Belletristisches Ehrenmal für die Deserteure

Rezensiert von Lutz Bunk · 19.05.2005
"Steilküste" ist ein konsequent historischer Roman, d.h., er versetzt den Leser in die reale Welt jener Maitage vor genau 60 Jahren, als der II. Weltkrieg zu Ende ging. Noch herrschte offiziell Krieg, zwar hatte sich Hitler schon im Bunker umgebracht, in seinem Testament aber seinen Zögling, Admiral Dönitz, zum Reichspräsidenten ernannt.
Ganz Deutschland war also besetzt, allein in Schleswig-Holstein regierte weiter des Führers Admiral. Die Kapitulation war indes schon beschlossene Sache, da machen sich nun zwei Tage vor dem 8. Mai 1945 zwei Matrosen einfach zu Fuß auf den Weg nach Hause. Die beiden werden aufgegriffen und als Deserteure zum Tod verurteilt, und sie werden, weil sich die Marine ihre feierliche Flaggenparade am 8. Mai nicht verderben will, erst am 10. Mai, also zwei Tage nach Kriegsende erschossen.

Tatsächlich waren es sogar drei Matrosen, die erschossen bzw. ermordet wurden, Fritz Wehrmann, Alfred Gail und Martin Schilling. Zwei Drittel des Romans beruhen auf Recherchen des Autors im Umfeld dieser drei Menschen. Missfeld studierte Tagebücher, Abschiedsbriefe, die Prozessunterlagen, sprach mit Zeugen, recherchierte das Leben der drei Opfer und das ihrer Richter, die nie für diesen Mord zu Rechenschaft gezogen wurden.

Ein ähnlicher Fall bewegte noch in den 70er Jahren die Bundesrepublik, als Hans-Georg Filbinger, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, zurücktreten musste, weil herauskam, dass er als Marine-Richter bis zur letzten Minute des Krieges vermeintliche Deserteure hatte hinrichten lassen.

Missfeldts Sprache ist mal pathetisch, mal ganz leise, poetisch wie: "Fliederduftbeschwerter Sommersauerstoff", meist traurig, dann aber wieder so beschwingt wie Eichendorffs "Taugenichts". Grandios mischt er Tonlagen mit ein paar Federstrichen, souverän wechselt er Erzählzeit und Erzählperspektiven.

Leitmotive schlängeln sich durch das Buch, ein Riesenrad, ein Eisvogel und die Steilküste, also die Küste der Ostsee. Missfeld liebt expressionistische Metaphern: Da "ankert eine Mainacht in der Bucht", und er scheut sich auch nicht, Elemente des Märchens bzw. des magischen Realismus zu verwenden, wird geradezu surreal, wenn das verkohlte Ehepaar Hitler auf einem deutschen Scheuerbesen über den Himmel reitet.

Jochen Missfeldt, Jahrgang 1941, war Starfighter-Pilot bei der Bundeswehr, ein Harakiri-Job, 192 dieser Kampfjets sind abgestürzt.

"Steilküste" ist der dritte Band seiner "Solsbüll"-Trilogie. Solsbüll ist eine fiktive Ortschaft zwischen Flensburg und Kiel, in der Gustav Hasse lebt, der Ich-Erzähler in den drei Romanen. Für seinen zweiten Roman "Gespiegelter Himmel" erhielt Missfeldt den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis und wurde von der Kritik gefeiert.

Und auch diesmal sind sich die Kritiker einig: "Steilküste" ist ein herausragender Roman, und es ist vor allem auch ein notwendiges Buch: Es ist quasi ein Ehrenmal für jene wahren Helden, für jene 16.000 während des Krieges hingerichteten deutschen Deserteure.

"Steilküste" ist in seinen Sujets und Stimmungen ein durch und durch deutscher Roman, ein Roman über den Tod, aber auch über die Liebe, über Erdbeeren mit Schlagsahne, über Pfeifengras, Flatterbinse und Eisvögel, und das weht daher wie Heinrich Heines Loreley oder wie Lili Marleen.

Jochen Missfeldt: Steilküste
Roman. Rowohlt-Verlag 2005.
304 Seiten, gebunden, 19,90 Euro.