Beim Fernsehen "war die DDR mehr als konkurrenzfähig"

Lorenz Engell im Gespräch mit Nana Brink · 24.12.2012
Fernsehen kam in Deutschland von oben und war lange Zeit ein Kulturierungsunternehmen, sagt der Weimarer Medienforscher Lorenz Engell. Bei der Einführung der neuen Technik vor 60 Jahren habe die DDR knapp vorn gelegen.
Nana Brink: Am Telefon ist jetzt Professor Lorenz Engell,
Professor für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität in Weimar. Einen schönen guten Morgen, Herr Engell!

Lorenz Engell: Guten Morgen!

Brink: Wieso dieser Termin, wieso Fernsehen als Geschenk an das deutsche Volk?

Engell: Ja, das hat zwei Zusammenhänge, würde ich mal sagen. Erstens mal gibt es eine merkwürdige Allianz zwischen Weihnachtsereignissen und Rundfunk- und Fernsehereignissen überhaupt. Das ging schon ganz am Anfang des Jahrhunderts los, 1906, als die erste Testradiosendung über den Nordatlantik gefunkt worden ist von Reginald Fessenden, das hat der auch an Weihnachten gemacht und die Seeleute erreicht, die dort auf ihren Schiffen unterwegs waren.

Und das setzt sich sofort eben über die Einführung des Fernsehens in beiden deutschen Staaten, die trotz Stalin natürlich beide eigentlich als Weihnachtssendungen zu sehen sind. Und das setzt sich auch darüber hinaus noch weit, weit fort – also ein ganz berühmtes späteres Weihnachtsereignis des Fernsehens ist 1968, das ist die Zeit des Mondflugs, wo nahezu jeden Monat eine weiter reichende Kapsel ins All auf dem Weg zum Mond geschickt worden ist, und zu Weihnachten '68 gab es die erste Erdumrundung in einer Apollo-Kapsel, und am Heiligen Abend gab es eine Live-Übertragung aus dieser Apollokapsel mit Blick aus dem Fenster auf den blauen Planeten – damals nur in Schwarz-Weiß zu sehen, trotzdem sehr ergreifend, und die Astronauten lasen dazu aus der Bibel die Schöpfungsgeschichte vor.

Also ein ganz hoch aufgeladenes Event, und so zieht sich das immer weiter. Und die andere Pointe bei dem, was Sie sagen, das ist natürlich das Geschenk ans Volk, das ist jetzt wirklich die Handschrift des Deutschen im deutschen Fernsehen, nämlich die Idee, dass das Fernsehen eine Veranstaltung zur Verbesserung und Beglückung anderer ist, also das Fernsehen kommt in Deutschland fast noch für Jahrzehnte immer von oben, egal, ob es die Regierung ist oder ob es eine ARD als öffentliche Anstalt ist, das ist immer ein Verbesserungsunternehmen, ein Kulturierungsunternehmen, immer ein Autoritätsunternehmen, das also so ans Volk geschenkt, nicht etwa von ihm gewünscht oder veranstaltet wird.

Brink: Interessant ist ja bei diesen ganzen Gründungsgeschichten auch – und das wurde ja in Westdeutschland zumindest lange vielleicht etwas unterschlagen –, dass die DDR vier Tage früher auf Sendung war. Das ist ja so ein bisschen ähnlich wie mit der Mondlandung, die Systeme waren im Wettlauf miteinander – auch beim Fernsehen?

Engell: Ja, die Systeme waren im Wettlauf miteinander. Das Interessante ist nun, dass beim Fernsehen – deshalb ist Ihr Bericht sozusagen ein bisschen irreführend … denn beim Fernsehen lag die DDR diesmal tatsächlich vorne, und beim Fernsehen war sie nie im Rückstand. Das ist so ziemlich der einzige Bereich, in dem das so war. Also die Versorgung der Bevölkerung zum Beispiel mit Fernsehgeräten war schneller marktsättigend und flächendeckend als in Westdeutschland, und der Sendebetrieb wurde schneller aufgenommen, die Sendezeiten waren schneller ausgebaut und so weiter – ganz interessant. Ausgerechnet da war die DDR mehr als konkurrenzfähig, das hatte natürlich im Hintergrund die Einsicht in das Fernsehen als Propaganda-Instrument in derselben autoritären Tradition, über die ich eben schon gesprochen habe.

Brink: In der deutschen Tradition – Farbfernsehen gibt es seit 1967, aber es gab auch immer unterschiedliche Systeme in der DDR und in Westdeutschland. Also das Ostfernsehen im Westen konnte man zum Beispiel nur schwarz-weiß empfangen. Die verstanden sich auch nicht, die Systeme.

Engell: Nein, die waren ja technisch auch verschiedener Art, also die DDR, als die dann auf Farbe umschaltete, war aus ideologischen Gründen natürlich außerstande, das westdeutsche System zu kaufen. Man kaufte deshalb das französische System, wie der gesamte Ostblock, und die konnte man kompatibel machen und auch nicht. Und so geschah es, dass auf westdeutschen PAL-Empfängern das Secam nicht empfangbar war.

Brink: Was konnte man denn sehen vor 60 Jahren, und wer konnte es vor allen Dingen sehen?

Engell: Ja, das hat ja Ihr Beitrag schon alles gesagt, sehr wenige Leute konnten etwas sehen, es gab auch nur wenig Sendefläche. Und das Interessante ist, dass dann – jetzt kommen wir auch auf Weihnachten zurück – natürlich als erstes der Verkauf von Fernsehgeräten angekurbelt werden musste, und das geschah auch, und das geschah immer wellenartig in den ersten Jahren zu Weihnachten. Also das Fernsehgerät wurde angepriesen, da gibt es in der Rückschau also wirklich Hunderte von wirklich amüsanten Werbeannoncen, wie das Fernsehgerät als ideales Weihnachtsgeschenk empfohlen wird.

Da sind Christbäume abgebildet, unter denen entzückte halbwüchsige Töchter Fernsehgeräte auspacken, die als Geschenk an die Familie unterm Christbaum stehen – diese ideale Kleinfamilie mit Vater, Mutter und zwei Kindern, die um den Fernseher herum sich schart, so wie es ja dann auch gekommen ist. Der Fernseher hat ja unsere Wohnzimmer nachhaltig und stark verändert. Der Absatz von Fernsehgeräten ging dann ganz steil in die Höhe, und schon ein paar Jahre später waren es natürlich nicht mehr nur 4.000, sondern viele Hunderttausend und Millionen Leute.

Brink: Was sind die Highlights aus 60 Jahren, kann man die überhaupt so benennen? Ist es die Tagesschau, die Sportschau, "Tatort", "Polizeiruf" – was ist es?

Engell: Kommt drauf an, wen Sie fragen.

Brink: "Sandmännchen"?

Engell: Das kommt drauf an, wen Sie fragen, natürlich. Das Interessante ist ja, dass der Fernseher immer ganz, ganz stark mit der eigenen Biografie verbunden ist, und jede und jeder wird das nennen, was in der eigenen Fernsehphase, Fernseh-Heranwachsphase oder Fernseh-Lernphase oder so etwas entscheidend war.

Brink: Was ist es bei Ihnen gewesen, oder was ist es bei Ihnen?

Engell: Ja, das ist jetzt natürlich biografistisch und für Ihre Hörer wahrscheinlich ziemlich uninteressant, denn ich bin ganz spät erst zum Fernsehen gekommen, denn in meinem Elternhaus gab es gar keinen Fernseher bis ungefähr 1971, als ich zwölf Jahre alt war. Also ich bin sehr, sehr spät erst zum Fernsehen gestoßen, und dann allerdings doch, dann hat es eine Prägung gegeben, und zwar durch englische Agentenserien. Aus irgendeinem Grund durfte ich unbeaufsichtigt Fernsehen gucken und entwickelte eine Vorliebe für englische Agentenserien wie zum Beispiel "Mit Schirm, Charme und Melone" oder "Department S". Das war sehr lustig, und das hat mich auch bis heute nicht mehr verlassen.

Brink: Gucken wir in 60 Jahren auch noch Fernsehen?

Engell: Aber ja. Die Frage ist, wie das dann aussieht und was die Verbreitungstechnologie sein wird. Viele denken ja, das Fernsehen verschwindet zugunsten des Internet, aber man kann genau so gut sagen, dass das Fernsehen auch das Internet nutzt, um einen anderen Verbreitungskanal zu haben, und das ist ja auch in der Vergangenheit schon öfters geschehen. Also die Verbreitung über Antennenmasten und Antennen auf den Dächern hat Konkurrenz durch Kabel und Satellit erfahren und erfährt jetzt Konkurrenz durch die Übertragung übers Internet, das kann noch ein paarmal passieren. Fernsehen nutzt das und verändert sich dabei natürlich auch, aber Fernsehen wird es mit Sicherheit noch eine ganze Weile geben, ja.

Brink: Lorenz Engell, Professor für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität in Weimar. Herr Engell, schönen Dank für das Gespräch und schöne Weihnachten.

Engell: Einen schönen Tag Ihnen auch.

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