Beliebteste Partei der Türkei

Das Erfolgsrezept von Erdogans AKP

AKP-Anhänger bejubeln den Sieg ihrer Partei
AKP-Anhänger bejubeln den Sieg ihrer Partei (2015). © picture alliance/dpa/Deniz Toprak
Von Luise Sammann · 15.06.2016
Von seinen Anhängern wird der türkische Präsident Erdogan "Großer Meister" genannt, seine Regierungspartei AKP feiert enorme Erfolge. Gründe dafür sind der wirtschaftliche Aufschwung des Landes, gesellschaftliche Teilhabe und die Angst der Konservativen vor dem Machtverlust.
Man könnte meinen, auf dem riesigen Platz am Rande Istanbuls stünde eine Fußballübertrag der türkischen Nationalmannschaft an: Ein paar Jugendliche verkaufen schreiend bunte Schals an die aus allen Richtungen herbeiströmenden Menschen, Ordner verteilen rote Türkeifähnchen an jeden, der die Taschenkontrolle am Platzeingang passiert.
Auf einem umgedrehten Karton mitten im Gewühl hat sich der 65-jährige Ahmet Merkit niedergelassen, präsentiert ein selbstgeschriebenes Gedicht.
Spätestens jetzt wird klar: Auf dem Yenikapi-Meydani, dem größten Versammlungsplatz in ganz Europa, geht es nicht um Fußball. Der türkische Präsident hat seinen Besuch angekündigt – Ahmet Merkit rezitiert mit stolzgeschwellter Brust.
"Einer, der gerade steht,
sich immer und überall wacker schlägt.
Einer, der sein Wort nie bricht –
Wer bloß ist dieser Heldenmann?
Recep Tayyip Erdogan!

Einer, der türkische Träume wahr macht.
Einer, der schuftet, Tag und Nacht.
Einer, der die Herzen erobern kann,
Wer bloß ist dieser Heldenmann?
Recep Tayyip Erdogan"
Ein Gedicht für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan von einem seiner Anhänger, verziert mit einem Bild Erdogans und Ornamenten
Ein Gedicht für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan von einem seiner Anhänger© privat
Zehntausend Mal hat Hobbydichter Ahmet seine stolze acht Strophen umfassende Erdogan-Hymne ausgedruckt. Für eine Lira, gut dreißig Cent, verkauft er sein Werk an die Vorbeikommenden. Die Dichtung kommt gut an – der Papierstapel neben Ahmet schwindet schnell. Auch die Jugendlichen mit ihren bunten Schaals machen gute Geschäfte – aufgedruckt ist der Name des Präsidenten.
Immer zahlreicher werden die Erdogan-Fans. Großfamilien lassen sich mit Thermoskannen und Tupperware zum Picknick nieder um die besten Plätze zu sichern, Kinder mit Erdogan-T-Shirt jagen über den Platz, ein Moderator, klein wie ein Legomännchen auf der überdimensionalen Bühne, sorgt für Stimmung.
Cafer, 26, reißt mit Tausenden anderen sein Fähnchen in die Luft, als zum Hundertsten Mal der baldige Auftritt des Präsidenten angekündigt wird. Ein Meer aus rot erstreckt sich vor der Bühne. Cafers Augen füllen sich mit Tränen.
"Die Gefühle, die wir für Erdogan hegen, kann man nicht beschreiben. Man muss sie leben. Es gibt sicher noch viele andere, die Gutes für unser Land tun. Aber Erdogan ist anders als sie alle."
Für den Auftritt des so genannten "Großen Meisters" hat Cafer den Sonntagsanzug aus dem Schrank geholt. Seit frühester Jugend engagiert sich der Sohn eines Straßenhändlers in der AKP. Je stärker die von Erdogan mitgegründete Regierungspartei in den letzten Jahren wurde, desto stärker fühlte sich auch Cafer. "Fragen Sie ihn, wie es in der Türkei aussah, bevor es die AKP gab". Cafer zeigt auf einen alten Mann, der ein paar Meter entfernt steht und zustimmend nickt.
"Europa, Amerika – alle beneiden uns. Wir haben in 15 Jahren erreicht, was eigentlich nicht mal in 80 Jahren zu schaffen ist. Plötzlich ist die Türkei der Welt wieder ein Begriff. Wir produzieren unsere eigenen Waffen, eigene Computersoftware, eigene Satelliten. Früher glich der Weg von Istanbul nach Ankara einer Weltreise, heute braucht der Schnellzug keine zweieinhalb Stunden. Nichts davon gab es hier früher."
Rentner Metin kommt ins Schwärmen. Die modernen Hochhäuser fallen ihm ein, in denen selbst einfache Arbeiter wie er nun plötzlich samt Flachbildfernseher und Internetanschluss leben. Die neuen Autobahnen im ganzen Land, das kostenlose Gesundheitssystem. Der viel jüngere Cafer fasst zusammen: "Alles, was gut ist in diesem Land, kommt von der AKP. Und die AKP kommt von Erdogan." Fast triumphierend zeigt er auf den roten Button, den er sich an den Hemdkragen gepinnt hat. "Die Jugend will eine neue Verfassung", steht darauf. Cafer erklärt:
"Die Türkei braucht eine neue Verfassung, sie braucht das Präsidialsystem. Nehmen Sie eine Familie: So, wie dort Chaos herrscht, wenn es keinen starken Vater an der Spitze gibt, so ist es auch in einem Staat. Wir brauchen hier keine Pluralität, das führt nur zu Streit. Was wir brauchen, ist eine komplett zentrale Führung. Ein starker Präsident, hinter dem wir uns alle vereinen können!"
Die beginnende Bühnenshow macht jedes weitere Gespräch unmöglich. Aus unzähligen Lautsprechern donnert die Stimme des Moderators über den Platz. Trotz der Sonne, die gnadenlos auf Kopftücher und Gelfrisuren hinunterbrennt, haben sich schon Stunden bevor der "Große Meister" per Helicopter einfliegt, Hunderttausende in Yenikapi versammelt. Bis zum Abend sollen es über eine Million werden.
Der AKP-Fan Cafer steht  bei einer Parteiveranstaltung neben einem anderen Mann auf einem Freiluftgelände.
Der AKP-Fan Cafer (l.) bei einer Parteiveranstaltung© Deutschlandradio / Luise Sammann

Auf der Suche nach dem Erfolgsrezept der AKP

Was aber ist es, das Erdogan und der AKP seit 14 Jahren Sympathien und Mehrheiten beschert, von denen andere Parteien in Europa nur träumen? Wie kommt es, dass selbst Korruptionsskandale und Gezi-Proteste, Terroranschläge und parteiinternes Gerangel sie nur immer stärker machen? Dass die türkische Opposition versagt, den Wählern keine Alternative bietet, ist unter Beobachtern längst Konsens. Doch als alleinige Erklärung für den anhaltenden Erfolg der AKP reicht das nicht.
"Zunächst mal ist es falsch zu glauben, dass die AKP Wahlen gewinnt, weil sie eine religiös-konservative Partei ist",
stellt der Türkei-weit bekannte Wahlforscher Adil Gür klar.
"Es sind längst nicht nur die Religiösen, die die AKP wählen. Genauso bekommt sie Stimmen von den Mitte-Rechten, den Liberalen, einigen Sozialdemokraten und vielen Kurden. Sie ist eine Partei der Mitte, die alle Teile der Bevölkerung erreicht."
Und das tut sie vor allem über ihren Mitbegründer Recep Tayyip Erdogan. Der macht auch als offiziell neutraler Präsident keinen Hehl daraus, wer in der Partei das Sagen hat. Umfragen zeigen: Drei von vier Wählern geben ihre Stimme nicht zuerst der AKP, sondern der Person an ihrer Spitze. Würde Erdogan die Partei heute im Stich lassen, sie würde morgen in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Wahlforscher Gür:
"In der Geschichte der Türkei haben sich die Politiker zunehmend von den Menschen entfernt. Die Regierenden schauten auf das Volk herab, sahen sich nicht als seinesgleichen. Hundert Jahre lang sehnten sich die Leute also nach einem, der war wie sie. Einer, der flucht, einer der zwischendurch seine Schuhe auszieht und sich mit ihnen auf dem Teppich niederlässt. Einer also, der mit ihnen in Berührung kommt."

In Erdogan erkennen sich viele wieder

Und dann kam Erdogan. So polternd, pathetisch oder gar peinlich er auf westliche Zuschauer wirkt – so charismatisch, anziehend und authentisch erscheinen seine Auftritte in der Türkei. Wenn er vor laufenden Kameras über den Tod eines syrischen Kindes weint, dann weinen Millionen Türken mit ihm. Und wenn er wieder einmal mit geballter Faust über Verräter im In- und Ausland herzieht, fragen türkische Frauen eher bewundernd als erschrocken: Kennen wir solche Wutausbrüche nicht auch von unseren Brüdern und Vätern zuhause?
"Das Wichtigste ist, dass ein Großteil der türkischen Gesellschaft meint, sich in ihm zu spiegeln",
erklärt der Istanbuler Gesellschaftspsychologe Murat Paker das Phänomen Erdogan.
"Er hat sich aus der Armut herausgekämpft, hat keine besonders gute Ausbildung. Ein ganz normaler Türke eben. Aber jetzt hat er Macht. Da denken viele: Wenn ich mich mit ihm verbinde, gibt mir das auch Macht. Was zählt ist: Er tickt wie wir, spricht in einfachen Worten wie wir, teilt die Welt nachvollziehbar in schwarz und weiß."
Das türkische Bildungsniveau ist gering. Über 60 Prozent der Bevölkerung verfügen über nicht mehr als einen Grundschulabschluss. Auch deswegen erreicht Erdogan mit seinen einfachen aber feurigen Reden die Massen. Hinzu kommt das Gefühl, direkt am Aufstieg des Landesbeteiligt zu werden – und sei es nur ideell.
Jugendliche Verkäufer von Erdogan-Bändern
Jugendliche Verkäufer von Erdogan-Bändern© Deutschlandradio / Luise Sammann
Kaum ein Tag vergeht, ohne dass die türkischen Fernsehzuschauern an Erdogans berühmte Mega-Projekte erinnert werden: Der "Marmaray" ist der weltweit erste interkontinentale Metrotunnel. Die dritte Bosporusbrücke ist die längste Hängebrücke der Welt. Der neue Istanbuler Flughafen, mit mehr als 150 Millionen Passagierabfertigungen jährlich, ist bald der größte Airport aller Zeiten.

Die berauschten und ängstlichen Anhänger

Größer, schneller, weiter heißt die Botschaft, mit der Erdogan seine Anhänger bei jeder Gelegenheit berauscht.

"Zwischen 2005 und 2014 ist die türkische Wirtschaft jährlich um fünf Prozent gewachsen. In einer Zeit, in der der Rest der Welt in einer ernsthaften Krise steckte! Unser Pro-Kopf-Einkommen hat sich von 3500 auf 10.500 Dollar im Jahr verdreifacht! Und: Unser Ziel ist es, die Türkei bis 2023, zum 100. Geburtstag der Republik, unter die ersten zehn Wirtschaftsnationen der Welt zu bringen!"
Auch wenn die Mehrheit der Türken nach wie vor alles andere als reich ist. Die Strategie geht auf: Wahlforscher Adil Gür zieht eine bunte Graphik mit Umfrageergebnissen aus der Tasche, die direkt nach den letzten Wahlen entstanden sind.
"Selbst, wenn die Wähler bei anderen Themen unzufrieden sind. Die Menschen sind glücklich über das, was sie am Ende des Monats in der Tasche haben. Und diese Zufriedenheit ist der magische Schlüssel zum anhaltenden Erfolg der AKP."
Gerade dann aber müsste der Erfolg der AKP nun in Gefahr sein. Denn nicht nur die vor allem terrorbedingte Tourismuskrise sorgt dafür, dass der türkische Boom vorerst stagniert, die Lira fällt, die Preise steigen. Allein Obst und Gemüse kosteten im vergangen Jahr rund ein Viertel mehr.
Dennoch: Wären an diesem Sonntag Parlamentswahlen in der Türkei, die AKP würde laut Prognosen erneut um die 50 Prozent der Stimmen erhalten.
"Ein Grund, warum gerade konservative Türken weiter die AKP unterstützen, ist ihre traditionelle Angst davor, von der anderen Hälfte der Gesellschaft diskriminiert zu werden, wenn sie jetzt die Macht verlieren",

so Gesellschaftspsychologe Murat Paker mit Blick auf den althergebrachten Konflikt zwischen säkularen und religiösen Türken, zwischen den kemalistischen Eliten, die auf strikte Trennung von Staat und Kirche setzen, und den konservativen Massen.
"Die AKP-Anhänger fürchten nun: Sie werden kommen und uns zerstören. Sie werden uns wieder die Kopftücher verbieten. Sie wollten uns ohnehin nie. Deswegen müssen wir, was auch immer passiert, zu unserer Partei und unserem Führer halten. Und die AKP schürt diese Angst, weil sie ihr nützt."

Türkische Gesellschaft ist polarisiert wie nie

Tatsächlich: Nie war die Polarisierung der türkischen Gesellschaft so stark, wie im Moment. Spätestens seit den Gezi-Protesten vom Sommer 2013 vergeht kaum ein Tag, ohne dass Erdogan seine Anhänger vor ihren angeblichen Feinden warnt. Bis heute hält die Hälfte der Türken Gezi für das Werk von Verrätern, die dem Land und damit ihnen schaden wollten. Erdogan damals:
"Alles, was diese Demonstranten tun, ist zu zerstören. Sie zünden öffentliche Gebäude und Autos an. Aber das ist noch nicht alles. Sie haben auch meine verschleierten Töchter und Schwestern angegriffen. Und noch schlimmer: Sie haben mit Bierflaschen in der Hand und Schuhen an den Füßen in einer Moschee herumgetrampelt."


Mit Feindbildern wie dem vom antiislamischen Gezi-Demonstranten schürt Erdogan eine noch größere Angst, als die vor dem wirtschaftlichen Abstieg. Die AKP ist keine Partei mehr, für die man alle vier Jahre seine Stimme abgibt. Sie ist eine Bewegung, die man unterstützt, um nicht mit ihr unterzugehen. Sie zu wählen bedeutet eine Entscheidung in der scheinbar relevantesten Frage der heutigen Türkei: Wir oder die. Die Wahl als Frage der eigenen Existenz. Analyst Adil Gür:
"Die Polarisierung sorgt dafür, dass die Menschen wählen, ohne zu hinterfragen. Nach einem Referendum können uns mehr als 70 Prozent der Befragten nicht sagen, für oder gegen was genau sie gerade abgestimmt haben. Es geht nicht mehr um Inhalte. Es geht um Zugehörigkeit."
Nirgendwo zeigt sich der Erfolg dieser Freund-Feind-Strategie so deutlich wie im neu aufgeflammten Kurdenkonflikt: Wer es jetzt noch wagt gegen Erdogan aufzustehen, macht sich automatisch verdächtig, die verbotene Kurdenorganisation PKK zu unterstützen. Die Zahl der Anklagen gegen angebliche Terroristen – darunter Akademiker, Hausfrauen und Journalisten – ist kaum noch überschaubar.
Istanbul, Gezi Park: Proteste gegen die türkische Regierung, Juni 2013
Istanbul, Gezi Park: Proteste gegen die türkische Regierung, Juni 2013© picture alliance / abaca
"Die AKP-Regierung hat den Bezug zur Realität verloren",
glaubt gar Gesellschaftspsychologe Murat Paker.
"So wie alle totalitären Regime beginnt sie ein geschlossenes System aufzubauen, eine alternative Realität zu der, die der Rest der Welt teilt. Ich würde gar von einer Massenpsychose sprechen, in der alle, die anders denken als gefährlich und feindlich abgestempelt werden."
Auch auf dem Istanbuler Versammlungsplatz in Yenikapi, wo über eine Million begeisterte AKP-Wähler in der prallen Sonne ausharren, um ihren Präsidenten live zu erleben, ist die Angst vor den anderen das alles beherrschende Thema. Gegner Erdogans sind für den 35-jährigen Verkäufer Kadir Gegner der Türkei. Jede Kritik aus dem Ausland – zum Beispiel aus der EU – ist Teil eines teuflischen Plans – und ein Grund mehr auch beim nächsten Mal wieder für Erdogan zu stimmen.
"Ich sage es Ihnen ganz offen: Die Welt ist gegen die Türkei. Vor 100 Jahren haben wir gegen die Britten und die Franzosen gekämpft. Gegen alle. Und deswegen führen sie bis heute eine Art kalten Krieg gegen uns. Würde Erdogan nicht gegen sie aufstehen, wer weiß in welchem Zustand unsere Nation heute wäre. Auch deswegen werden wir immer zu ihm stehen."
Mehr zum Thema