Belgrad im Spiegel seiner Autoren

Am Rand der Mitte

Blick auf Serbiens Hauptstadt Belgrad.
Blick auf Serbiens Hauptstadt Belgrad. © picture alliance / dpa / Britta Pedersen
Von Siegfried Ressel · 28.04.2017
Belgrad, Serbiens Hauptstadt, ist irgendwie europäisch und doch gleichzeitig so gar nicht europäisch. Die Stadt ist vernarbt nach Bürgerkrieg und NATO-Bombardement in den 90er-Jahren. Worüber schreiben die Autoren hier?
Milena Marković: das volk
ich bin unbescheiden und
habe dazu keinen grund
stolz bin ich auf meinen sturz
und tue jeden tag etwas
damit mein untergang mich küsst auf stirn und
hals ich bin unbescheiden und
habe dazu keinen grund
ich will ein neues haus
eine enge straße damit ich auf fremde teller sehen kann
hier gibt es viele hungernde
ich will den pipifeinen salon auf dem elefantenweg
hier gibt es verzweifelte
hier gibt es das elend auf schuhsohlen
in den augen an den fingern
Es ist der Sommer des Aufruhrs 2016 in Belgrad. "Beograd je naŝ!", "Belgrad gehört uns!" skandieren 30.000 wütende Bürger in der Innenstadt. Und man glaubt es kaum, aber das fast 50 Jahre alte "Street Fighting Man" der Stones ist der Soundtrack dieses Demonstrationszuges, welcher die Brankov-Brücke auf dem Weg von der City nach Neu-Belgrad gefährlich wippen läßt.
Zur Hitze des Sommers hat sich eine unstillbare Wut gesellt: Seitdem in einer Nacht- und Nebel-Aktion am 25. April 2016 Bulldozer einen Teil des Alternativ-Viertels Savamala ohne irgendeine Genehmigung einfach platt gemacht haben, die Polizei dabei zuschaute und all dies zugunsten eines gigantomanischen Dubai-ähnlichen Bauprojekts namens "Belgrade Waterfront" geschah, reicht es den Belgradern. Zu oft werden unverhohlen Bürgerrechte ignoriert, korrupte Politiker spielen zusammen mit der Polizei und mafiaähnlich organisierten Businessmen ein übles Spiel. Und Serbiens Ministerpräsident Aleksandar Vučić weiss angeblich von nichts, ist aber der größte Fan von "Belgrade Waterworld" überhaupt...
ich will auf den elefantenweg um mich nicht zu schämen
dass ich unbescheiden bin und keinen grund dazu habe
ich will ruhige jahre mit der flasche
die wird es nicht geben
ich will eine kletterrose
die wird es nicht geben
nimmt man mich auf in jenen niedrigen häusern
und engen straßen
das wird es nicht geben
so lebe wohl mein schönes haus
ich bin unbescheiden und habe dazu keinen grund
ich will zu denen die ich nicht liebe
und die die ich liebe lieben mich nicht
und haben dazu keinen grund.
Die Sonne über der Stadt ist so rot wie das Innere der Wassermelonen auf den Märkten. Die Hitze, die Gucci-Sonnenbrillen der Neureichenbräute, die Camouflage-T-Shirts der Kriegsverteranen, das Händlergewusel in der City, die ein- und ausfliegenden Partyfreaks, die Springbrunnen, die Restaurantboote am Save-Ufer, auf denen nachts die Bässe von 08-15 Techno dröhnen - und dann die Cafés, in denen lässig geraucht wird – ein Zeichen dafür, dass man zwar in einer europäischen Großstadt, aber nicht in der EU ist. Dennoch sieht alles irgendwie aus wie in Wien, in Budapest, in Bukarest. Oberflächlich verblassen die Bilder des Bürgerkriegs der 1990er Jahre und selbst die Ruinen, Hinterlassenschaften der NATO-Bombardements auf die City, verschwinden; der Baugrund ist zu wertvoll um sie als mahnende Zeugnisse ewig stehen zu lassen.

Verwirrende Lebenssituation in Belgrad

Wie also lebt man hier? Und: worüber schreibt man? Die Schriftstellerin Jelena Volić hat zusammen mit Christian Schünemann zwei Belgrad-Krimis geschrieben, die in den letzten Jahren erschienen: "Kornblumenblau" und "Pfingstrosenrot", Polit-Krimis, die die verwirrende Lebenssituation der Menschen in Serbien reflektieren.
Mit ihr, mit Jelena, treffe ich mich im Altstadtviertel "Dorćol": Straßen, von Platanen gegen die Hitze gesäumt, Häuser im Secessionsstil, Cafés, kleine Läden und ein Hauch von Hipstertum. Die Autorin schätzt diese Atmosphäre.
Christian Schünemann und Jelena Volić: "Kornblumenblau"
"...wie war Ihr Name?"
"Milena Lukin."
"Und Sie sind in..."
"Belgrad. Das ist die Hauptstadt von Serbien."
"In den nächsten Tagen wird sich einer der Kollegen bei Ihnen melden."
Milena legte auf. Ihre Augen brannten. (...) Sie schloss die Augen. Mit ihrer eigentlichen Forschungsarbeit kam sie kaum noch voran. "Die Strafverfolgung des Kriegsverbrechens auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens in der Zeit von 1990 bis einschließlich 1999", so lautete ihre Habilitationsschrift, mit der sie nicht nur hoffte, ein dunkles Kapitel der jüngsten Vergangenheit auszuleuchten, sondern auch eines Tages irgendwo auf dieser Welt zur Professorin berufen zu werden.
Die ewig überarbeitete Milena Lukin ist die Romanheldin von Schünemann und Volić. Mit Geldern aus der EU und Deutschland soll die Juristin im Belgrader Institut für Kriminalistik einen Fachbereich für Internationale Strafverfolgung aufbauen. Aber andauernd bittet sie ein Freund und Anwalt um Hilfe bei der Aufklärung dubioser, politisch motivierter Verbrechen.
In "Kornblumenblau" geht es um die Ermordung zweier Elitesoldaten, im Nachfolgeroman "Pfingstrosenrot" um den Tod eines serbischen Rentner-Ehepaars im Kosovo. Volics Geschichten beruhen auf Tatsachen; die Ambivalenz und Schizophrenie, welche sich in der serbischen Gesellschaft seit dem Zerfall Jugoslawiens und dem daraus folgenden Bürgerkrieg ausgebreitet haben und die heute noch wie Giftwolken über dem Land wabern, kommen in diesen Romanen ganz deutlich zur Sprache: Nichts hat sich erledigt, kaum etwas wurde aufgearbeitet. Serbien, immer auf Identitätssuche zwischen Industrienation und Agrarvolk, zwischen West und Ost, Balkan und EU, kommt nicht zur Ruhe.

Das Politische am Banalen festmachen

Jelena Volić sieht sich und ihren Co-Autor nicht als dezidiert politische Schriftsteller. Nennt sich selbst aber "ein Fass voller Geschichten".
"Wir sind Schriftsteller, weil wir die großen Fragen unserer Zeit in eine Geschichte kleiden wollen. Und versuchen das so auf Alltag herunterzubrechen. Und dann, als wir uns überlegt haben, dass wir ein Buch zusammen schreiben sollen, weil Christian meinte, wir müssen jetzt versuchen, Serbien einem anständigen deutschen Leser näher zu bringen. Und was liest ein anständiger deutscher Bürger? Der liest nicht Tisma, der liest nicht Albahari - der liest Krimis. Und dann haben wir gesagt, lass uns Krimis schreiben."
Die großen Fragen im Alltag entdecken, das Politische am Banalen festmachen, das versucht auch die Lyrikerin Milena Marković.
Milena Marković: geschichte, saft, salami
ein denkmal schaut mich an und fragt ob ich mich erinnere
nein
ein grab schaut mich an und fragt
ob ich um es trauere
nein
sie bauen und bauen von neuem
vom gerüst fällt ein armer kerl
ob ich um ihn trauere
ja
ich trauere um das pfund brot
mit salami
den zur hälfte getrunkenen saft
trauere um den saft
trauere um die salami
bedaure die frau
die auf ihn wartet bedaure mich dass ich das alles
mit anschaue
dabei habe ich geld in der tasche
und weiß nicht woher ich komme
vom wolf und vom bären
von denen die auf dem gerüst
waren und gefallen sind
es gibt menschen wie dich
die trauern um ein denkmal
ein grab
um ungerechtigkeit und elend
ich dagegen trauere um
salami
Ob man es glaubt oder nicht – Protest hat Tradition in Belgrad. Die heutige serbische und frühere jugoslawische Hauptstadt erlebte auch eine 68er-Studentenrevolte: Es ging gegen Tito und den selbstherrlichen Führungsstil der führenden kommunistischen Politiker; man wollte einen offeneren und demokratischeren Sozialismus.
Volic: "Das ist Studentenpark, Studenski Park. Das schöne Haus ist Rektorat und von dem Haus ist 1968 ausgebrochen und man weiss nicht, dass in Belgrad eine ganz große 68er-Bewegung war. Und dann gibt es eine wunderbare Sache, die ich immer wieder erzähle: also die Studenten mit den Professoren haben sich im Innenhof von dem Gebäude verschanzt und dann sind alle Künstler gekommen und haben die Studenten unterstützt. Damals gab es ein ganz großen Schauspieler Stevo Zigon und der war, der ist jetzt gestorben, leider. Und ich habe Filmaufnahme von ihm wie er vor Studenten also diese Rede von Danton auf serbisch sagt. Und weisst Du, da habe ich gedacht, weisst Du, mag sein dass dieser "Dantons Tod" auf deutsch geschrieben wurde. Und dass das eine übersetzte Literatur ist, aber auf serbisch in solchem Moment hört sich das verdammt großartig an, echt. Weisst Du so, was Freiheit ist und dass das eben Sinn des Lebens ist. Und das ist da passiert."
David Albahari: "Das Tierreich"
"Die Bewegung, falls man diese chaotische Anhäufung von Ideen und Parolen überhaupt als eine Bewegung bezeichnen kann, zerfiel immer schneller, zum Teil von selbst als Folge von Titos Intervention, zum Teil wegen der Aktivitäten der Miliz und des Sicherheitsdienstes trotz der angeblichen Versprechungen Titos, man werde nichts gegen die Rädelsführer der Proteste unternehmen. Indes verschwanden Menschen, schlichen sich fort, ohne ein Wort des Abschieds, ohne jede Erklärung, und alle Versuche, die Bewegung zu erneuern, selbst wenn sie nur in Privatwohnungen organisiert wurden, begannen damit, dass man einander misstrauisch beäugte und verlangte, die weniger bekannten Personen sollten sich ausweisen, was zu endlosen Auseinandersetzungen, Streitigkeiten und beleidigtem Verlassen der Zusammenkünfte führte. Aber so ist es, wenn Ziele und Absichten nicht klar definiert werden – und sich keiner daran stört."

Diese Rückschau auf die Ereignisse der Studentenproteste von 1968 in Belgrad stammt aus dem neuen – gerade auf Deutsch erschienenen – Roman von David Albahari "Das Tierreich". Ich treffe den großen serbischen Schriftsteller im Belgrader Stadtteil Zemun, seinem Wohnort und zugleich Schauplatz einiger seiner Romane. Bogdan, ein Taxifahrer, fährt mich dorthin, genauer: zum Café "Mr. Black". Wir kommen ins Gespräch: natürlich kennt Bogdan David Albahari.
Der Schriftsteller David Albahari.
Der Schriftsteller David Albahari. © imago

Keinem glauben, niemandem trauen

Was er von den Protesten gegen die "Belgrade Waterworld" hält? Nichts! Bogdan geht sofort an die Decke: die Demonstranten seien alle von diesem reichen Juden aus Amerika George Soros bezahlt worden, um hier in Belgrad Krawall zu stiften. Der Chauffeur redet sich in Rage. Er selbst sei Mitte 50, eigentlich Bauingenieur, lebt aber besser und ruhiger wenn er Taxi fährt. Was seinem Leben hier absolut fehlt, sagt er, sind Berechenbarkeit und Kontinuität. Er glaubt keinem und traut niemandem mehr. Dann kommt das "Mr. Black" und das Ende einer kurzen Taxifahrt über die Save.
David Albahari: "Hier sprechen die Dinge für sich selbst. Es ist immer dieselbe Geschichte, die Regierungen wechseln, aber es gibt keine wirkliche Veränderung. Keine guten Zeiten für Künstler, für Schriftsteller, für einfache Leute. Viel kannst du nicht machen und je mehr du dich auflehnst, um so komplizierter wird es für dich selbst. In den 60ern sangen The Kinks 'I'm a lover not a fighter'. Ich bin immer noch der Philosophie der 60er Jahre treu: Ich bin Lover und kein Kämpfer. Und ich denke, das ist die bessere Wahl."
Wir sitzen im Café dicht beieinander. David Albaharis Haltung ist gebeugt, seine Gesichtszüge sind starr, auch wenn er redet oder lacht. Seit Jahren leidet er an Parkinson. Wir geniessen gemeinsam das Gespräch über Lieblingsschallplatten und ähnliche Lebenserfahrungen; Albahari reflektiert seine autobiographischen Erlebnisse im Roman "Tierreich": Der kurzen und gescheiterten Revolte von '68 folgt Repression in der Armee. Wer sich nicht unterordnet, es nicht schafft in der Masse abzutauchen, ist dem Tod geweiht.
David Albahari: "Das Tierreich"
"Niemand hält es beim Militär allein aus, jeder braucht einen Menschen, und jeder kennt Augenblicke, in denen er das Bedürfnis hat zu reden. Die Kaserne ist ein Meer aus Geflüster, vor allem wenn die Nacht heranrückt. Die Reihenfolge ist immer dieselbe: Zuerst leckt man sich in der Einsamkeit die Wunden, dann sucht man Trost, aber es bleibt einem jederzeit die Möglichkeit des Vergessens, es genügt, über die Straße zum Kiosk zu gehen und dort eine Flasche Weinbrand zu kaufen. Eigentlich sollte man gleich zwei Flaschen kaufen, eine für sich und eine für den diensthabenden Offizier, um ihn bei Laune zu halten."
Albahari skizziert in "Das Tierreich" eine Welt, erstarrt in Gewaltritualen, in Mord und Totschlag. Unaufhaltsam, ja gnadenlos, treibt Albahari seine Protagonisten in die Zerstörung – erst innerhalb Titos Armee; 40 Jahre später im kanadischen Toronto. Serbische Geschichten finden nie ein Ende. Immer bleibt eine Rechnung offen.
Kanada ist nicht nur Romanschauplatz, sondern auch Albaharis zweite Heimat. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt der Autor dort und pendelt – welch Kontrast! – zwischen Calgary und Zemun. Kanada ist für ihn Ort der Kälte, der Leere und der Inspiration zugleich:
"Als ich am ersten Morgen in Kanada nach draußen ging, dachte ich, so ist es, wenn man sich komplett leer fühlt. Weil, du nichts hast, womit du diesen Ort vergleichen kannst. Du weisst nicht mal, wer deine Nachbarn sind. Ich nahm mich als leeren Menschen wahr, und deshalb schrieb ich die Kurzgeschichte 'The Snowman', im Deutschen 'Tagelanger Schneefall', über die Einsamkeit eines Menschen in einem schneebedeckten Land unter einem großen fetten Mond."
Milena Marković: kleiner
mein sohn den ich nicht geboren habe
ich
sei mir nicht böse dass ich zu dir sage sohn
du bist nicht
hör mir zu
geh weg aus dieser gegend
geh weg aus der stadt
geh weg aus dem land
es ist ein schlechter ort
dort fuhren opas in zerlöcherten anzügen
enkel spazieren
dort leben väter, kinder und enkel
in denselben särgen
in hohen gebäuden
dort warten sie ständig dass ihr leben beginnt glaub mir ich weiß
auch ich warte ständig dass mein leben beginnt geh weg
und mach alles was wir nicht konnten
"Wir hatten 60er-, 70er-Jahre sehr gute Schriftsteller, Romanautoren und die wurden auch gewürdigt in Deutschland. Aber dann liess das nach und als der Krieg auf dem Balkan in den 90er-Jahren ausbrach, interessierten sich plötzlich alle Verlage und alle Zeitungen für serbische Schriftsteller. Die wollten Doppelseiten bringen bei Zeitungen. Also nach dem Motto, mal gucken, was diese Bösewichter schreiben. Und ich hab mich gefreut, ich dachte wunderbar, endlich entdeckt man die serbische Literatur und das wird dann so bleiben. Aber von wegen! Sobald der Krieg aufgehört hat, hörte auch dieses Interesse auf."
Mirjana Wittmann übersetzt zusammen mit ihrem Ehemann Klaus die Bücher von David Albahari und vielen anderen serbisch-kroatisch schreibenden Autoren und Autorinnen. Naturgemäß ist sie eine exzellente Kennerin der Szene. Das von ihr beklagte deutsche Desinteresse an Texten aus Ex-Jugoslawien hat so manches Übersetzungsprojekt scheitern lassen.

Serben schreiben viele Gedichte

Doch immerhin: Es gibt bei einigen deutschsprachigen Verlagen auch eine Kontinuität bei der Herausgabe von Literatur aus Südosteuropa. In Serbien selbst, so Mirjana Wittmann, existiere eine ziemlich rege Verlagslandschaft, was man auch daran ermessen könne, dass viele bedeutende Bücher aus dem Westen sehr schnell auf Serbisch erschienen. Und im Land selbst würde erstaunlich viel geschrieben, wenngleich nicht primär zum Broterwerb:
"Das sind meistens kurze Romane. Oft werden sie im Eigenverlag herausgebracht oder finanziert von der Schwiegermutter oder sonst jemanden. Aber so ist die Situation: die Leute schreiben. Die schreiben sehr viel. Auch Gedichte werden viel geschrieben."
Allerdings gibt es eine wachsende Neigung, den Blick von tagesaktuellen Problemen abzuwenden. Nicht jeder hier ist bereit, die Zustände vor der Haustür zu thematisieren.
"Seit langem bin ich nicht so sehr zufrieden über diese Romanlandschaft und Literaturlandschaft. Ich merke, dass der Krieg vieles Schlechte gebracht hat. Die Schriftsteller sind ein bißchen desorientiert. Die sind unsicher. Sie wissen, die Serben wurden jahrelang als die Bösewichter hingestellt. Und da merke ich leider eine Art Eskapismus. Die Schriftsteller – statt die Zustände im Land zu beschreiben – beschreiben sie Venedig oder Buddhismus oder Japan, andere Länder und ich versuche immer wieder ihnen zu sagen, das interessiert keinen, was ein Serbe über Zen-Buddhismus denkt. Aber es gibt auch Gute."
Eine der "Guten" ist definitiv Milena Marković! In Serbien vor allem als Stückeschreiberin bekannt, werden ihre Arbeiten auch an einigen österreichischen Theatern gespielt. Jüngst sind sogar ihre Gedichte in der Wiener "Edition Korrespondenzen" erschienen.
Das Schöne an Belgrad ist, dass es direkt neben den hektischen Hauptstrassen gleich ruhige, fast dörflich anmutende Viertel gibt. Ich treffe mich mit Milena Marković in einer Art Gartenkneipe am Abend. Die Autorin hat wenig Zeit. Sie will ihr Kind nicht solange alleine lassen. Halb amüsiert, halb skeptisch nimmt sie mein Interesse an der Belgrader Literatur auf: diese Typen aus dem Westen.
"Wie soll man hier in diesem Land über die Kunst reden, wenn alles auseinanderfällt? Es gibt keine Wirtschaft – Gesundheitswesen, Justiz, alles fällt auseinander, wie soll man da über Kunst reden? Wir haben nie in einer geregelten Gesellschaft gelebt also wissen wir nicht, wie das ist. Im Prinzip ist es hier unmöglich, dass so etwas wie die "Buddenbrooks" entsteht, weil es keine sechs bürgerlichen Generationen gegeben hat. Hier ist man immer von Kriegen beeinflusst und die längste friedliche Periode, wo es bergauf ging, war zur Zeit des Sozialismus."

Den Glauben an die EU verloren

Lange war Milena Marković pro-westlich eingestellt, aber jetzt glaubt sie, man könne die EU vergessen. Die ist keine Option für sie. Sie definiert sich heutzutage als "anarcho-slawisch". Beim Schreiben hat sie keine konkrete Zielgruppe. Ihre Poesie mögen sowohl Philosophiestudentinnen, ältere Damen als auch "idiotische Kriegsveteranen", das hat sie alles schon erlebt. Ihr Fazit:
"Ohne falsche Bescheidenheit, ich gehöre zur ersten Liga der Autoren, aber da hier ein wilder Kapitalismus herrscht, muss ich um die Existenz kämpfen."
Milena Marković: böses
so habe ich gelebt
so habe ich monatelang gelebt
ich dachte ich würde ruhig werden und
aufhören böses zu tun dann eines tages
schlief ich nachmittags ein und als ich erwachte
sah ich
dass nichts von alldem weg war
es kam zurück und packte mich am bauch
und sagte zu mir hej
komm hej
lass uns böses tun.
Jelena Volic: "Kornblumenblau"
"Wie bei einem Puppenhaus fehlten an zwei Seitenflügeln die Wände. Und die Zimmer auf den Etagen eins bis vier waren nur noch ausgebrannte Löcher. Sechzehn Journalisten, Redakteure und Fernsehtechniker, im Alter von 27 bis 54 Jahren, waren hier an ihrem Arbeitsplatz gestorben, denn dieser Ort gehörte zu den strategischen Zielen der NATO. Fünf Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges flogen wieder Kampfflugzeuge über Belgrad, und tausende Bürger machten sich auf den Weg, um sich auf die Brankov-Brücke, den Zugang nach Belgrad, zu stellen und das Bauwerk vor der Zerstörung zu schützen. Wenn Milena heute die Ruine betrachtete, dann überkam sie eine merkwürdige Melancholie. Zwischen diesen Ruinen klaffte eine riesige Lücke, ein schwarzes Loch, in dem eine ganze Welt versunken war. Es war die Welt Jugoslawiens mit dem roten Pioniertuch, den weißen Kniestrümpfen und den Räumen ihrer Kindheit… Das Leben von damals hatte sich in einem anderen Land abgespielt, in dem der Boden noch nicht mit dem Blut aus dem Jugoslawienkrieg getränkt und besudelt worden war."
Der Zerfall Jugoslawiens, der Bürgerkrieg, die vielen Verletzungen und nicht verheilten Wunden, das Verhältnis zum Westen und zur EU, beschäftigen und bedrängen die Serben bis heute. Sie werfen Fragen auf nach persönlicher Identität und Zugehörigkeit. Mirjana Wittmann ist eine bekennende Jugo-Nostalgikerin, für David Albahari ist es mittlerweile unvorstellbar, dass es jemals ein Land namens Jugoslawien gegeben haben soll, und Milena Markovićs Antwort ist "anarcho-slawisch". Jelena Volic, hauptberuflich für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit tätig, wiederum schreibt ihre Krimis zusammen mit Christian Schünemann auf Deutsch.
"Ich kann auf Deutsch den Serben sagen, was ich von denen halte und ich kann auf Serbisch sagen, was ich von den Deutschen halte. Ich kann meine Wut so wunderbar so rauslassen ohne jemanden zu beleidigen."
Aber ihre größte Sorge ist seit dem Brexit der Zerfall der EU. Sie erinnert mich an den durch ein Attentat 2003 ums Leben gekommenen serbischen Ministerpräsidenten Zoran Đinđić:
"Also, der ist im März umgebracht und im Februar hat er eine Rede in Genf gehalten, weil er hat diesen großen Preis vom Churchill Institut bekommen hat, und da hat er eine Rede gehalten unter dem Titel 'Europa braucht eine Seele'. Und das isses. Also, anstatt Europa als ein Kulturprojekt zu pflegen, was ich Dir gesagt habe, Brexit, schön. Wer nimmt aber Huxley? Wer nimmt Virginia Woolf von mir? Wer nimmt Lawrence von mir? Wer nimmt T.S. Eliot von mir? Das ist alles meine Identität. Sorry."

Belgrad will leben

Belgrad. Das sind Bürger, die eine Brücke über die Save erst beschützen und dann zum Wippen bringen. Großartige Literatur, seit Jahrzehnten: Danilo Kiš, Aleksandar Tišma, Ivo Andrić, Bora Ćosić. Die Cafés sind voll und die Taxis für Leute aus dem Westen billig. Die Ruinen der 99er-Bombardierung – sie werden verschwinden, Belgrad will leben. David Albahari will nicht seine Krankheit, er will leben, leben, schreiben und über Schallplatten reden, und da sind wir uns verdammt nahe hier in "Mr. Black" mit seinen Flipperautomaten und seiner Espressomaschine:
Albahari: "Wir sollten nie die Hoffnung aufgeben. Wir sind, wenn wir so wollen, die bessere Hälfte. Wir können einen sinnvollen Weg finden. Wie in diesem Song aus den 60ern: If you can't be with the one you love, love the one you're with. Das ist der schönste Tipp, den ich jedem geben kann: 'Wenn der, den Du liebst nicht da ist - liebe einfach den, der neben dir steht.' Das verbindet Menschen. Diese Empathie vermissen wir oft in diesen Tagen. Ich spreche da wie ein falscher Prophet, aber manchmal muss das eben jemand machen."
Milena Marković: die besten
was immer du sagtest
du hast es getan
du bist mir der beste
freund
du bist wie ein bach manchmal gehst du verloren
ein schnelles bächlein kaum dass ich es schaffe
'hineinzupinkeln
ich kenne verschiedene leute
ich weiß nichts von ihnen
sie wissen nichts von mir
und wissen nichts von dir
sie wissen nicht dass du arbeit hattest
in einer kanzlei
mit deinem bruder
und ich war morgens betrunken
ihr gabt euch im badezimmer einen schusseinmal fuhren wir autoscooter im luna park
und abends furchtbar
alles geld ging drauf für das gesöff
mal billiges mal teures
auf der wandbank
mit einer die die besten beine hatte
und einen weißen bh
wenn sie sich bückte um wasser zu trinken sahen wir
den weißen bh
und ein haufen schöner weiber
auf den korridoren
die skifahren gingen im winter
und im sommer auf die inseln
wo sind die kühe heute
die mit dem bh ist womöglich verrückt
was gut wär
alle übrigen sind kühe
aber wir sind hier die besten
wir haben überlebt und wollen mehr
und immer noch mehr
wo ist die freiheit hin
als wir das unterste glied
der nahrungskette waren
wohin die scooter im luna park
und die verrückten weiber aus den verschiedenen wohnungen
die mit uns gingen ich wundere mich noch heute
wozu sie das nötig hatten
und die badezimmer
und geschichten geschichten geschichten
wir erzählen keine geschichten mehr
wir kennen uns zu gut
(inh)
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