Belgischer "Pannenmeiler" Tihange

Nur ein paar Risse im Atomkraftwerk

Das umstrittene belgische Atomkraftwerk Tihange.
Das umstrittene belgische Atomkraftwerk Tihange © AFP / Belga / Eric Lalmand
Von Frederik Rother · 26.07.2016
Nicht funktionierende Sicherheitssysteme oder Risse in der Reaktorhülle: Seit Jahren gibt es Probleme beim belgischen Atomkraftwerk Tihange. In Deutschland wappnet man sich für einen GAU, die Regierung fordert die Schließung. Die Anwohner hingegen scheinen kein Problem mit dem "Pannenmeiler" zu haben.
Es riecht nach Papier und Zeitungen im Presseladen von Arieta, im Zentrum der kleinen ostbelgischen Stadt Huy. Arieta – 54 Jahre alt, zupackende Art – ist sehr hilfsbereit und versucht, mich in Kontakt mit den Einheimischen zu bringen. Sie erzählt gerade einer Kundin, dass ich - ein deutscher Journalist – mit ihr über "La Centrale" reden wolle, über das örtliche Atomkraftwerk.
Die meisten Kunden sind von dem AKW nicht begeistert. Es liegt nur drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und erregt seit Jahren durch kleine und große Pannen Aufmerksamkeit. Zuletzt war in den vielen Zeitungen in Arietas Laden von den tausenden Haarrissen im Stahlmantel und einem nicht funktionierenden Messgerät für Radioaktivität zu lesen.
Aber zum großen Aufreger reicht das alles trotzdem nicht. Ein Mädchen, 14 Jahre alt, kauft mit ihren Freunden Süßigkeiten. Ihr Vater ist Ingenieur im Kraftwerk. Ob er mal von den Problemen erzählt hat, will ich wissen. Nichts Großes, meint sie. Es hätte wohl mal Risse gegeben, aber nichts Gravierendes.

Einige Verantwortliche suspendiert

Achselzucken bei einem Mann um die 40, der schließlich noch nach zwei Packungen Zigaretten fragt. Arieta weiß, warum das Thema hier nicht so heiß ist, wie im nahen Deutschland, wo es kürzlich sogar Demonstrationen gegen das Atomkraft werk gegeben hat.
"Man vergisst es schnell, man lebt damit. Sonst könnte man hier ja auch gar nicht wohnen. Manchmal hat man natürlich Angst und fragt sich schon, was wäre, wenn etwas passieren würde; wenn es explodieren würde zum Beispiel. Aber man versichert uns immer, dass die Leute, die dort arbeiten, wissen was sie tun, und dass es keine Probleme gibt."
Belgien und seine beiden Atomkraftwerke - ein emotionales Thema. Im nordrhein-westfälischen Aachen werden schon mal vorsorglich Jodtabletten für die Bevölkerung gebunkert. Sie sollen die Schilddrüse beim GAU vor Radioaktivität schützen. Außerdem haben einige Kommunen und Bundesländer Klage gegen den weiteren Betrieb von einem der Pannenreaktoren eingereicht, eine Google-Suche nach "Atomkraftwerk Tihange" lässt Stichworte wie "atomarer Ernstfall" und "Pannenserie" aufploppen. Der Vorwurf: In dem Atommeiler würde extrem unsauber, gar schlampig, gearbeitet werden. Die Atomaufsicht Belgiens hat sogar schon einige Verantwortliche suspendiert.
"Ich stehe jetzt vor dem Atomkraftwerk. Vor mir ein Riesen-Schornstein; davon gibt es drei, gut 100 Meter von mir entfernt. Drumherum, man hört es auch ganz gut, ist eine recht viel befahrene Straße, hier links von mir gibt es noch ein kleines Gewerbegebiet mit einer Autowaschanlage, einem Supermarkt."

Noch nicht gelb vor Strahlung

Und rechts von mir steht "Tihange quatre", der vierte Reaktor, gewissermaßen. Es handelt sich um eine kleine Brasserie. Hier treffen sich die Mitarbeiter des Kraftwerks. Auch sie kaufen ihre Zeitungen bei Arieta und wissen genau, was vor allem die Deutschen über ihren Arbeitsplatz denken; dass die Bundesregierung im Frühjahr erst Forderungen stellte, den sogenannten "Pannenmeiler" möglichst rasch herunter zu fahren. Einer zeigt stolz auf das Betreiberlogo auf seiner Brust und sagt, was alle hier denken: Journalisten mit Fragen zur Sicherheit ihres Atomkraftwerks nerven. Einer will doch mit mir sprechen. Sebastien ist der Chef der kleinen Bar. Auch sein Arbeitsplatz hängt an Tihange.
"Im Kraftwerk passiert nichts Besonderes, alles ist sicher. Alle 15 Minuten fährt zum Beispiel der Wachschutz um das Kraftwerk. Ich denke nicht, dass es besonders gefährlich ist. Der Ort ist wirklich sicher."
Um die 1000 Menschen arbeiten direkt für das Atomkraftwerk – noch mehr Menschen leben indirekt von dem Betrieb. Sie verdienen ihr Geld in Supermärkten, Bäckereien oder Zeitungsläden. Der letzte Reaktor in Tihange soll in neun Jahren abgeschaltet werden. Dann will Belgien aus der Atomkraft ausgestiegen sein. Bis dahin sei man in sicheren Händen, glauben Sebastien und seine Stammgäste. Zum Abschied meint er zu mir: Die Menschen seien schließlich noch nicht gelb vor Strahlung.
Das belgische Atomkraftwerk Tihange
Alltag neben dem Atommeiler: Die Menschen verstehen die Aufregung in Deutschland nicht.© Deutschlandradio Kultur / Frederik Rother
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