Berechnete Klänge

Von Stefan Amzoll · 20.09.2006
Die Musik, eine der sieben freien Künste, galt im Quadrivium neben der Arithmetik, der Geometrie und der Astronomie als eine wissenschaftliche Disziplin. In der Praxis erschien eine Komposition um so kunstfertiger, je mehr rechnerischer Aufwand vom Komponisten betrieben wurde. Ein heute in der Computermusik sehr aktueller Gedanke.
Impulse aus einer scheinbar entrückten Welt. Musik als tönendes Gleichnis, das für eine Weltharmonie steht.

Friedrich Schenker: "Es gibt ja auch diese Sphärenharmonik, da hat man das draufgedrückt, die Bewegung der Planeten, der Sterne, das ist ja auch ein mathematischer Traum."

Die Idee der Sphärenharmonik ist tatsächlich knochenalt, und geträumt haben sie zuerst die Denker der Antike und des frühen Mittelalters. Ob diese in den Träumen auch geklungen hat?

Gerd Rienäcker: "Es hat seit dem frühen Mittelalter zwei Musikbegriffe gegeben."

Gerd Rienäcker, Musikhistoriker.

"Einen von Augustinus, der sagte, am Anfang war das Wort, und die Musik dürfe das Wort nicht verunklaren. Er sagt konjunktivisch, wenn das so wäre, wünschte ich den lieblichen Sänger weit weg von deinem Ohr, lieber Gott. Und die andere von Boethius, in der die Musik die Ordnung Gottes darstellt. Also nicht die Illustration des Wortes ist, sondern die Gesamtheit des Universum repräsentiert. Und das Universum ist durch Mass und Zahl geordnet. Ich denke, dass ein grosser Teil europäischer Polyphonie, vor allen Dingen, wo sie radikal ist, sich nicht Augustinus sondern Boethius angeschlossen hat."

Von Erkenntnissen der alten Griechen aus versuchte Johannes Kepler die Bewegung der Planeten im Hinblick auf musikalische Proportionen zu beschreiben. Die Musik, eine der sieben freien Künste, galt im Quadrivium neben der Arithmetik, der Geometrie und der Astronomie als eine wissenschaftliche Disziplin. In der Praxis erschien eine Komposition um so kunstfertiger, je mehr rechnerischer Aufwand vom Komponisten betrieben wurde. Ein heute in der Computermusik sehr aktueller Gedanke.

Musik, die abstrakteste aller Künste, lädt auch später, in der Epoche der Romantik, förmlich dazu ein, als tönendes Gleichnis der ewigen Harmonie begriffen zu werden.
Novalis schrieb:

"Die musikalischen Verhältnisse scheinen recht eigentlich die Grundverhältnisse der Natur zu sein."

Und in Schellings "Vorlesungen über Philosophie und Kunst" 1802/03 heisst es:

"Auch im Sonnensystem drückt sich das ganze System der Musik aus."

Komposition und Mathematik. Erst im 20. Jahrhundert wird das Verhältnis wirklich virulent und stachelt einen - freilich schmalen - Teil der Künstlergilde an: Ist Musik berechenbar, berechenbar in einem mathematischen Sinn? Gehören numerische Tonfolgen, Intervallbeziehungen, Kontrapunkte unabdingbar zu ihrer Identität, geben sie ihr gar das Gepräge?

Eine "berechnete Musik" ist geschichtlich zunächst Resultat theologischen Nachdenkens. Kam vor über 500 Jahren die Kunstmusik in die Welt, so kam auch das Hantieren der Tonsetzer mit Zahlen in die Welt der Höfe und Kirchen. Nach dem Ende der römischen Antike ist also der Ansatz zunächst kein mathematischer, sondern ein theologischer.

Gerd Rienäcker: "In der Tat sind die theologischen Sachen der Ausgangspunkt, und nicht die naturwissenschaftlichen. Die ganze niederländische Polyphonie, in der ich keine Textsilbe verstehe, ist gleichwohl theologisch, weil die Gesamtordnung Gottes dargestellt wird. Und es gibt einen verräterischen Satz in Bachs Eintragung, der noch nicht mit Zahlen zu tun hat, aber darauf hinlenkt: Bei einer andächtigen Musik ist Gott alleweil in seiner Gnadengegenwart, er sagt, nicht bei einem andächtigen Gebet und Hinzukommen der Musik, sondern er sagt, Musik ist selbst Gebet und Andacht. Sie weiss also sich vom Wort frei. Sie repräsentiert selbst. Es gibt eine Weltenharmonie und diese Weltenharmonie ist durch das Stimmengefüge, durch Zahl und Maß gegeben.
Natürlich gibt es im Eingangschor der Matthäuspassion 2 x 5 Takte Orgelpunkt. Das ist der Dekalog. Die Passion ist gesetzmässig. Dazwischen 3 Takte Kadenz, Trinität, 5 + 3 + 5 + 3, nach dem 5. Takt kommt der Bass ins Rollen.

Natürlich wird 11 Mal gefragt, weil der 12. Jünger nicht fragt. Natürlich gibt es Stücke, wo auch das Buchstabenalphabet von J. S. B. herauskommt, ich glaube die Zahl 43 oder 44. Ich meine aber, dass für Bach verschiedene Musikbegriffe gleichzeitig eine Rolle spielen. Die Musik ist entfesselte Sinnenfreude und die Musik ist Ordnung."

Friedrich Schenker, Komponist und Posaunist, schrieb 1999 eine "Goldberg-Passion", ein grossdimensioniertes Werk, das Material aus Bachs "Goldberg-Variationen" verarbeitet.

Friedrich Schenker: "Das ist sicher ein Höhepunkt, die Goldberg-Variationen, oder auch bei Fugen, ob das das 'Wohltemperierte Klavier' ist oder was immer, merkt man natürlich, dass bei Bach, wenn er ein Thema auffindet, da schon weit hineinweist, wie das andere antwortet und wie das funktioniert. Auf die Spitze getrieben ist das in den Goldberg-Variationen, wenn er Kanons macht in den irrwitzigsten Intervallen, eigentlich in allen. Und da muss man natürlich schon sagen, dass in einem Komponisten wie Bach es im Kopf schon einen Computer gegeben hat. Der brauchte das gar nicht berechnen, der hatte das für sich schon geklärt, das geht gar nicht anders. Also, er ist ein aberwitziger Konstruktivist, aber nicht, dass es irgendjemandem auffiele, oder merkt, dass es aufgesetzt wäre, sondern es wird zur großen Musik. Und das ist natürlich der Witz: Mathematik in der Musik ist wichtig, aber sie muss möglichst nicht auffallen."

Das 20. Jahrhundert verlieh der Mathematisierung der Künste wohl die stärksten Schubkräfte. Die 20er Jahre bringen der zivilisierten Welt eine Mechanisierung, Technologisierung, Elektrifizierung ungeahnten Ausmasses. Alexander Mossolows Orchesterstück "Eisengiesserei" verbildlicht solche Vorgänge durch eine entfesselte Motorik.

Die freigesetzten technischen Produktivkräfte stellen auch die Kunst, ja den ganzen Komplex der Kultur vor neue Probleme. Walter Benjamins Schrift "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", verfasst in den 30er Jahren, bescheibt am Beispiel der Filmproduktion sehr genau die Situation. Das Kunstwerk werde in dem Moment aus seinen Ursprüngen gerissen, in dem es in den freien Raum gerät und für jederman verfügbar wird. Als derlei heftig sich meldete, ging ein Raunen durch die kreative Welt. Das Kunstwerk, aus seinem Kontext gerissen, bar seiner Rituale, welch ein Sakrileg!

Indes: Kunst über die Medien Schallplatte, Radio, Film nehmen die Menschen willig an. Sie gehört in den 20er Jahren schon bald zur Massenerfahrung. Freilich, die Kunstavantgarde antwortet darauf - sehr eigenwillig, wie nicht anders zu erwarten. Erneuerer des künstlerischen Materials spüren die enorme Raschheit der Ereignisse körperlich, sie geniessen die fluktuierende großstädtische Kultur, sie nutzen den raschen Wandel der Kommunikations-und Verkehrbeziehungen und - gestalten ihn. Der Franzose Arthur Honegger gab einem seiner Orchesterstücke den Titel "Pacific 231". Name für die jüngste Kreation eines Schnellzuges.

Das Bewusstsein, eine Unzahl Elemente, Materialien und Funktionsvarianten zusammenstellen und systematisch ordnen zu können, unabhängig von den Massgaben einer "seelenhaften" Kunst, schärft sich auch in den Bereichen der seriellen und elektronischen Musik.

Der folgenreichste Einbruch der Mathematik in die Komposition geschieht in der Zeit des Nachkriegs, den 40er/50er Jahren, in der Bundesrepublik und Westeuropa. Obwohl der Sektor sehr klein ist, schiessen serielle Kompositionen und dazugehörige Theorien wie Pilze aus dem Boden, gute wie schlechte, innovative wie sinnlose. Zwei im Prinzip ähnliche Tendenzen stehen einander gegenüber: Zum einen die "musique concrete" der Franzosen Pierre Schaeffer und Pierre Henry, die Materialien der akustischen Welt, O-Töne oder Sampels würden wir heute sagen, nach seriellen Gesichtspunkten organisiert.

Zum anderen die seriellen Methodiken der Avantgardisten um Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono, die teils elektronische Klänge, teils gebräuchliche Instrumente und Stimmen verwenden. In Ihren Verfahren tritt zur Serialität der Töne und Intervallbeziehungen die Serialität der Klangfarben, der Tempi, der Metren, der Lautstärken, auch der Instrumentation, der Artikulation hinzu. Die Zeitberechnung tritt bisweilen derart wahnwitzig in den Fokus, dass entsprechende Kompositionen eine permanente Geschäftigkeit und Unruhe suggerieren. Solche Werke haben oft keinen Anfang und kein Ende.

Der serielle Ablauf der Musik, obwohl genau berechnet, wirkt beliebig. Zum Zuge kommen frei schwebende Ereignisfelder, die weder Takte noch Schwerpunkte haben, worin Metren und Rhythmen nur noch eine marginale Rolle spielen. Durch die seriellen Brille gesehen, erscheint hierdurch die ganze klassische Dramaturgie, die ganze Palette der Ausdrucksmusik wie zerstäubt. Das ist natürlich gewollt, und nicht selten geht die Rechnung auf. Zu den besten Werken dieser Periode gehören Nonos Orchesterwerk "Incontri" und Boulez' Kammermusik "Le Marteau's sans Maitre". Es sind überzeugende Beispiele der seriellen Schreibweise.

Friedrich Schenker hat eine Zeit lang auch so gearbeitet, aber er hat auch seine Bedenken:

"Es wurden dann nicht nur die Zeiten, sondern es wurde auch noch die Dynamik mathematisiert, also von fünffachem Fortissimo bis fünffachem Pianissimo. Ich glaube, bei Nono gibt es da einige Beispiele, wo das eine Rolle spielt. Einige haben dann auch noch die Klangfarben nummeriert. Ich muss sagen, das ist eine Arbeit ohne Sinn. Das hat sich dann auch erledigt... "

Die serielle Bewegung mochte jenes restlos durchserialisierte, jede einzelne Dimension, jedes einzelne Element exakt festlegendes Musikwerk gesucht haben, gefunden hat sie es nicht.

Entscheidend ist: Mathematik und Komposition, zwei unterschiedliche Gebiete mit je eigenen Kategorien, treten in jener Phase erstmals in fruchtbare Wechselwirkung, ihre Erkenntnisse ergänzen sich.

Die Möglichkeit, die Klangdimensionen und -elemente in Serie zu bringen, sie also auszumathematisieren, mit und ohne elektronische Hilfsmittel, gehört in eine Zeit, in der erstmals die Kräfte der Mikroelektronik erwachen. Deren Siegeszug liegt zwar noch in der Ferne, aber das Wort ist schon kein Fremdwort mehr. Mikroelektronik wartet gleichsam auf ihre konsequente Ausarbeitung und breite Anwendung.

Auftrieb erhält nicht minder die Elektroakustik, die Messung des Klangraums, die Schallanalyse, die Analyse des natürlichen und künstlich erzeugten Klangs, die Klangsynthese. Elektronische Klangerzeugung hält Einzug in Rundfunkstudios und stösst auf kompositorisches Interesse, freilich auch auf Gleichgültigkeit und Ablehnung.

Serielle Musik ist eine Antwort. Vor allen Dingen eine Antwort auf die Übermacht der Tradition. Musik, aufgepumpt mit Tiefsinn, Ausdruck und Überchromatik, gehört zum Feindbild der seriellen Bewegung, zu der auch so prominente Künstler wie Iannis Xenakis und Olivier Messiaen zählen. Beiden eignet eine intensive Beschäftigung mit Reihen, Serien, Proportionen, Artikulationsweisen, Häufigkeitsverteilungen.

Xenakis, er starb 2004, zählt zu den wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Den Computer hat er schon in den 60er Jahren benutzt. Mit dessen Hilfe schrieb er Streichquartette und andere Kammermusik. Anfangs generierte er tatsächlich nur die Struktur der Musik, später, in den 80er Jahren, suchte er ältere Methoden umzusetzen, mit deren Hilfe er den Klang beschreiben konnte. André Bartetzki:

"In den allermeisten Fällen verwendet die elektronische Musik, sobald sie die Klänge künstlich erzeugt, ein Modell, was wir aus der physikalischen Akustik her kennen: Der Klang lässt sich beschreiben aus einer Summe von Teiltönen oder Obertönen, hat ein gewisses Spektrum, und durch Addition unterschiedlicher Teiltöne kann man dann unterschiedliche Klangfarben erzeugen wie Klavierklänge oder Glockenklänge, Orgelklänge, bis hin zur menschlichen Stimme. Und bei Xenakis ist das völlig anders, er verläßt dieses Modell und baut praktisch einen auf Zufall oder Wahrscheinlichkeitsrechnung basierenden Klang."

Xenakis hat seine Kompositionen selbst auch als "stochastische Musik" bezeichnet, da diese mit genau berechneten Häufigkeitsverteilungen operiert. Die wiederum entwickeln eine ganz eigentümliche Dynamik des Klangs. Was bezeichnet "stochastische Musik"?

Andre Bartetzki: "'Stochastische Musik', soweit sie auf Xenakis sich beziehen lässt, bezeichnet eigentlich alles. Sowohl die Struktur herkömmlicher Klangorganisation, wo wir Instrumente haben, die Töne spielen, Rhythmen, Dauern,... Lautstärken - das ist stochastische Musik, aber auch stochastischer Klang. Das gibt es beides bei Xenakis."

Was ist eigentlich Computermusik?

Andre Bartetzki: "Computermusik beschreibt ein sehr, sehr weites Feld. Der Begriff ist sehr schwammig noch. Man mag sich drunter was vorstellen, aber es gibt sehr viele Möglichkeiten, den Computer im Zusammenhang mit Musik oder mit Musikproduktion zu benutzen. Das geht von der einfachen klassischen Tonaufnahme, die heute selbstverständlich nicht mehr mit Tonbändern stattfindet, sondern natürlich im Computer, bis hin über computergesteuerte elektronische Instrumente oder eben computergeneriertem Klang oder, ein Viertes, wäre eben auch die computergenerierte Struktur. Das sind die Felder, die man vielleicht heute allesamt im Computermusik-Studio oder mittlerweile auch im normalen Tonstudio bedienen kann."

Das erste rein computergenerierte Musikstück eines DDR-Komponisten stammt von Georg Katzer. Sein Titel "Steine-Lied" spielt auf die Siliziumkristalle an, die für die Herstellung von Computerchips unentbehrlich sind. Katzer machte das Stück im Studio EMS Stockholm. Sein Kommentar:

"Zur Verfügung stand das auf einem Grossrechner (VAX) implementierte Programm 'Chant', das im IRCAM/Paris eigentlich zur Sprach- und Gesangssimulation entwickelt worden war. Mir diente es dazu - durch leichte Eingriffe in die Software - Klänge weitab von der menschlichen Stimme zu erzeugen. Lediglich im Titel ist etwas von 'Chant' übriggeblieben, doch es sind die Siliziumkristalle, die mit rauher Stimme 'singen'. Mit Ausnahme eines Abschnitts in reiner Stimmung sind alle Zusammenklänge imperfekt. Primzahlen bestimmen die Tonhöhen. So kann es zum Beispiel auch keine reinen Oktaven geben."

In anderer Art, nämlich im Sinne der "musique concréte", operiert der Komponist Lutz Glandien in dem Stück "Cut". Keine 12-Tonreihe steht hier zu Gebot, sondern eine 12-Klangreihe.

"Wir haben damals hunderte Geräusche aufgenommen im Studio, alles anlog, auf Tonbandmaschinen, und die wurden, wie man seriell arbeitet, in bestimmte Längen zerschnitten und wieder aneinandergeklebt. Also Viertelnoten, 16tel, 32tel, also 38 cm, 19 cm, 9einhalb usw. Und auf diesen Tonbandpartikeln, was ja eigentlich Notenlängen sind, waren ganz verschiedene Geräusche, und daher auch der Titel 'Cut', Material wurde zerschnitten, genauso wie Deutschland zerschnitten wurde."

"Cut", eines der bedeutenden elektroakustischen Stücke der späten DDR, ist in allen Belangen ausgehört und -geabeitet, ja vom ersten bis zum letzten Klang durchgerechnet. Und das bringt einen ungeheuren substantiellen und sinnlichen Gewinn.

Lutz Glandien beschäftigt sich seit langem mit den Problemen der elektroakustischen und Computermusik. Am Computer komponiert er fast ausschliesslich hörend, d. h. sehr selten schreibt er noch Partituren.

"Der Prozess, wie die Töne entstehen, startet ja bei irgendweiner Art von Programmierung. Entweder ich benutze feste Module oder Patches oder ich programmiere Formeln, die dann intern im Computer über Algorhythmen in Töne, in Frequenzen, in Rhythmen umgewandelt werden. Das ist allgemein der Prozess. Vom Gedanken zum Ton. Das ist aber noch keine musikalische Idee. Das ist erstmal eine mathematische Umsetzung von Algorhythmen in Frequenzen oder in Rhythmen oder in Klangfarben... Der kreative Prozess, der setzt für mich erst ein, wenn ich das Ergebnis... beurteilen muss und das in meine persönlichen Absichten einzuordnen habe. Und ich glaube, da spielt der fragwürdige Begriff der künstlerischen Verantwortung schon eine Rolle. Es hängt dann sehr, sehr viel mit Erfahrung zusammen, wieviel von diesen vermeintlichen Ergebnissen lasse ich durchgehen oder akzeptiere ich als wirklich authentisches oder spannendes, außergewöhnliches künstlersiches Material, was mit meinen persönlichen Vorlieben oder Phantasien zu tun hat."

Lutz Glandien macht sich auch das Verfahren der "Granularsynthese" zunutze. Es ist ein mathematisch-musikalisches Verfahren und ermöglicht, den Klang in winzige kleine Scheiben, die Mikrosekunden und noch kürzer sein können, zu zerschneiden und umzuwandeln. Und durch Algorhythmen oder bestimmte Patchworks kann man bestimmen, wie dieser Klang oder diese Scheibchen sich neu zusammensetzen können. Ausgangsmaterial ist das Wort "Eins".


Lutz Glandien: "Das war für mich eine positive, fruchtbare Erfahrung, wo der Computer für mich eine Art Materialspender war, also Klänge generiert hat, auf die ich allein durch Phantasie oder andere Methoden nie gekommen wäre. Das finde ich spannend an der Arbeit mit Computer oder Algorhythmen."

Noch einmal Andrej Bartetzki. Er war zunächst Tonstudiotechniker, später studierte er Tonmeister an der Musikhochschule "Hanns Eisler" in Berlin.

""Bei mathematischen Prozeduren haben wir es mit sowas zu tun wie Beweisen oder Verfahren. In der Computermusik sollte man eher sprechen von formalisierbaren Strukturen, die kompositorischen Gedankengängen entsprechen, und soweit sie sich formalisieren lassen mit Hilfe einer Computersprache, dann vom Computer übernommen werden können. In der Computermusik spricht man dann im engeren auch von algorhythmischer Komposition."

Wieweit hat das mit Mathematik zu tun?

""Mit Mathematik hat es natürlich insoweit zu tun, als das, was man dann im Computer auf ganz grundlegender Ebene tut, nämlich Zahlen zu manipulieren. Aber Zahlen selbst sind ja auch noch keine Mathematik, sondern einfach nur Symbole, um Quantitäten zu benennen."

Eine weithin gebräuchliche Unterscheidung ist problematisch geworden, die zwischen der rein synthetisch produzierten Musik und der elektroakustischen Musik, die mit der Gesamtheit existierender Klänge umgeht. André Bartetzki:

"Ich selbst, wenn ich Stücke produziere, meistens komponiere ich fürs Tonband, sagt man immer noch, natürlich ist es der Computer, also fixierte Klänge, in den allermeisten Fällen verwende ich tatsächlich vorgefundene Klänge, O-Töne oder Sampels, und synthetische Klänge nur als Hilfsmittel, etwa einen Sinusoszillator, um einen Klang vibrieren zu lassen oder dessen Position im Raum zu steuern. Da bin ich überhaupt nicht der Einzige, sondern befinde mich auf Seiten der Mehrheit. Ich denke, die übergroße Mehrheit elektronisch produzierter Musik arbeitet heute mit Sampels, sowohl im Pop-Bereich als auch in der sogenannten klassischen elektroakustischen Musik."