Beschimpfung, Beleidigung, Bedrohungen

Wer rettet den guten Ton?

Eine Frau sitzt im Auto und schimpft.
Eine Frau sitzt im Auto und schimpft - war das früher anders? © imago/Action Pictures
Von Carolin Pirich  · 25.06.2018
Soziale Medien, Pegida, Cottbus, die Echo-Verleihung - überall begegnet man Schmähungen. Die Welt ist lauter geworden, rücksichtsloser. Verroht unsere Gesellschaft oder waren wir schon immer so und werden nur empfindlicher?
"Ab morgen kriegen Sie in die Fresse."
Entfernt. Bitte formulieren Sie Kritik sachlich und differenziert. Danke.
"Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen."
Entfernt. Bitte bleiben Sie beim Thema. Danke.
"Jetzt haben wir einen Haufen rechtsradikaler Arschlöcher hier sitzen, und Frau Merkel trägt ein gerütteltes Maß an Mitschuld."
Entfernt. Bitte bleiben Sie höflich. Danke.
"Da braucht es viel mehr Widerworte, Widerrede, Einspruch, Reaktionen, weil wir in diesem Haus Gesicht zeigen müssen."

Kapitel 1 - Fakt, Fake News - oder Gefühl?

Als der Redakteur vom Deutschlandfunk Kultur mich Anfang des Jahres anruft und fragt, ob mir aufgefallen sei, dass unsere Gesellschaft immer härter miteinander umgeht, sitze ich in der S-Bahn auf dem Weg nach Hause.
Härter, also verbal aggressiver, sagt er. Harte Worte, Beleidigungen, Schmähungen?
Ich weiß nicht recht, dachte ich. Ich werde ihn später zurückrufen, sage ich dem Redakteur, wenn ich ausgestiegen bin, ich antworte leise in den Hörer. Will die Mitfahrer nicht nerven.
Als ich meinen Redakteur etwas später im dichtesten und klebrigsten Bezirk von Berlin zurückrufe, sitze ich auf einer Bank, im Friedrichshain, und mir fällt erstmal auf, wie angenehm es zugeht. Trotz "Dichtestress", trotz Feiertouristen, trotz Rollkofferreisenden. Der Verkäufer einer Straßenzeitschrift sagt höflich seinen Werbespruch auf. Der Straßenmusiker bläst sanft in sein Saxophon.
Ein paar Punks mit Hunden räkeln sich vor dem Supermarkt und blinzeln in die Sonne. Es ist warm.

1982 war "Ellenbogen-Gesellschaft" das Unwort des Jahres

Verroht unsere Gesellschaft? Eine große Frage. Wo soll man da ansetzen? Bei der Polizei und der Kriminalstatistik? Im Straßenverkehr? An Schulen? Im Parlament? Oder ist es nicht vielmehr so, dass dieses Thema immer wieder Konjunktur hat?
1982: "Ellenbogen-Gesellschaft" ist das Unwort des Jahres. Anfang der 2000er: Bücher tragen Titel wie: "Deutschland armes Kinderland. Wie die Egogesellschaft unsere Zukunft verspielt."
2012: Jörg Schindler schreibt sein Buch "Die Rüpel-Republik": "Ignoranten und Ichlinge bestimmen unseren Alltag, das Klima wird rauer. Was ist los mit uns?"
Schindler besucht eine Schule, die eine Lehrerin zum Unterrichten von Benimmregeln eingeführt hat; die Lehrerin hält nicht lange durch. Er besucht ein Fußballspiel von Kindern. Eltern feuern ihre 7-Jährigen vom Spielfeldrand an: "tritt ihn um". Oder: "Spiel endlich richtig, du Kackarsch-Mongole." Überall sieht Jörg Schindler Anzeichen für eine Verrüpelisierung der Gesellschaft.
Von meiner Bank aus, Berlin-Friedrichshain, heller Frühlingstag 2018, sieht es gerade friedlich aus. Die Mütter im Sandkasten reden sanft auf ihre Eineinhalbjährigen ein, dass man sich nicht mit der Schaufel haut. Und Sand werfen sei auch keine Lösung.

Wird das Land noch gerettet?

2013 schreibt die Journalistin Nina Apin den Gegenentwurf zu Jörg Schindlers Rüpel-Republik: "Das Ende der Ego-Gesellschaft", nennt sie ihn. "Wie die Engagierten unser Land retten."
Die These ist, dass die Menschen inmitten der Ego-Gesellschaft wieder ihre soziale Ader entdecken, Apin beobachtet:
"Wie sich dieser 'Freiwilligensektor' in den letzten Jahren dramatisch ausgedehnt hat. Und während sich der Staat zurückzieht, wird unsere Gesellschaft zunehmend von engagierten Bürgern zusammengehalten."
Von meiner friedlichen Bank aus spreche ich mit meinem Redakteur. Das ist doch schon immer gefühlt so, sage ich ihm am Telefon. Die Rüpel-Wahrnehmung hat Konjunktur, dann schwächt sie sich wieder ab.

Donald Trump, der von Drecksloch-Staaten twittert

Eine Antwort auf die Frage zu finden ist der Versuch, übers Meer zu segeln und den Horizont erreichen zu wollen: Man kommt von Political Correctness zu Tabubrüchen als Strategie. Man schaut zum Schulhof. Auf die Ethno-Lekte der Jugendlichen. Man schaut auf die Fantribünen bei Fußballspielen. Und am Ende landet man dann bei Messer und Gabel und Herrn Knigge. Von wegen gefühlt, sagt mein Redakteur am Telefon, wohin er auch schaue: Es werde geschmäht, beleidigt, im Ton verrutscht. Vor allem in der Öffentlichkeit.
Da ist der amtierende US-Präsident, Donald Trump, der von Drecksloch-Staaten twittert. Da gibt es Briefe von Hörern an die Redaktion, die bedauern, dass es gar nicht genug Holz gäbe für die Särge, in denen sie die Mitarbeiter des Hauses hineinwünschten. Im Radio und im Fernsehen gibt es Diskussionsrunden zum Thema.
Haben die Beleidigungen tatsächlich zugenommen? Oder ist das nur so ein Gefühl, weil die Medien darüber berichten? Oder weil wir Journalisten die Briefe und Anrufe von Lesern bekommen?
Sind es Wenige, die aber auf öffentlichen Plattformen schimpfen, und kommen sie uns deshalb so laut vor? Vor allem: Wie soll man das messen?

Kapitel 2 – Zwei Welten

"Gestern gab es eine Vielzahl von Zuschriften, weil das Wochenende davor lag, heute haben wir ja Montag, und da war das Postfach voll. Nach dem Wochenende mehr als 500 Zuschriften im Postfach, wo man sagen muss, das nicht alles Lob-Kritik-Zuschriften, da sind auch Pressemitteilungen und Musikanfragen und Manuskriptanfragen und dann die wertenden Zuschriften."
Die erste Station auf meiner Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie es in unserer Gesellschaft um den Umgang miteinander steht, ist der Hörer-Service von Deutschlandfunk Kultur.
"Ich würde sagen, seit etwa zehn Jahren ist das schon gut zu beobachten, dass ein Bruch in der Kommunikationskultur eingetreten ist. Es ist ein fließender Prozess gewesen. Wir hatten Ereignisse wie Stuttgart 21, da wurde der Begriff des Wutbürgers geprägt. Das ist dann voll durchgeschlagen auf die Emails, auf die Höreranrufe. Die Tonlage hat sich da verändert. Dann kam die Ukraine-Krise, und da ist es ganz besonders augenfällig geworden."
Konrad Sander ist ein schlanker Mann, 53 Jahre alt, der Kopf rasiert, die Augen wach. Er sitzt vier Tage die Woche von halb acht bis 17 Uhr in seinem halligen Büro des Senders in Berlin-Schöneberg. Dort beantwortet er Telefonanrufe von Hörern, beantwortet Emails, leitet Emails an die Redakteure weiter und sortiert die Mails nach Themen. Manche Zuschriften legt er in einem bestimmten Ordner ab: Wenn sie Inhalte haben, die eines Tages strafrechtlich relevant sein könnten.

Zunächst sei die Anrede weggefallen

Zunächst, vor einigen Jahren, sei die Anrede weggefallen in der E-Mail, sagt Konrad Sander. Dann schwand der Versuch, sich kritisch, aber immerhin höflich zu äußern. Schließlich schrieben manche Hörer, ohne überhaupt ihren Namen zu nennen.
"Im Laufe der Zeit wurde die Form immer kürzer, und je verknappter die Formulierungen waren, so schärfer waren die Formulierungen auch."
In den Zuschriften beschimpfen Hörer die Politiker, die in den Beiträgen zu Wort kommen. Oder sie beschimpfen die Journalisten, die berichten.
So wie Sabine Adler. Ihr Büro liegt fünf Stockwerke über Konrad Sanders Büro vom Hörer-Service.
"Es sind zum Teil so derartig wüste Beschimpfungen, dass ich mich frage, was Leute, die schon bei einem relativ abstrakten Thema für sich persönlich so ausfallend werden, was die eigentlich machen, wenn die in einem persönlichen Konflikt sind mit jemandem."
Sabine Adler, Redakteurin im Deutschlandfunk Kultur. Viele Jahre hat sie über Russland berichtet.

Ukraine, Bankenkrise, Stuttgart 21

Kürzlich bekam Sabine Adler eine Zuschrift, aus der sie hier zitiert:
"Werte Frau Adler, Sie haben sich zwar neu gestylt, das ist auch Ihr Recht, aber der Inhalt Ihrer Äußerung ist genauso dämlich wie früher...Ich erinnere mich an einen Auftritt von Frau Dr. Tempel beim Presseclub, wo die in einer unverschämten Art und Weise Russland und Herrn Assad verunglimpfte. Das hat der liebe Gott nicht zugelassen und Frau Tempel berechtigt bestraft."
Sylke Tempel war Politologin. Sie wurde im Oktober 2017 von einem umfallenden Baum erschlagen.
"Ich finde, das übersteigt alles. Das ist aber jetzt eine Reaktion von ganz, ganz vielen. Ein gängiges Beschimpfungsmuster ist Nazibonze, Nazi-Hure, Nato-Hure, Nato-Agent. Das kommt in fast allen Beschimpfungen vor, das geht so auch auf Twitter und auf allen Kanälen."
Im Erdgeschoss vom Deutschlandfunk Kultur in Berlin hat Konrad Sander inzwischen auf ein Blatt notiert, welche Themen in den vergangenen zehn Jahren besonders heftige, emotionale und auch bedrohliche Reaktionen hervorgerufen haben. Ganz oben auf seinem Papier steht...
"2004 die orangene Revolution in der Ukraine.
2007: Die Bankenkrise.
2009: Beginn der Stuttgart 21 Straßenproteste.
2010: Die Veröffentlichung von Thilo Sarazzins Buch "Deutschland schafft sich ab".
Die Liste endet - beim Zeitpunkt unseres Treffens - mit dem Fall Skripal, dem ehemaligen russischen Agenten, der zusammen mit seiner Tochter in London vergiftet wurde.
"Natürlich die Flüchtlingsthematik hat sehr viele Hörerzuschriften generiert 2015 und da muss man sagen, da hat sich die Tonlage verschärft."

Verfall der Werte, Vereinsamung, "Überfremdung"

Vor allem ältere Menschen riefen an, sagt Konrad Sander. Er stellt fest, dass sie sich sorgten: um den Verfall der Werte, um Vereinsamung, um "Überfremdung".
Ich verlasse das Gebäude meines Senders Deutschlandfunk Kultur und komme ins Grübeln. Deutschlandfunk Kultur hat Hörer, die sie in der Zielgruppenanalyse als Kultur- und Informationsinteressierte zwischen 30 und 55 Jahren beschreibt. Ich dachte bisher, dass der Sender eine Insel der Seligen inmitten des Shitstorms sei, in dem sich zum Beispiel Kollegen von Spiegel-Online immer wieder befinden, einer der am meisten geklickten Nachrichtenseiten in Deutschland.
Sind die Menschen durch alle Gesellschaftsschichten heute angriffslustiger, rauer, schneller bereit, sich im Ton zu vergreifen? Oder liegt es nur an der Möglichkeit, die es durchs Internet gibt: ohne Papier, Briefmarke, Gang zum Briefkasten seine Meinung schnell in die Welt hinauszuschicken?

Kapitel 3 - Ein Blick mit Abstand

Ich setze mich in die Regionalbahn und fahre von Berlin nach Potsdam, ans Institut für zeitgeschichtliche Forschung. Durch den Grunewald, über die Havel. Das Institut liegt friedlich zwischen alten Bäumen und kaiserlicher Architektur. Ganz oben, im dritten Stock, sitzt Christoph Classen.
"Bei den klassischen Medien finde ich, dass die eine gewisse Mitverantwortung insofern trifft, als dass man häufig den Eindruck hat, der Tabubruch wird belohnt."
Professor Christoph Classen, Projektleiter in der Abteilung "Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft". Man denke an bestimmte Äußerungen der AfD, sagt er...
"Da wird sofort aufgesprungen, sofort berichtet, auch wenn die Sache wenig Substanz hat, wenig Hintergrund hat, weil man dadurch Klickzahlen bekommt... also Medien konkurrieren die ganze Zeit um Aufmerksamkeit, ist so ein Tabubruch ein Prädikat. Da habe ich schon den Eindruck, dass es da ein Zusammenspiel gibt zwischen aktuell den Rechtspopulisten, die darauf setzen und den Medien, die das aus bestimmtem Erfolgskalkül bedienen."

"Maus ausgerutscht" oder "Lügenpresse" ist schuldig

Diese Strategie von Politikern wurde oft häufig beschrieben und "enttarnt", wenn man so will. Der Politiker, die Politikerin sagt etwas bis dato Unerhörtes wie "Wir werden sie jagen", oder man solle auf Flüchtlinge an den Zäunen schießen. Und hinterher, wenn die Aufregung und die Aufmerksamkeit groß waren, wird zurückgerudert. War doch nicht so gemeint, die "Maus" sei abgerutscht. Oder die "Lügenpresse" hat was falsch verstanden. Trotzdem funktioniert das immer wieder.
Die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch macht bei der Konstituierenden Sitzung des Bundestages ein Foto mit ihrem Mobiltelefon.
Die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch macht bei der Konstituierenden Sitzung des Bundestages ein Foto mit ihrem Mobiltelefon.© picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
"Insofern ist das, was wir jetzt erleben, ist nicht neu, sondern wir haben in der Weimarer Republik, aber auch in den 70er Jahren, wenn Sie an die 68er und die RAF-Terroristen denken, eine sehr polarisierte politische Kultur gehabt. Und in diesen Zeiten nehmen diese Polemiken zu. Ich glaube, dass die 90er, 00er Jahre eine Besonderheit waren, dass wir nach der Wiedervereinigung eine Zeit hatten, die politisch weniger polarisiert war. Jetzt kommen wir wieder in eine Zeit, in der das wieder zunimmt. Neu ist das historisch nicht."
Relativ neu sind die sozialen Medien. Sind Facebook, Twitter und die Kommentarfunktionen unter Artikeln auf den Onlineseiten der Zeitungen.
"Was hinzukommt, ist, dass ein öffentlicher Raum entsteht, der eine gewisse Resonanz bietet, für Meinungen, Äußerungen, die vorher nicht diskursfähig waren, die man vorher öffentlich so nicht machen konnte. Nun ist das also möglich. Und bestärkt sich wahrscheinlich."
"Schlägt das ins analoge Leben um?"
"Schwer zu sagen. Ich glaube ja, dass sich vieles im analogen Leben auch schon abgespielt hat. Damals haben die Leute auch schon abgezogen am Stammtisch über die Politiker, die Journalisten, die Eliten. Jetzt bekommt das mehr Öffentlichkeit. Die große Wut, die da herrscht, die wird man schon ernst nehmen müssen."

Kapitel 4 - Vorbilder

Ein paar Tage, nachdem ich Christoph Classen in Potsdam besucht habe, tritt Alice Weidel, die Vorsitzender der "Alternative für Deutschland", im Bundestag auf. Sie spricht von "Kopftuchmädchen, Messermännern und anderen Taugenichtsen". Der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ruft sie zur Ordnung.
Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob die Gesellschaft, also ob wir, immer rauer, roher miteinander umgehen, komme ich am deutschen Bundestag nicht vorbei. Seitdem die AfD eingezogen ist, kommt man ja auch um die Partei nicht mehr drum herum. Kürzlich habe ich eine Juristin getroffen, die im Bundestag unter dem Plenum am Computer arbeitet und während einer Debatte Wörter und Sachverhalte prüft. Diese Juristin erzählte, dass sie und ihre Kollegen mehr zu tun hätten als jemals zuvor.
Gegenüber vom Reichstag, an der Spree, haben im "Haus der Bundespressekonferenz" die Korrespondenten ihre Büros. Sie berichten aus dem Parlament.

Und die AfD-Abgeordneten machen "hö, hö, hö"

"Wir als Beobachter, wir sitzen als Tribüne über dem Plenum drüber, ich finde aber ganz interessant, was zum Beispiel Abgeordnete der Grünen berichten."
Barbara Schmitt-Matern berichtet als Parlaments-Korrespondentin des Deutschlandfunks.
"Ich kann das nur so wiedergeben, dass einige mir erzählen, sie fühlen sich geradezu körperlich unwohl angesichts dieses Blocks von AfD-Abgeordneten… Wenn ich das wörtlich nachmache, die sitzen da und sagen "Hö, hö, hö", um zu kommentieren oder um lächerlich zu machen, wenn ein Redner von einer anderen Fraktion am Rednerpult steht und spricht."
"Von der FDP gibt es ähnliche Beobachtungen."
Nadine Lindner, Parlamentskorrespondentin, berichtet über die FDP.
"Die sitzen ja nun…, sind direkte Banknachbarn mit der AfD. Was die sagen: dass man diese ganzen Zwischenrufe, diese halblauten, geflüsterten Bemerkungen mitbekommt, die dann zum Beispiel nicht über die Saalmikrophone gehen, die dann zum Beispiel auch nicht in den Protokollen des Bundestags so auftauchen. Dann hört man die halblauten Rufe wie 'Vaterlandsverräter, Kriegstreiber, Lügner, Krimineller'. Und das geht die ganze Zeit so."
"Natürlich gab es früher auch persönliche Beleidigungen, dass Politiker andere Politiker angegriffen haben: Wenn ich an Herbert Wehner denke, an Franz Josef Strauss, der gesagt hat, 'wenn Sie schon kein Hirn haben, dann halten Sie wenigstens das Maul.' Aber jetzt geht das in Beleidigungen über, die insgesamt 'die Politik' betreffen oder 'die Medien', 'die Lügenpresse'..."

"Jetzt kriegen sie auf die Fresse"

Frank Capellan arbeitet seit einem Vierteljahrhundert für den Deutschlandfunk, derzeit berichtet er vor allem über die SPD. Er hat sich gewundert über die SPD-Chefin Andrea Nahles, die der CDU/CSU ankündigte: Jetzt kriegen sie auf die Fresse. Als am Abend der Bundestagswahl Alexander Gauland sagte: "Wir werden sie jagen", hatte der Journalist Frank Capellan begonnen, sich doch etwas Sorgen zu machen, nicht nur um den Umgang im Bundestag.
02.03.2018, Berlin: Alexander Gauland, Vorsitzender der AfD-Bundestagsfraktion, sitzt vor einer Sitzung des Deutschen Bundestages im Plenaarsaal des Reichstagsgebäudes. Foto: Gregor Fischer/dpa | Verwendung weltweit
Der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alexander Gauland, sitzt im Plenarsaal.© Gregor Fischer/dpa
"Wenn jemand wie Gauland sagt: 'Wir werden sie jagen', dann meint er damit die politische Klasse, das Establishment in seinem Sinne. Und dadurch sind auch im Bundestag Tabus gebrochen worden, und die Hemmschwelle ist gesunken, und das haben wir auch außerhalb des Parlamentes immer wieder erlebt. Wenn ich denke an Demonstrationen vor einem Flüchtlingsheim im sächsischen Heidenau Heidenau, Sigmar Gabriel, damals Vizekanzler, Angela Merkel, die als Kanzlerin dahin kam, der Galgen, der gezeigt wurde, als sie als Volksverräter beschimpft wurden. So etwas haben wir früher nicht erlebt."
Ein paar hundert Meter vom Reichstag entfernt blickt Bernd Baumann von seinem Büro über den Tiergarten. Eine dunkle Wolke ergießt sich über die grünen Wipfel, die sich wie ein aufgewühltes Meer im Wind bewegen. Bernd Baumann ist parlamentarischer Geschäftsführer der AfD, der "Alternative für Deutschland". Er weist zurück, dass die AfD für den rauen Ton im Bundestag verantwortlich sei. Als Arschlöcher würden seine Parteimitglieder beschimpft, als Rassisten und Nazis. Er stellt auch eine Verrohung der Sprache gesamtgesellschaftlich fest: auf Schulhöfen, in den Texten von Rappern...
"Und das ist für uns, die AfD, ganz klar die Veränderung, die von 1968 her kommt, dieser permissive Erziehungsstil, ein Verleugnen von dem, das man früher Sekundärtugenden genannt hat. Disziplin, Selbstbeherrschung, Vertrauenswürdigkeit, höflicher Umgang, all diese Dinge sind damals verächtlich gemacht worden. .... Und jetzt sieht man, dass die ganze Gesellschaft entgleist."

Kapitel 5 - Wächter über den Ton

Eine Person soll darüber wachen, dass "die Würde und die Rechte des Bundestages gewahrt werden": Der Bundestagspräsident oder seine Vertreter. Zum Beispiel Claudia Roth vom Bündnis 90/Die Grünen. Sie darf in ihrer Funktion Abgeordnete ermahnen, ihnen das Wort entziehen und sie sogar bis zu 30 Sitzungstage von Plenar- und Ausschusssitzungen ausschließen. Sie entscheidet darüber, ob sie die Redner rügt und wann sie das tut. Ich besuche sie in ihrem Büro in der Berliner Dorotheenstraße und frage sie, wie sie sich auf die Debatten vorbereitet.
"Nein, da kann man sich nicht darauf vorbereiten, denn das ist ja eine permanente Entgrenzung, die von AfD-Abgeordneten kommt. Du musst unglaublich aufpassen. Ich will die Redefreiheit akzeptieren, aber weil die Redefreiheit so ein Reichtum ist, braucht es auch die Pflicht zur Widerrede, zum Einspruch wenn Grenzen überschritten werden."
Die Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth
Die Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth© dpa / Maurizio Gambarini
In Claudia Roths Büro steht ein Tisch aus massivem Holz anstatt der kühlen, glatten Konferenztische. Farbenfrohe Teppiche, Zimmerpflanzen, kräftige Kunst an den Wänden. Claudia Roth berichtet, dass ihr auffällt, wie gesellschaftsfähig wieder sexistische Anspielungen würden. Wie ein Abgeordneter sich deutlich der Bundeskanzlerin zuwendet und sagt: Wer regieren wolle, der müsse auch Eier haben.
Durch die Zimmerpflanzen hindurch hat man einen Blick auf den Reichstag, dem Ort, an dem Claudia Roth sich gegen den rauen Ton im Bundestag stemmt:
"Es gab immer Battles zwischen Grünen und CSU und Linke und CDU, aber es war auf einer Ebene von Konsens. Es gab in der ganzen letzten Legislaturperiode, glaube ich, keinen Ordnungsruf. .. Wir haben jetzt, wenn ich mir Reden anhöre von Berliner AfD-Abgeordneten, da würde es sich lohnen, alte Reden aus der Nazi-Zeit zu analysieren, wie Reden aufgebaut worden sind da wird man Ähnlichkeiten erkennen. Da braucht es viel mehr Widerworte, Widerrede, Einspruch, Reaktionen, weil wir in diesem Haus Gesicht zeigen müssen."
Überhaupt: die Widerrede. Seit gut einem Jahr gibt es die Gruppe "Hashtag Ichbinhier", unter dem Leute Einspruch erheben gegen hässliche, hasserfüllte Kommentare auf Facebook. Der Facebook-Redakteur vom Deutschlandfunk Kultur hat mir erzählt, seitdem er und seine Kollegen stärker in den Kommentaren moderieren und antworten, habe sich der Ton deutlich verbessert. Und die Politikerin Renate Künast, die mit der Journalistin Britta Stuff vom "Spiegel" die Absender schlimmer Posts besucht hatte, erlebte, dass die Wutschreiber zahm waren, sobald sie ihnen leibhaftig gegenüberstand.

Roth geht mit Begleitschutz auf die Straße

Bisher ist die Gewalt vor allem in Worte gebannt. Aber Claudia Roth geht kaum mehr ohne Begleitschutz auf die Straße. Jeder schaut sie an, jeder erkennt sie in ihren farbenfrohen Outfits, mit den geschminkten Lippen, den großen, lebhaften Augen.
"Das war schon sehr früh, dass Drohungen kamen von sexualisierten Gewaltphantasien. Aber absolut nicht vergleichbar mit dem, was seit PEGIDA begonnen hat. Ich glaube, man kann das wirklich sagen: PEGIDA hat zu einer Verrohung, Entgrenzung, Gewalt in der Sprache beigetragen. Der Turbo war dann Facebook und andere. Wenn ich etwas sage zur Solidarität mit Minderheiten, kommt ein Dreck, der über einen geschüttet wird, das kennt keine Grenze mehr."
Claudia Roths Sprecher legt ein paar solcher Nachrichten vor:
- "Roth, Du alte Kackerlackenvotze…"
- "Jeder geschlechtskranke Nigger sollte dich anpissen."
- "Wäre echt schön, würden sie bald für immer in irgendeiner Jauchegrube verschwinden, sie unansehnliche fette Qualle."
- "Ich wünsche mir aus tiefstem Herzen, dass sich einmal einer hergibt, um sie koscher ausbluten zu lassen."
Wie geht sie damit um? Wie hält man so etwas aus?
"Ich werde eines nicht tun: Ich werde denen, die mich verletzen, oder meine Seele oder mich als Person zerstören wollen, nicht meine Angst schenken. Ich werde diese Genugtuung ihnen nicht geben. Dann hätten sie gewonnen...Jetzt erst recht."

Kapitel 6 - Spurensicherung

"Wir haben im letzten Jahr, in unserer 27. Auflage 2017 5000 neue Wörter aufgenommen... Natürlich gibt es Wörter, die durch den schärfer gewordenen politischen Diskurs bedingt sind. Also, wenn Sie das Parlament erwähnen, dann kommt das in die Zeitung, und dann schlägt sich das bei uns nieder. Also Kopftuchstreit, Fake News, Flüchtlingswelle und und und. Das sind Wörter, die in den Duden gekommen sind aufgrund des Gebrauchs und der Verbreitung."
"Sprache sagt alles". Der Satz prangt im Eingangsbereich der Duden-Redaktion in großen, schwarzen Buchstaben an der Wand. Sprache ist ein Spiegel der Gesellschaft: Was wir denken, was wir tun, geht irgendwann in Sprache über. Wenn es also jemanden gibt, der genau bemisst, wie es um unseren Umgang miteinander steht, dann muss das Kathrin Kunkel-Razum sein. Sie ist die Leiterin der Duden-Wörterbuchredaktion.
"Wir stützen die meisten unserer Aussagen auf das Duden-Korpus, das ist eine sehr große, sehr umfangreiche elektronische Textsammlung, in der ungefähr 4,5 Milliarden laufende Wortformen sind...Dieses Korpus durchackern wir auf der Suche nach neuen Wörtern...Das basiert auf geschriebenen Texten. Vor allem Zeitungstexte fließen da ein, auch Belletristik."
Ein Duden der 27. Auflage
Ein Duden der 27. Auflage © dpa / picture alliance / Britta Pedersen
Vielleicht kann man es so sagen: Wenn es neue Begriffe sogar in den Duden geschafft haben, dann hat sich in der Gesellschaft etwas verändert. Aber, das sagen die beiden Damen der Duden-Redaktion auch, diese Veränderung geht nicht nur in die eine Richtung.
"Wir dürfen die Gegenbewegung auch nicht vergessen. Wir haben auf der einen Seite das, was wir Verrohung nennen, Anonymität im Netz usw. aber wir haben auf der anderen Seite auch ein neues erwachtes Sprachbewusstsein. Unter dem Stichwort Politcal Correctness, Gendern, wo auf die sozialen Gegebenheiten und die sprachlichen Gegebenheiten mehr Rücksicht genommen wird als vor 20 Jahren."
Es sei noch nie so viel geschrieben und kommuniziert worden wie heute. Die Frage nach dem Umgang miteinander auch immer die Frage nach der historischen Dimension.

Letztes Kapitel - Blick zurück nach vorn

Ich fahre nach Kreuzberg, um Sabine Müller-Mall zu treffen. Sie ist Professorin für Rechts- und Politikwissenschaften an der TU Dresden, aber ihr Forschungssemester hat begonnen. Deshalb sitzt sie zuhause in Berlin am Schreibtisch. Sie ist eine von 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in den kommenden vier Jahren das weite Feld der Beschimpfungen, Beleidigungen und Schmähungen erstmals erforschen wollen.
"Unsere Hypothese ist eigentlich, dass diese Herabsetzungsdynamiken nicht nur eine Erscheinung von prekären Phänomenen von Kommunikationsformen ist, sondern dass diese Äußerungen, die wir invektiv nennen können, weil sie herabsetzend wirken, vielleicht so ein Grundmodus ist des Sozialen."
Es klingt kompliziert, was Sabine Müller-Mall beschreibt, und ebenso sperrig ist der Begriff, den die Forscher für ihr Projekt verwenden: Invektivität – verwandt mit dem lateinischen Begriff für Schmähschrift. Invektive. Aber der sperrige Begriff schafft Distanz. Er rückt das Unwohlsein in den Hintergrund, das man angesichts der Hassreden im Internet empfinden kann. Beruhigt den Puls.
"Was wir gut beobachten können, ist, dass solche Konjunkturen immer dann auftreten, wenn wir es auch mit einer medialen Situationen des Wandels zu tun haben. Wir können das total gut beobachten an der Herausbildung von Massenmedien, des Radios, des Internets. ...dass Schmähungen ein Mittel sind. Aber auch eine ästhetische Form, um bestimmte Dinge zu verhandeln. Aber auch ein soziales Mittel, um bestimmte Gruppen zu konstituieren, was man an der neuen Rechten sehen kann."

Beleidigungen sind nichts Neues

Die Gelehrten des Mittelalters hätten sich auf Latein in einer Weise niedergemacht, da bleibe einem heute die Spucke weg, sagt Müller-Mall. Das Beleidigen bei den Römern, das Beleidigen in Malerei, Literatur und Film. Die "Spießer"-Schmähung seit Beginn des 19. Jahrhunderts ebenso wie das Beleidigen als "emotionale Mobilisierung" zu Beginn des "Dritten Reichs".
Ich trete aus dem Café, in dem ich Sabine Müller-Mall getroffen habe. Sonnenlicht fällt durch die Blätter und tanzt auf dem Bürgersteig. Ich fühle mich seltsam leicht.
Schmähen, Schimpfen und Beleidigen sind offenbar nichts Neues. Ist das ein Trost? Vielleicht.
Neu ist jedenfalls der Begriff "Invektivität". Kathrin Kunkel-Razum von der Duden-Wörterbuchredaktion hat ihn sich notiert. Vielleicht kommt er in die nächste Ausgabe des Dudens.
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