Beit Polska - Progressives jüdisches Gemeindeleben in Polen

Von Hermann Schmidtendorf · 04.09.2009
Lange zeit war in Polen jüdisches Gemeindeleben kaum präsent. Doch in den letzten Jahren hat ein spürbarer Wandel stattgefunden.
"Ende der 1990er-Jahre erfuhren einige Freunde voneinander, dass sie jüdische Wurzeln haben. Sie begannen, darüber nachzudenken, was das für sie bedeutet, und begannen, gemeinsam den Szabat zu feiern. Das fand im elitären Klub der Intelligenz Salon 101 statt, den Frau Malgorzata Bohenska leitet, die auch jüdische Wurzeln hat. Im Jahr 2000 war die Gruppe dazu herangereift, die Jüdische Kulturgesellschaft Beit Warszawa zu gründen. Inzwischen haben wir in Herrn Seweryn Aszkenazy einen großzügigen Gönner gefunden, der uns für das Gemeindeleben dieses Haus zur Verfügung stellt, in dem wir uns jetzt befinden. Regelmäßig treffen sich hier 250 Menschen zu religiösen Feiern, Festen und Vorträgen. Wir holen den Juden aus seinem Schrank hervor."

Das Aufdecken verschollenen Wissens über die eigene jüdische Herkunft ist in Polen immer noch eine wichtige Aufgabe, erläutert Malgorzata Lubinska am eigenen Beispiel.

"Ich erfuhr von meinem jüdischen Wurzeln von meiner im Sterben liegenden Oma, als ich 30 Jahre alt war. Das ist in Polen eine sehr typische Geschichte. Vor dem Krieg lebten in Polen viereinhalb Millionen Juden. Beide Kulturen waren 850 Jahre stark miteinander verwoben. Wir wissen, was Holocaust und Shoah brachten, doch das polnische Volk hat auch stark gelitten. Ich glaube nicht, dass es mit der Muttermilch aufgesogenen polnischen Antisemitismus gibt. Aber es gab und gibt Unwissen, Unsicherheit, Angst, die zu Abwehrhaltung und Verklärung eigener Fehler führen. Andererseits haben in Polen verbliebene Juden auch sich unsicher gefühlt oder sogar ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht ausgewandert sind. Erst die heutige Demokratie erlaubt es und fordert geradezu, dass wir uns über unsere eigenen Wurzeln klar werden und sich zu ihnen bekennen."

So begreift Beit Warszawa es als eine besondere Mission zu erreichen, dass es in Polen wieder etwas ganz Normales wird, ein Jude zu sein. Auch auf dem flachen Lande oder in polnischen Kleinstädten gibt es genügend Juden, die erst jetzt das Geheimnis ihrer jüdischen Herkunft erfahren – von Familienmitgliedern oder durch das Auffinden alter Dokumente auf dem Dachboden. Durch die Gründung des Verbands der Progressiven jüdischen Gemeinden Beit Polska mit Gemeinden in immer mehr polnischen Städten sieht sich Malgorzata Lubinska ihrem Ziel deutlich näher.

"Seit 2006 haben wir den ständig mit uns arbeitenden Rabbiner Burt Schuman aus den USA, und Anfang 2007 kam die erste Rabbinerin Polens Tanja Segal dazu, die Gemeinden in ganz Polen aufsucht und aufbaut. Als ich die Unterschriften für die Gründung des Gemeindeverbands Beit Polska sammelte, traf ich auf sehr aktive Gemeindegruppen in Wroclaw und anderen schlesischen Städten, die dem reformierten Kurs, der progressiven Richtung, anhängen. Bisher fuhren sie zu Gemeindefeiern nach Berlin oder Frankfurt, sie arbeiteten in den dortigen Kongregationen mit. Bis jetzt haben wir stabile Gemeinden in Chelm, Krakau, Breslau, Grünberg und Slupsk."

Der Aufbau eines in die Tiefe gehenden jüdischen Gemeindelebens in einer echten Gemeinschaft ist die Aufgabe von Beit Polska. Der Kulturverein will daneben Brücken bauen in die polnische Mehrheitsgesellschaft, aber auch zu anderen religiösen Minderheiten. Gleich gegenüber von uns haben die Warschauer Muslime ihre Moschee, strahlt Malgorzata Lubinska - wie in einem alten jüdischen Stetl sind Moschee, Synagoge und Kirche in direkter Nachbarschaft, warum solle man sich da nicht einmal besuchen.

Und wie nimmt die orthodoxe jüdische Mehrheit Polens die Aktivitäten von Beit Polska auf? Ohne Orthodoxie kann es keine Reform geben, antwortet Malgorzata Lubinska. Beide Gemeinden haben schon gemeinsam an der Weichsel einen gelungenen Tashlik gefeiert, und der orthodoxe Oberrabiner Szudrich habe zu Beit Polska anerkennend erklärt:

"Polens Juden haben eine neue Etappe erreicht, in der nicht mehr das alles beherrschende Thema die schrecklichen Erlebnisse und das Trauma des Holocaust sind, sondern die normalen jüdischen Probleme, über die in der gesamten Welt gestritten wird."