Berliner Theatertreffen

Radikales und Experimentelles aus der Provinz

Die Schauspieler Ibrahima Sanogo und Julia Wieninger am 3.12.2015 in Hamburg auf der Fotoprobe von "Schiff der Träume" in der Regie von Karin Beier
Mit der Hamburger Inszenierung "Schiff der Träume" der Regisseurin Karin Beier wird das Berliner Theatertreffen eröffnet. © picture alliance / dpa / Markus Scholz
Thomas Oberender im Gespräch mit Korbinian Frenzel  · 06.05.2016
Das Theater sei modern und wandlungsfähig, sagt der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender. Die aufregendsten Aufführungen kämen dieses Jahr aus Kassel und Karlsruhe.
Der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, hat das Theater als besonderen Begegnungsort gewürdigt. Es könne ganz anders als Film und Literatur schneller und experimenteller reagieren, sagte Oberender anlässlich des Berliner Theatertreffens im Deutschlandradio Kultur. Das sei bei der Eröffnungsinszenierung "Schiff der Träume" der Regisseurin Karin Beier zu sehen, mit der am Abend das Theatertreffen eröffnet wird und bei vielen anderen Aufführungen. Das Theater entwickele neue Erzählformen und andere Begegnungsformen mit dem Publikum.

Theater sind ausverkauft und gut besucht

"Gerade das Radikale und Experimentelle und sehr Kritische kommt dieses Jahr aus Städten, die eigentlich keine Theatermetropolen sind, aus Kassel, aus Karlsruhe", sagte Oberender. "Das ist das Aufregende." Twitter sei schneller als das Theater und auch die Tagesschau habe eine größere Reichweite, aber die Theater seien ausverkauft und gut besucht. "Es ist vielleicht nicht das Leitmedium unserer Zeit, aber es ist eines der modernsten und wandlungsfähigsten Medien unserer Zeit", sagte der Leiter der Berliner Festspiele. Gerade in den digitalen Medien und der virtuellen Realität schauten alle wieder auf das Theater und interessierten sich dafür, was dort entwickelt werde. "Das ist wegweisend, es ist kurioserweise nicht überholt, sondern moderner denn je."

Das Interview im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Heute beginnt das 53. Berliner Theatertreffen. Das traditionsreiche Festival versteht sich als Leistungsschau des deutschsprachigen Sprechtheaters, bei der, man beachte den feinen Unterschied, nicht die besten, sondern die bemerkenswertesten Inszenierungen der zurückliegenden Spielzeit gezeigt werden. Und dafür wird einiger Aufwand getrieben. Rund 400 Inszenierungen schaut sich die Jury an, bevor dann die zehn auserwählten Produktionen bekanntgegeben werden. Und nun haben wir Journalisten ja die unangenehme Eigenschaft aus solchen Zusammenstellungen gern Trends, Entwicklungen oder gesellschaftliche Bestandsaufnahmen herauslesen zu wollen. Da muss unser Gesprächspartner nun durch. Thomas Oberender ist das. Er ist Intendant der Berliner Festspiele, dem Veranstalter des Theatertreffens. Einen schönen guten Morgen!
Thomas Oberender: Guten Morgen!
Frenzel: Herr Oberender, auch auf die Gefahr hin, dass sich der rote Faden als buntgewebtes Netz herausstellt – Sie zeigen Produktionen aus Berlin, aus Kassel, wir begegnen Klassikern, experimentellen Arbeiten auf der anderen Seite von Nachwuchsregisseuren und auch von Theatergrößen. Gibt es da tatsächlich so etwas wie einen gemeinsamen Nenner?
Oberender: Man kann ihn im Nachhinein sozusagen herauslesen, aber er war nicht der Ursprung dieser Auswahl, glaube ich.
Frenzel: Und wo ist er gelandet?
Oberender: Na ja, also ich denke, es gibt thematisch auffällige Übereinstimmungen oder Themen, die sich sowohl durch das Programm der Glorreichen-Zehn-Auswahl ziehen, aber auch eben durch den Stückemarkt. Das hat viel zu tun mit dem Thema "Arrival City", dem ersten Fokus, den das Theatertreffen setzt aufgrund dieser Auswahl. Das Thema ist, dass sich innen und außen vermischen, dass sozusagen die globale Weltlage auch in den deutschsprachigen Ländern, im Theater, in der Kultur widerspiegelt als eine Hinterfragung unserer Lebenssituation in den Städten, ein anderes Konzept von Urbanität. Das sind Themen, die uns in diesem Schwerpunkt beschäftigen, gleich die Auftaktinszenierung heute Abend von Karin Beier, "Schiff der Träume" setzt diesen Schwerpunkt.
Das andere ist, dass wir das Gefühl haben, dass sich Theatersprache verändert. Das reflektieren wir in einem anderen Schwerpunkt, der heißt "Die Figur als Skulptur", und die beschreibt eigentlich neue und interessante Wege, wie heute Aufführungen zu Figuren kommen. Die sind nicht mehr unbedingt Interpretationen von literarischen Vorlagen, sondern die haben andere Quellen, andere Strategien. Es hat viel mit bildender Kunst zu tun. Isa Genzken ist sozusagen die geheime Heldin dieses Theatertreffens.

Interkultureller Grenzgang

Frenzel: Wenn ich noch mal kurz bei den Themen bleibe, ein Thema sieht man auch immer wieder, Flucht und Vertreibung, ein Thema, das ja journalistisch, in den Nachrichtensendungen, überall auch ganz groß ist, in der Politik. Was kann das Theater bei diesem Thema leisten, was andere können, was ist das Mehr?
Oberender: Das Theater ist eine besondere Form von Begegnungsort, und ich glaube, dass das Theater in seinen Fähigkeiten, Sprachen zu entwickeln, vielleicht auch noch mal ganz anders als Film und Literatur, schneller und experimenteller reagieren kann. Das sehen Sie eben wie gesagt in der schon erwähnten Aufführung von Karin Beier heute Abend, die einen merkwürdigen Grenzgang inszeniert, sozusagen interkulturell, aber eben auch, was unterschiedliche Theaterformen betrifft. Das sehen Sie in einer Aufführung, nehmen wir mal jetzt "Mittelreich" aus München, das eine ganz andere geschichtliche Situation von Vertreibung und Umbruch, Metamorphose beschreibt.
Oder nehmen Sie eine Arbeit wie "The Situation" von Yael Ronen vom Gorki-Theater, eine Uraufführung. Ich glaube, das Theater andere Erzählformen dafür entwickelt, andere Begegnungsformen mit dem Publikum, und gerade das Radikale und Experimentelle und sehr Kritische kommt dieses Jahr aus Städten, die eigentlich keine Theatermetropolen sind, aus Kassel, aus Karlsruhe. Das ist das Aufregende.

Digitale Medien schauen auf das Theater

Frenzel: Haben Sie den Eindruck, dass das Theater mit dieser Art und Weise, an Themen heranzugehen, noch durchdringt, also noch hörbar ist? Ich frage das vor folgendem Hintergrund: Heute Morgen habe ich in das Magazin der "Süddeutschen Zeitung" geschaut, ein Interview gefunden mit dem Dramaturg Robert Schimmelpfennig, und der sagt: "Das Theater steht nicht mehr im Zentrum des Interesses der schnellen täglichen Öffentlichkeiten." Ist das eine Erfahrung, die Sie auch machen?
Oberender: Na ja, das – Robert Schimmelpfennig ist nicht Dramaturg, er ist einer der bedeutendsten Dramatiker und der Regisseure unserer Zeit. Den Befund teile ich nicht, den er da macht. Ich weiß nicht, wann das Theater da überhaupt mal so im Interesse stand. Da müssen wir sagen, dass wir zurückgehen in die Welt der Antike, als es sozusagen die praktische Religion der Griechen war. Ansonsten, na klar, Twitter ist schneller, die "Tagesschau" hat einen höheren Reach, wie man heute sagt. Aber Theater – die Theater sind ausverkauft, die sind gut besucht.
Die Theater landen vielleicht nicht mehr auf dem Feuilletonplatz Seite eins, das ist sozusagen eine andere Form von Debattenkultur, die die Medien, auch Sie, wenn Sie jetzt mich interviewen, letztlich suchen. Vielleicht ist es nicht das Leitmedium unserer Zeit, aber es ist eines der modernsten und wandlungsfähigsten Medien unserer Zeit. Und wir erleben gerade, dass gerade in den digitalen Medien, in der Virtual Reality, im 360-Grad-Video alle wieder auf das Theater schauen und gucken, was wird da entwickelt, was für Erfahrung gibt es da – es ist wegweisend. Es ist kurioserweise nicht überholt, sondern moderner denn je.
Frenzel: Das sagt Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele und damit Veranstalter des Berliner Theatertreffens. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Die Sendung Fazit ist am Freitag Abend ab 23 Uhr bei der Eröffnung live dabei. Moderation: Susanne Burkhardt und André Mumot.

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