Bergbesteigungen und Hochseefahrten

25.06.2013
Wer reist, der schreibt. In den Logbüchern und Notizheften, Briefen und Tagebüchern von Forschern und Schriftstellern steckt eine Literaturgeschichte überwältigender Momente. Der Philosoph Jürgen Goldstein erweckt sie in seinem Buch "Die Entdeckung der Natur" vielstimmig zum Leben.
1699, die Künstlerin Maria Sibylla Merian reist von Amsterdam in die Urwälder Südamerikas, um Raupen und Schmetterlinge zu malen. 1777, der Geheime Rat Goethe ist seiner Verwaltungsgeschäfte in Weimar überdrüssig und reist in den Harz, um den Brocken zu besteigen. 1831, der Student Charles Darwin flieht vor den blutigen Studien der Medizin und den tristen der Theologie, um an Bord eines Forschungsschiffes um die Welt zu fahren.

In 16 Kapiteln skizziert Jürgen Goldstein eine Literatur- und Geistesgeschichte der Naturerfahrung. Dabei geht es ihm nicht um Pioniertaten bedeutender Entdecker. Goldstein versammelt Schlüsselszenen der Schaulust. An Bergbesteigungen und Hochseefahrten zeigt er, wie Forschungsreisende und Dichter seit dem 14. Jahrhundert versuchen, die Natur aus der unmittelbaren Anschauung heraus zu verstehen, und damit eine völlig neue Art von Naturbeschreibung prägen.

"Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst", mahnte der Kirchenlehrer Augustinus, noch Ende des 4. Jahrhunderts. Seither galt jede "Begierlichkeit der Augen" lange Zeit als frevelhaft. Nichts Äußerliches sollte den Gläubigen ablenken. "Es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres", klagte Augustinus, "und haben nicht acht ihrer selbst."

Noch der Renaissance-Dichter Francesco Petrarca hadert mit diesem Tabu, als er seinen Aufstieg auf den Mont Ventoux im Jahr 1336 beschreibt. Petrarcas Text gilt als Urszene der eigenständigen literarischen Naturschilderung. Doch nachdem der Dichter weit über die Provence geschaut hat, schlägt er die "Bekenntnisse" des Augustinus auf und erinnert sich dessen Kritik an der Augenlust. Reumütig packt Petrarca das Buch wieder ein und kehrt zurück ins Tal.

Viele Entdecker führen Bücher mit, als sie in die Natur aufbrechen, und nicht wenigen justieren sie den Blick. Als Georg Christoph Lichtenberg vor Helgoland in schwere See gerät, bindet er sich wie einst Odysseus "mit einem Strick an den Hauptmast fest". Christoph Kolumbus fehlen die Worte für die üppige Vegetation der Neuen Welt. Er behilft sich mit Motiven europäischer Paradiesvorstellungen, in seinem Bordbuch sind alle Bäume grün, das Wasser klar, die Buchten lieblich.

In einer elegant verwobenen Montage von Reisenotizen, Expeditionstagebüchern, Briefen und weiteren Quellen aus sechs Jahrhunderten zeigt Jürgen Goldstein, wie die Naturschilderung mit Autoren wie Georg Forster und Alexander von Humboldt zur Blüte gelangt ist und unser Verständnis von einer eigengesetzlichen, von religiösen Vorstellungen abgelösten Natur bis heute prägt.

Sein glänzend geschriebenes und klug komponiertes Buch ist die Liebeserklärung an eine unterschätzte literarische Gattung. Während moderne Abenteurer wie Reinhold Messner Natur nur mehr als Kulisse ihrer Selbstbestätigung begreifen, laden die historischen Zeugnisse eines Schreibens im Angesicht von Bergmassiven und Wellenkämmen dazu ein, das Verhältnis zu unserer eigenen Naturgeschichte wieder zu entdecken.

Besprochen von Frank Kaspar

Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte
Reihe: Naturkunden No. 3, herausgegeben von Judith Schalansky
Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2013
312 Seiten, 38,00 Euro