässt, mündet bei Benn unversehens in den Ernst des "Lebewohl":

"Lebewohl, Farewell and never more - aller Sprachen Schmerz und Schattenlaut. Sind im Herzen, sind im Ohre unaufhörlich tief vertraut."

In einem Märzenbrief nach Meran bittet er dagegen als Romantiker:

"Blüht nicht zu früh, ach, blüht erst, wenn ich komme! Dann sprüht erst Euer Meer und Euren Schaum. Mandeln, Forsythien, unzerspaltene Sonne - dem Tal den Schimmer und dem Ich den Traum."

Benns Stimme schwingt uns manchmal fragil oder tastend, immer aber mit betörender Musikalität ins Ohr. Und vor dem inneren Auge tauchen beim Hören Fotos von Benn auf: sein elegantes Profil, die halb gesenkten Lider und dieser leicht blasierte und doch wissende Blick. Gut vorstellbar, dass Benn, der seine vielen Affären nach dem raffinierten Prinzip "Gute Regie ist besser als Treue" auslebte, auch seine Geliebten damit verführte. Doch für seine wachsende Fan-Gemeinde bleibt er ein begnadeter VERFÜHRER des WORTES!

"Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich. Es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich."


Einsamer nie. Gottfried Benn liest Gedichte und Prosa
derhörverlag, München 2006, 2 CD, 112 Minuten