Berliner Hinterhofmilieu in Kunstform

Von Jörg Taszman · 02.01.2006
Andreas Dresen bleibt nah am Leben. Dem völlig improvisierten "Halbe Treppe", den er auf Video drehte, folgte im Stil klassischen Erzählkinos der Breitwandfilm "Willenbrock". In "Sommer vorm Balkon" erweist er sich erneut als behutsamer Chronist von Alltagssituationen. Der Film kommt nun ins Kino.
Nike, gespielt von Nadja Uhl, lebt als Single im Prenzlauer Berg und hat oben im vierten Stock des Altberliner Mietshauses auf ihrem Balkon die beste Aussicht. Ihre Freundin Katrin, verkörpert von Inka Friedrich, ist allein erziehend, stammt ursprünglich aus dem Westen und hat nach der Wende einen Ossi geheiratet, der sie inzwischen wegen einer Jüngeren verlassen hat. Abends sitzen die beiden Frauen oft auf Nikes Balkon, trinken zusammen Wein, rufen den schüchternen Apotheker von der anderen Straßenseite an oder philosophieren über das Leben.

"Es ist so schön hier mit dir, Nike, so schön drüber. Kannste dir vorstellen, mit
jemand für immer zu leben.

Ick glob da nich dran. Ick hab jelesen, det jibt nen sexuellen Botenstoff im Gehirn. Det is wissenschaftlich erwiesen. Und nach ner Weile ist der einfach weg. Schlagartig.

Die Richtigen sind meist die Falschen. Weisste, was ich meine?

Ick bin eigentlich janz normal."

Nike ist Altenpflegerin und Katrin arbeitslose Schaufensterdekorateurin. Ohne larmoyant oder demonstrativ zu werden, beschreiben Dresen und Kohlhaase präzise, wie mühsam und verletzend es sein kann, Arbeit zu finden. Wolfgang Kohlhaase liefert dabei optimal lebensnahe Dialoge. Der Ton bleibt erfreulich locker, humorvoll. Schnell stellte sich bei den Dreharbeiten heraus, dass es nicht sinnvoll war, die Dialoge zu verändern oder auszuschmücken. Inka Friedrich und Nadja Uhl erklären, warum.

Friedrich: " Es gibt so einfach Satzbauten, die man nicht so einfach umstellen kann. Das wird oft banaler, wenn es so umgangssprachlich ist. Die Sprache von dem Kohlhaase, die wirkt zwar seh alltäglich, sie ist aber nicht banal. Das ist auch keine Alltagssprache, das ist schon eine sehr geformte Sprache. Die muss man beachten. Die hat einen Rhythmus, die hat einen Satzbau, die hat zum Teil etwas eigenwillige Worte. Und wenn man die so wegschnoddert oder ersetzt durch was Anderes, wird es flach, flacher."

Uhl: " Es weicht auf. "Sie sind eine zarte Erscheinung, darf ick sie mal ganz zart anfassen", das ist was anderes, als wenn du sagst: "Ick finde, sie sind 'ne zarte Erscheinung, könnte ich sie mal zart anfassen." Das ist ein anderer Rhythmus. Schon kleine Dinge verändern da viel. Es ist Berliner Hinterhofmilieu in eine Kunstform gebracht. Zillesprache kultiviert. "
Was Inka Friedrich und Nadja Uhl, die noch nie gemeinsam gespielt haben, verbindet, ist ihre langjährige Bühnenerfahrung. Die 1969 in Freiburg geborene Friedrich studierte Schauspiel an der Hochschule für Darstellende Künste in Berlin und hatte feste Engagements in Basel und Hamburg. Nadja Uhl, die in Stralsund 1972 zur Welt kam, lernte an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater und begann ihre Karriere 1994 am Potsdamer Hans-Otto-Theater, wo sie fünf Jahre lang auf der Bühne stand. Ihr Leinwanddebüt mit "Die Stille nach dem Schuss", geschrieben von Wolfgang Kohlhaase, brachte ihr gleich einen Silbernen Bären ein. Inka Friedrich debütierte im Kino unter Andreas Dresen in "Willenbrock". So kannte sie bereits den Regisseur, Nadja Uhl dagegen den Drehbuchautor.

Uhl: " Da haben wir noch gar nicht darüber gesprochen. Stimmt. Das war bisher noch nie ein Aspekt. Außer, dass ich mich natürlich darüber gefreut habe, dass Wolfgang auf mich zurückgreift und sicher schmeichelt einem das, dass man wieder von den Leuten geholt wird. Das ist besser, als wenn man sagt: "Mit der nie wieder." Haben wir bisher noch nicht drüber gesprochen."

Friedrich: " Ich hatte die "Stille nach dem Schuss" natürlich gesehen. Ich fand das auch toll, gerade was ihr Alkoholproblem da in dem Film anging. Aber sonst kannte ich Kohlhaase - ich hatte nur "Solo Sunny" gesehen - ich kannte ihn gar nicht persönlich. "

Mit Andreas Dresen würde Inka Friedrich immer wieder arbeiten, und schon ab März wird sie unter seiner Regie am Deutschen Theater in "Kasimir und Karoline" zu sehen sein. Nadja Uhl, die wie Dresen in Potsdam wohnt, kannte ihren Regisseur vor dem Film kaum. Beide Schauspielerinnen empfanden die Dreharbeiten zu "Sommer vorm Balkon", der schnell und spontan entstand und auf 16 Millimeter gedreht wurde, als beglückend.

Friedrich: " Es ging wirklich holter-polter, man war gleich so reingeworfern in die Situationen. Dann haben wir über Freundschaft geredet, über die Figuren."

Uhl: " Ja, durch diesen Zeitdruck wurde es gleich unglaublich konstruktiv. Ich hab mich öfter mit Andreas - wir wohnten zwei Straßen voneinander entfernt, hatten uns aber bis zu dem Zeitpunkt nur ein einziges Mal auf irgendeinem deutschen Filmpreis gesehen, so zwischen den Klos, obwohl wir so nah bei einander wohnen. Und dann trafen wir uns in Vorbereitung dieser Arbeit genau in der Mitte, wo optimalerweise eine Kneipe lag, und haben über die Figuren geredet. Es musste alle sehr schnell werden durch den Zeitdruck."

Nadja Uhl darf fast aufreizend sexy spielen, ihre Nike ist mal leicht oberflächlich, dann wieder liebevoll kümmernd. Inka Friedrichs Katrin ist etwas melancholischer angelegt. Und doch überzeugt "Sommer vorm Balkon" durch seine Leichtigkeit und lebensnahe Situationen. Als behutsamer Chronist von Alltagssituationen beweist Andreas Dresen nach "Halbe Treppe" einmal mehr, dass im deutschen Film kein anderer derzeit so unprätentiös nah am Leben ist wie er.
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