Bequeme Nischen

Von Reinhard Kreissl · 11.05.2005
Von A bis Z von Adorno bis Zola –Intellektuelle haben an allem etwas auszusetzen. Ihr Metier ist die Kritik. Sie bohren mit dünnen Nadeln in dicken Brettern – mit Vorliebe dann, wenn diese Bretter vor den Köpfen der Anderen sind.
Intellektuelle sind Stichwortgeber, sie liefern das Vokabular, das Irritationen benennbar macht. Im besten Fall sind sie die Geburtshelfer in den Wehen historischer Umwälzungen. Im Normalfall sorgen sie für unterhaltsame Lektüre im Feuilleton und entfachen Strohfeuer der Erbauung für die gebildeten Stände.

Aber auch Kritik gehorcht dem Gesetz von Angebot und Nachfrage: zu viele Themen verderben den Preis und Kritik an täglich wechselnden Schlagzeilen verliert an Gewicht. Von der islamischen Überfremdung bis zum sozial verträglichen Ableben in der Gesellschaft der Methusalems, vom moralischen Verfall des Kapitalismus bis zur europäischen Verfassung werden die heute noch bedrohlichen und morgen schon vergessenen Themen mit der Aura des Weltbewegenden versehen.

Selten sind die Momente, in denen es möglicherweise wirklich um etwas gehen könnte, in denen Grundfragen der Verfassung und Verfasstheit auf die Tagesordnung kommen und sich ein kurzes historisches Fenster für neue Antworten öffnet.

Wissen kann man das immer nur im Nachhinein – sehr zum Ärger der Propheten. Welcher Intellektuelle träumt nicht davon, es im Nachhinein vorausgesehen zu haben, selbst wenn es nur der traurige Triumph ist, dass sich die eigenen Warnungen bewahrheitet haben?

Meist aber ist den Deutungen eine kurze Halbwertszeit beschert. Die Apokalypse von heute landet morgen beim Altpapier. Intellektuelle Kritik scheint beliebig zu werden, es fehlt die große Klammer, die alles zusammenhält.

Von dieser Diagnose ist es nicht mehr weit zur Kritik der Kritiker, zur Intellektuellenschelte. Es schlägt die Stunde der Experten, die sich der Wahrheit auf der Basis von Zahlen, Daten und Fakten verpflichtet fühlen. Gegen die geistigen Höhenflüge der Intellektuellen mit dem Adlerblick gibt der Fachmann den Flachmann, der am Boden der Tatsachen bleibt und die Wenn-Dann-Rationalität predigt: Wenn man dies tut, dann wird jenes passieren. Die Welt – für den Intellektuellen ein Verblendungszusammenhang – wird dem Fachmann zur berechenbaren Maschine.

Die Intellektuellen schlagen im Angesicht dieser Kritik mit der Diagnose des Postmodernismus zurück: Alles geht und nichts funktioniert. Fragmentierung, Unübersichtlichkeit, Individualisierung sind ihre neuen Schlüsselbegriffe. Was aber kann der Intellektuelle in wessen Namen unter diesen Bedingungen noch einfordern? Wie soll er seine Aufgabe begreifen? An welchem Nagel hängt er seine Kritik auf? Wen kann er anklagen?

Zygmunt Bauman, der polnisch-englische Sozialtheoretiker hat hier Bescheidenheit angemahnt. Die Intellektuellen sollten sich von der Rolle der Gesetzgeber verabschieden und sich mit der Aufgabe des Übersetzers bescheiden. Es gibt keinen privilegierten Ort mehr, von dem aus das Ganze autoritativ zu überblicken ist. In der prismatisch schillernden Welt der Postmoderne, in der sich die meisten von uns bewegen, wächst den Intellektuellen eine neue Aufgabe zu. Als Ortlose, heimatlos herumschweifende Beobachter und Wanderer zwischen den Welten gleichen sie eher Geschichtenerzählern.

Wer da zu Kant'scher Größe sich aufschwingen möchte, um das Gesetz zu verkünden, wirkt nur mehr lächerlich. Bestenfalls lautet die Botschaft, dass Alles auch ganz anders sein könnte, dass keine Entwicklung linear ist, die Vergangenheit umstritten und die Zukunft offen.

Das mag nach verblasenem Liberalismus klingen, aber es enthält eine brisante Botschaft: Es könnte alles anders sein und kein Naturgesetz schreibt die Entwicklung vor. Kein Weltmarkt, kein Staat, kein noch so eherner Sachzwang hat Bestand, wenn er über seine eigenen Beine stolpert oder ihm die Gefolgschaft der Gläubigen entzogen wird. Das aber fürchten viele.

Die Verhältnisse sind unüberschaubar geworden, das Ganze ist nicht mehr steuerbar. Auch die frei flottierenden Überzeugungen verdichten sich nicht mehr zum ideologischen Gesamtbild, das den Intellektuellen traditionellerweise als Hintergrundsfolie diente. Es gilt das Wort des Dichters Ernst Jandl. Der merkte zutreffend an, dass manche meinten, rinks und lechts ließe sich nicht velwechsern, werrch ein Iltum.

Im Dickicht der neuen Unübersichtlichkeit verschwinden nicht nur die positiven Utopien, auch die von den Intellektuellen kultivierte Furcht vor den Schrecknissen der Zukunft, die Warnung vor dem Rückfall in die Barbarei verliert ihre klare Kontur. Jede Schreckensvorstellung ist nur der Schatten einer positiven Idee. Keine Hölle ohne Paradies.

Möglicherweise aber ist diese Differenz kollabiert und wir leben bereits in der Transapokalypse – nur keiner hat's gemerkt. Weitgehend befreit von den Mühen der Arbeit, den Grenzen des Anstands und der Mobilität, sind wir dem Reich der Notwendigkeit nicht entkommen, sondern verstricken uns schleichend in neue Zwänge, die keiner so recht durchschaut und die vielen gar nicht als solche erscheinen.

Das aber ist der eigentliche Schrecken, vor dem uns die Intellektuellen immer gewarnt haben: wenn der Zwang zur Normalität wird, dann bricht das Zeitalter der Zombies an. Adorno hätte das so nicht formuliert, aber sicherlich zugestimmt.