Belletristik

Bedrohliche neue Welt

Von Gabriele von Arnim · 12.07.2014
In seinen Erzählungen schafft George Saunders eine Welt, die unglaubwürdig klingt, aber doch bedrohlich realistisch erscheint. Er steht dabei eindeutig auf der Seite der Benachteiligten, verurteilt aber auch die Stärkeren nicht.
Als der liebende Vater dreier Kinder, gefangen in der Falle der Kleinverdiener, 10.000 Dollar im Lotto gewinnt, heuert er sogleich eine Gartengestaltungsfirma an. Es werden Rosen gepflanzt und Büsche gesetzt, es wird ein Teich angelegt. Seine Kinder sollen sich nicht länger schämen müssen vor ihren reichen Freunden. Und deshalb wird auch ein Gestell errichtet, an dem SGs aufgehängt werden. Als Statussymbol und als Ornament.
Es dauert- bis wir begreifen- was SGs sind. Sind es Leichen, sind es leere Gewänder, makellos weiss, die dort so malerisch wehen im Wind? Tatsächlich sind es die Semplica Girls. Die - dank einer in ihr Gehirn eingepflanzten Mikroleitung - schmerzlos dort hängen können. Drei mal am Tag werden sie von einer Wartungsfirma getränkt und gefüttert. Was für ein schönes Leben für die Mädchen aus Bangladesh oder Somalia, die es in ihren eigenen Ländern so viel schwerer hatten.
Brilliant böser Einfallsreichtum
Früher waren es drei Garagen, die man brauchte, um mithalten zu können mit den Nachbarn, jetzt sind es mindestens drei SGs, die dort hängen am Gestell wie bei uns die Lampions im Baum.
Der amerikanische Schriftsteller George Saunders - preisgekrönter Geschichtenerzähler von brilliant bösem Einfallsreichtum - hat eine schöne neue Welt beschrieben, die bestürzender ist und bedrohlicher noch als die in Aldous Huxleys großem Roman aus dem Jahre 1932, in dem die Menschen - mit Drogen gefügig gemacht - zu Robotern verkommen. Aber während man damals noch denken konnte, da habe einer mit unbändiger Fantasie seine Schreckensvisionen komponiert, schleichen Saunders Geschichten so spürbar nah an der Grenze zum Jetzt entlang, dass sie mit ganz wenigen Schritten nur einbrechen könnten in unsere Welt.
Natürlich übertreibt Saunders, spitzt zu, extrapoliert die verdrehte Gesellschaft von heute, um die Entwicklung mit zorniger Fantasie fortzuschreiben.
Nicht Heilung ist nun das wichtigste Thema der Medizinforschung, sondern es wird vor allem experimentiert mit Manipulations-Medikamenten. Habenichtse werden zu Versuchstieren degradiert, und das Geld regiert mehr denn je die Welt.
Saunders steht auf der Seite der Liebe
Saunders erzählt - immer wieder auch rotzig und fetzend - von der Grenzenlosigkeit obszönen menschlichen Verhaltens und der gnadenlosen Ausnutzung von ökonomischer Macht. Und tut es so neu und verstörend, dass man sich unruhig umschaut im eigenen Leben.
Und doch sind die Geschichten auch zärtlich in der Unschuld des Widerwärtigen, im Mut der Ausbruchsversuche und in der Liebessehnsucht der Protagonisten. Selbst der Vater, der die Semplica Girls aufhängt, ist ein guter Mensch. Der seine Kinder liebt und sie glücklich machen will. Er ist nicht böse.
Nur gefangen im Statusdenken und so blind wie fast alle um ihn herum. Saunders denunziert nicht. Er steht nur eindeutig auf der Seite der Benachteiligten, der Benutzten. Und auf der Seite der Liebe. Die Titelgeschichte ist eine hinreißend erzählte Liebesgeschichte, in der ein Todkranker seinen Selbstmord plant und ein verträumter Außenseiter ihn davon abhält.
"Zehnter Dezember" heißt der Band. Vielleicht weil das der Tag der Menschenrechte ist?

George Saunders: Zehnter Dezember
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert
Luchterhand Verlag München
272 Seiten, 19,99 Euro

Mehr zum Thema