"Bei Wikipedia bin ich extrem vorsichtig"

Uwe Naumann im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 19.03.2010
Um in Zukunft bestehen zu können, plant Rowohlt-Mitarbeiter Uwe Naumann eine multimediale Version der rororo-Monographien. Damit möchte er vor allem Studenten gewinnen. Dass die an den Unis nicht aus Wikipedia zitieren dürfen, findet er "sehr gut".
Klaus Pokatzky: Auf einen widerwärtigen Fehler hat der Schriftsteller Thomas Bernhard den Rowohlt-Verlag einmal aufmerksam gemacht und den "sehr geehrten Herren" dort geschrieben: Auf Seite 131 Ihrer Faulkner-Monographie steht, "in den ersten Julitagen wurde er bei einem morgendlichen Ausritt von seinem scheuenden Pferd abgeworfen". Auf Seite 137 steht, "17. Juni Sturz vom Pferd". Also Juni oder Juli, das ist hier die Frage. Keine Frage ist, die rororo-Monographien mit ihren 650 Bänden gehörten jahrzehntelang zur Grundausstattung der Bibliotheken der gebildeten Stände. Gehören sie im virtuellen Zeitalter immer noch dazu? Das ist auch die Frage. In unserem Studio auf der Leipziger Buchmesse begrüße ich nun Uwe Naumann, den Herausgeber der Monographie-Reihe, guten Tag!

Uwe Naumann: Guten Tag!

Pokatzky: Herr Naumann, Sie arbeiten schon seit 25 Jahren bei den Monographien mit und haben selber dort auch einen Band über Klaus Mann veröffentlicht. Was war denn Ihr widerwärtigster Fehler bisher?

Naumann: Ach, da gibt es immer wieder welche, aber dafür ist dann ja auch gutes Lektorat da, um immer wieder zu prüfen. Wir kriegen viele Leserzuschriften, die Reihe ist eben nicht zuletzt unter Lehrern und pensionierten Lehrern sehr verbreitet, und die machen sich eine Freude daraus, uns darauf hinzuweisen, dass auf Seite soundso viel das Datum nicht richtig ist oder die Seitenangabe in der Quelle nicht stimmt. Aber ich kann ja auch zur Verteidigung, so viele Fehler gibt es ja zum Glück gar nicht, das macht einen Teil auch des Ruhmes dieser Reihe aus, dass sie sehr verlässlich ist. Deswegen wurde sie seit über 50 Jahren immer so gern benutzt von Lehrern und Hochschullehrern, aber eben auch von allen Kollegen im Literaturbetrieb, am Theater, in den Dramaturgien und so weiter.

Pokatzky: Sie haben gesagt, pensionierte Lehrer, das heißt ja, dass wir es hier auch mit einer Klientel haben, die nicht unwesentlich ist für Sie, die zunehmend in ein Alter gerät, wo sie irgendwann überhaupt nicht mehr lesen kann. Also, es geht jetzt darum, wie werden Sie die Monographien in ein Zeitalter retten, wo jüngere Leser sich doch viel eher bedienen werden, wenn es um kurze, knappe biografische Informationen von Personen geht im Internet, wenn sie googeln und Wikipedia nutzen?

Naumann: Also der Biografienmarkt insgesamt befindet sich in einer Krise, daran kann man nicht vorbeireden. Wir merken das an stetig sinkenden Verkaufszahlen der Monographien, und wir haben inzwischen die Reihe, was die Neuerscheinungen angeht, auch um die Hälfte reduziert. Also früher war es jeden Monat ein Band, jetzt sind es noch alle zwei Monate ein Band, also sechs im Jahr statt zwölf. Das reagiert darauf, dass die Verkaufszahlen der Neuerscheinungen dramatisch zurückgehen und es ist, wie Sie sagen …

Pokatzky: Können Sie da Zahlen nennen?

Naumann: Ja, wir haben früher mit 12- bis 15.000 Erstauflagen angefangen, inzwischen sind es noch 6-, 7- oder 8000, das ist also mehr als eine Halbierung. Und die Verkaufszahlen nach einigen Monaten liegen dann in der Regel bei 3- oder 4000, nur bei Ausreißern, etwa wenn große Gedenktage sind, also in jüngster Zeit Mendelssohn oder Humboldt, oder wenn große Preise verteilt werden – ich sag mal Toni Morrison, Harold Pinter –, dann gibt es einen Pendelausschlag nach oben. Ansonsten sind die Verkaufszahlen bescheiden, und es hat damit zu tun – ich hab selber Kinder, die beide im Studienalter sind, die schauen ins Netz, die schauen bei Google oder Wikipedia, wohl wissend, dass da Fehlerquellen sind, die stärker sind als bei Rowohlt-Monographien, aber es geht eben sehr fix. Man sitzt am Computer, schreibt einen Text über Max Frisch, über wen auch immer, Ludwig van Beethoven, Bach, und in Sekundenschnelle hat man eine Jahreszahl, eine Werkangabe, einen Werktitel aus dem Netz gefischt, anstatt mühsam zum Regel zu gehen oder gar erst den Weg in die Buchhandlung oder in die Bibliothek anzutreten.

Pokatzky: Seit wann ist man sich im Verlag denn bewusst, dass die Reihe kriselt, seit wann haben Sie das richtig heftig mitbekommen und gesagt, das sind jetzt nicht nur einzelne Ausreißer, sondern das ist wirklich ein Trend, der Bedeutung für uns hat?

Naumann: Das ist seit vier bis fünf Jahren deutlich zu spüren, und in den letzten Jahren hat es noch zugenommen. Wir machen uns darüber sehr starke Gedanken. Es gibt im Verlag natürlich einen Stolz, den ich teile, auf diese Reihe, die nun seit 50 Jahren die schönste und erfolgreichste Buchreihe mit Biografien auf dem deutschsprachigen Markt ist, und dennoch kann man an den aktuellen Verkaufszahlen nicht vorbeisehen. Also die Tophits der Reihe sind unglaublich in den Auflagen. Der Brecht-Band hat fast 500.000 Auflage allein erreicht, Kafka 400.000, Goethe 370.000 – das sind wunderbare Zahlen, aber sie sind eine große Vergangenheit.

Jetzt versuchen wir natürlich zu reagieren. Das eine ist, dass man dagegenarbeitet, auch mit den Medien, also ich bin dankbar über jede Möglichkeit, das zu propagieren. Ich versuche auch persönlich natürlich viel zu tun. Unsere Buchhandelsvertreter gehen in die Buchhandlungen und preisen das Lob der Biografien-, der Monographien-Reihe im Speziellen, aber überhaupt des Biografien-Lesens. Und ich glaube, dass wir auch dazu übergeben müssen, das neue Medienzeitalter in die Monographien und überhaupt in biografische Projekte mit hineinzunehmen. Das heißt, nicht einfach nur Text abzudrucken, vielleicht durch Bilder illustriert – das ist ja das Erfolgsrezept der Monographien 50 Jahre gewesen –, sondern neue multimediale Elemente einzubauen. Und wir entwickeln das gerade, wir sind mit einigen Kollegen in Kontakt, auch außerhalb des Rowohlt-Verlags, und entwickeln etwas, sodass wir hoffen, dass wir im Herbst dieses Jahr zur Buchmesse die erste multimediale Monographie vorlegen können – das soll Albert Einstein sein, Thomas Mann ist auch in Vorbereitung. Und dann kann man im Netz das Buch lesen, die Bilder anschauen und bei bestimmten Bildern ist ein Zeichen, und da kann man Klick machen, und da wird einem zum Beispiel Thomas Mann mit einer Originalrede in Weimar oder in Frankfurt oder in Stuttgart vorgeführt.

Das ist ein völliges Neuland, auch für uns als Büchermacher, auch wir Lektoren sind ja gewöhnt, mit Texten zu arbeiten und mit Autoren. Plötzlich müssen wir mit Filmarchiven, mit Rundfunkarchiven zusammenarbeiten. Aber ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei. Und dann bekommen diese Bücher vielleicht im Netz einen neuen Plusmehrwert, einen Bonus sozusagen, der sie wieder attraktiv macht auch für die ganz jungen Leser.

Pokatzky: Ich spreche mit Uwe Naumann, mit dem Herausgeber der rororo-Monographien. Herr Naumann, was Sie eben geschildert haben, klingt auch so ein bisschen so, was Brockhaus, der gute alte Brockhaus macht, wo ich ja auch aus dem Internet aktualisieren kann, wo ich andere Elemente dann habe, bewegte Bilder. Gleichwohl hat das nichts daran geändert, dass Brockhaus ganz offensichtlich immer noch nicht weiß, ob er in Zukunft auch weiterhin in einer gedruckten, mehrere Dutzend Bände umfassenden Form erscheint.

Naumann: Darüber müssen wir uns auch ernsthafte Sorgen machen. Ich würde heute auch keinen heiligen Schwur ablegen, dass in zehn Jahren die Monographien-Reihen noch in gleicher Frequenz den Buchmarkt mit Neuerscheinungen bestückt, das weiß kein Mensch, wir müssen das beobachten. Und natürlich gibt es kaufmännische Grenzen dafür, das gilt für Brockhaus- wie für Rowohlt-Monographien wie auch für andere Bücher.

Pokatzky: Was heißt das, wo ist kaufmännische Grenze?

Naumann: Also wenn ich eine Monographie neu auf den Markt bringe, mit 50 vierfarbigen Bildern, mit aufwendigen Bildrecherchen, Quellenrecherchen, mit einem Autor, der dafür honoriert werden möchte, völlig zu Recht, mit technischer Produktion und mit allem, was dazugehört, dann macht es keinen Sinn, wenn ich davon noch 5- oder 600 Exemplare verkaufen kann. Ich muss eigentlich bei 4-, 5000 oder mehr sein, um überhaupt ein Produkt rentabel zu machen, und ich würde mir wünschen, dass ich in zehn Jahren noch genauso froh über diese tolle Reihe sprechen kann, aber sicher können wir uns nicht sein.

Pokatzky: Abgesehen von den Klassikern, die Sie haben, wo also quasi schon die Großvätergeneration heutiger Professoren drin studiert hat, gab es aber auch immer mal Bände, die dann eher nicht so gut gelaufen sind, für die Sie heute sich vielleicht auch so ein wenig genieren. Gibt es die?

Naumann: Die gibt es, aber ich geniere mich nicht dafür. In vielen Fällen waren das die interessanten Außenseiter …

Pokatzky: Mao.

Naumann: … und ich glaube, wenn man nur den Main… – ja, auch andere. Ich nenne mal ein Beispiel, das vielleicht verblüffend ist: Janusz Korczak – eine große Figur der Pädagogik, aber natürlich ein Geheimtipp. Da war man dann ganz stolz und froh, dass man den im Programm hatte und dass vielleicht ein paar Leute über diesen kleinen Band dann auch einen Weg gefunden haben, sich damit näher zu beschäftigen. Nichts anderes ist ja die Aufgabe dieser kleinen Bücher von 160 Seiten. Also die Außenseiter lobe ich mir, und wir dürfen sie immer weniger machen, weil wir natürlich darauf verpflichtet sind, die Spitze des Kanons zu bedienen, also eben Brecht und Mozart und Goethe und Kant. Aber es macht eigentlich auch Freude, sozusagen eine Schicht tiefer zu gucken und vielleicht was zu entdecken oder etwas in die Welt zu bringen, wo die Leute sagen: Ach, das ist ja interessant, mal eine Biografie über einen, von dem ich kaum etwas wusste bisher.

Pokatzky: Kurt Kusenberg, dem Schriftsteller, der 1958 die Reihe gegründet hat, wurde lange vorgehalten, er habe lauter alte Kumpels als Autoren in die Reihe gebracht. Wie viele Werke wurden denn dann im Laufe der Jahre von anderen Leuten noch mal überarbeitet oder ganz neu geschrieben zu bestimmten Personen?

Naumann: Die Zahl ist inzwischen ziemlich groß, ich glaube, wir haben etwa an die 100 Bände durch neue Fassungen ersetzt, also von ganz anderen Autoren geschrieben. Das sind aber nicht nur die Kriegskumpel von Herrn Kusenberg dabei, da sind eben auch welche dabei, die Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre mit einer Terminologie über Autoren geschrieben haben, die wir heute nicht mehr benutzen würden. Nehmen Sie ein Beispiel, Band 1 der Reihe "Heinrich von Kleist", geschrieben von Curt Hohoff, einem Vertreter der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise – er ist vor wenigen Wochen gestorben –, das kann man heute kaum noch lesen. Und wir haben diesen Band ersetzt durch einen Band eines jungen Autors, und das ist in vielen Fällen passiert. Also die erste Reihe des literarischen und musikalischen und philosophischen Kanons ist mittlerweile neu geschrieben worden, und ich finde, man kann, wenn man sich auch ein junges Leserpublikum wendet – und das wollen wir ja sehr wohl mit dieser Reihe –, dann kann man nicht mit dem Duktus der 50er- oder 60er-Jahre mehr kommen, da muss schon ein frischer Ton hinein – in der Sprache, aber auch in der Betrachtungsweise von Personen.

Pokatzky: Uwe Naumann, wann haben Sie das letzte Mal bei Wikipedia nach einer Person gesucht?

Naumann: Bei Wikipedia bin ich extrem vorsichtig, weil ich denke, das stimmt ja so oft nicht. Das ist leider auch meine reale Erfahrung.

Pokatzky: Was empfehlen Sie dann dem Internetnutzer?

Naumann: Na dann soll er natürlich nach der Rowohlt-Monographie suchen, er soll im Brockhaus gucken, die sind auch sehr viel besser und sicherer im Recherchieren. Man muss fairerweise sagen, Wikipedia wird besser, das bestätigen mir alle, die damit arbeiten. Ich weiß von meiner Tochter, die in Hamburg Geschichte studiert, dass es an den Universitäten verboten ist, Wikipedia zu zitieren. Finde ich sehr gut, bin ich sehr dafür. Einen Suchdienst wie Google etwa benutze ich auch täglich mehrfach, das gehört einfach dazu, es beschleunigt auch ungeheuer. Ich habe früher Register für manche Bücher gemacht, wo man tagelang durch Bibliothek lief, um zu finden, wie hieß der Oberbürgermeister von Leipzig im Jahre 1924.

Pokatzky: War das Goerdeler?

Naumann: Heute … in Sekundenstelle.

Pokatzky: War das Goerdeler?

Naumann: Das kann ich Ihnen nicht sicher beantworten, aber es könnte sein.

Pokatzky: Der Widerständler?

Naumann: Kann sein, dass er es war, meines Erachtens war er aber etwas später.

Pokatzky: Okay! Danke, Uwe Naumann, Herausgeber der rororo-Monographien. Alles Gute für Ihre Reihe und viel Spaß noch auf der Buchmesse in Leipzig.