Berliner Binnen-Seemänner

Von Andreas Becker · 13.07.2012
Seit knapp fünf Jahren gibt es in Berlin-Kreuzberg einen Shanty Chor: 15 Männer - Werber, Journalisten und Ärzte - , die ihre Wurzeln im linksalternativen Milieu Westberlins haben. In den Niederlanden und in Schleswig-Holstein sollen ihre Songs schon im Radio zu hören gewesen sein.
Konzertansage:
"Was ich unheimlich praktisch finde - Manchmal fragen einen ja Leute: warum im Gottes Willen singt ihr Shantys? man muss sich nicht so viele Namen merken!: Hier heißen alle Johnny und Sally. Das ist übersichtlich."

"No more money – wir waren nicht ganz zusammen. Ich weiß auch nicht, wie ich da jetzt Sally Brown singen soll. Weiß ich einfach nicht mehr.
Sally Brown. Damm damm damm dadada - nein! Okay. Okay!”"

Bei den Proben einen Tag vorm großen Auftritt, sitzt der Text noch nicht richtig. Eigentlich wollte der Seemann doch gerade kein Geld mehr für die süße Sally rausschmeißen.

Am nächsten Abend steht die Shanty Crew in der Kreuzberger Kneipe Ursula Montinaro im Halbkreis auf der Bühne. 15 Sänger sind es, erst jüngst ist ein Neuberliner aus Hamburg dazu gestoßen, alle tragen rote Halstücher.

Als der Anästhesist Michael Friedrichs die Kreuzberger Shanty Crew gründete, ging es eigentlich nur um ein Geburtstagsständchen.
"Das war eigentlich so ne Idee, privat, lass uns doch mal was anderes zusammen machen. Frau dann tauchte die Idee auf, lass uns doch mal mit Seemannsliedern versuchen. Machen jetzt mal nen Männerchor. Ich hab’ dann in ’ner Bibliothek ein großartiges Buch gefunden. Von 1947, was wahrscheinlich noch nie jemand ausgeliehen hatte: "american sea songs and shantys". Heh, ist eigentlich ganz cool, kann man singen, auch wenn man nicht der ausgebildete Sänger ist."

Aber wie kommt man in Berlin, weit weg vom nächsten Meer, ausgerechnet auf Seemannslieder?

"Shantys? Da gab’s erst mal so’n kleinen Aufstand - warum sollen wir Shantys singen?"

Shanty-Crew-Mitgründer, der Jornalist Holger Wegemann:

"Das kannte ich nur aus’m Musikantenstadl, und Hamburger Fährmaster. Erst mal kotzen. Das Zweite, was mich motiviert hat, das sind noch Volkslieder, das sind Arbeiterlieder, (das kann eigentlich jeder singen) ... ?"

"Also, diese schottischen oder irischen Lieder sind nicht nur traurig, sehr traurig ... sie haben in der Regel nicht nur ein Unglück, sondern zwei, drei Unglücke. Von eins dieser vielen Unglücke handelt jetzt auch dieses Lied: lifeboat mona."

Der raue Alltag des Shantysängers hat nur wenige Vergnügungen zu bieten - beim Konzert gab’s immerhin zwei große Freibier pro Sänger.

Manchmal singt die Crew auch bei Straßenfesten. Berühmt wird man so nicht. Deshalb wollten die Sänger auch wenigstens mal mit den großen alten Männern der "Dubliners" auf ein gemeinsames Foto. Also schlichen sie sich extra in die Irische Botschaft:

"Das sind ja Stars, die wollen wir kennen lernen. Unser Ziel war wir wollen nen Foto von uns und den Dubliners, weil wir wollen ja auch Stars werden. Dann ham wir uns erst mal auf’n Hof gestellt und Shantys gesungen. Dann ham wir uns mit denen hingestellt, so’n richtig klassisches Foto vor ’ner leinwand von Irland. Wir sind nix, und die sind Stars der Folkmusik."

Echte Kreuzberger aus der Alternativszene reflektieren natürlich auch brav die Geschlechterfrage, bevor sie singen:

"Wir haben mal so’n Witz gemacht, wir singen nicht mit Frauen ... weil wir in Beziehungen leben, das war auch so’n Männer-Projekt."

Obwohl die Shanty-Crew fast durchgängig ergraut ist, sitzen
beim Auftritt in der Kneipe drei Damen gebannt direkt vor den Sängern:

"Ich find das toll, dass sich in unserm Bezirk Kreuzberg so tolle Männer zu einem Shantychor finden, kann’s nicht fassen , ich bin überwältigt, und ich bin selbst in fünf Chören."

Fan Ingrid Peters darf dann beim obligaten "Drunken Sailor", den sie sich gewünscht hat, selbst auf die Bühne. Und man hört sie sogar raus! Stolz drängt sie sich zwischen die Halstuch-Träger der Crew:

"Wollt ihr jetzt mal das Lied singen, wo ihr alle gedacht habt, das ist ein Shanty? Möchte jemand mit singen?"


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