Bei Grass in der Küche

09.12.2011
Heinz Ludwig Arnold war ein äußerst reger Literaturvermittler und Ideenproduzent. Kurz vor seinem Tod hat er seine sämtlichen Schriftstellergespräche als Hörbuch veröffentlicht – eine Fundgrube.
Heinz Ludwig Arnold war für die deutsche Gegenwartsliteratur eine Art öffentliche Instanz. In seinen Interviews gaben die tonangebenden Schriftsteller viel von ihren persönlichen Einschätzungen preis, ob sie nun Günter Grass, Christa Wolf oder Peter Handke hießen.

Günter Grass: "In den Dienst einer Moral sich zu stellen, bedeutet ja nicht, dass man die Phantasie unter Hausarrest stellen muss."
Christa Wolf: "Dass man sich voll hingibt und ausgibt bis zur Schamlosigkeit."
Peter Handke: "Es war eher in einem ganz altmodischen Sinn im Alter von – im frühen Alter jedenfalls – eine Art von Erleuchtung: ja, so möchte ich leben!"

Jetzt sind diese manchmal uferlosen Gespräche als Hörbuch veröffentlicht worden. Eine Sonderstellung nimmt Günter Grass ein: Er eröffnet jeweils die drei CDs dieser Kassette, einmal 1970, einmal 1974 und das letzte Mal 1977. Die Gespräche sind nicht geschnitten, sie dienten als Grundlage für Arnolds publizistische Tätigkeiten. So hört man 1970 im Hintergrund die Essensvorbereitungen in der Küche und wie dabei das Radio läuft. Und 1974, in der für den Sozialdemokraten Grass sich verdüsternden Stimmung nach dem Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler, hört man dazu sehr gut passenden, sich schmerzhaft verstärkenden Flugzeuglärm durch das geöffnete Fenster.

Mit Friedrich Dürrenmatt hat Arnold zweimal gesprochen, mit Peter Rühmkorf ebenfalls, und im Zusammenklang mit den anderen Gesprächspartnern ergibt sich ein weites Panorama deutschsprachiger Literatur – von Gründungsvätern der Gruppe 47 wie Hans Werner Richter und Walter Kolbenhoff über experimentelle Autoren wie Helmut Heißenbüttel bis zu ausgesprochen politisch engagierten wie Heinrich Böll, Peter Weiss oder Franz Xaver Kroetz.

Franz Xaver Kroetz: "Solche Sachen, die pflanzen sich ewig fort und das ist auch nicht mehr abstoppbar, drum gewöhn ich mich dran. Aber wenn Sie es zitieren: Sie sind in keiner Weise wahr."

Arnolds Trick ist, dass Zeit keine Rolle spielt. Er fragt wie beiläufig, aber hartnäckig nach, die Autoren öffnen sich mehr und mehr, und er verwickelt sie in Kamingespräche, wo man über dies und jenes plaudert. Es hat alles fast einen privaten Charakter, die Interviews waren selten zur direkten Veröffentlichung gedacht. Dass beispielsweise Peter Handke Jura studiert hat, interessiert Arnold aus ganz persönlichen Gründen, denn damit hat auch er angefangen. Allerdings nahm es bei Handke eine ganz andere Wendung:

"Knapp vor der letzten Prüfung kam die Nachricht des Suhrkamp-Verlages, dass mein Roman 'Die Hornissen' angenommen sei, und dann hab ich sofort aufgehört zu studieren."

Bei Christa Wolf beißt sich Arnold ein bisschen die Zähne aus, denn sie spricht mit ihm nur elf Minuten, und sie steht in den 70er-Jahren auch sehr treu zu ihrem Staat, der DDR:

"Ich glaube schon, dass die Literatur bei uns auch in der Prosa ganz schön fortgeschritten ist."

Aber dann, im Hintergrund hört man sehr suggestives Schreibmaschinenklappern, spricht sie auch detailliert über ihren Roman "Kindheitsmuster" und über formale Überlegungen. Bei Hans Magnus Enzensberger zerfällt das Interview in zwei Teile. Es liegt eine Nacht dazwischen, in der die Nachricht vom Putsch gegen den Sozialisten Allende in Chile kam. Enzensberger bleibt sich immer treu. In den entscheidenden Momenten entzieht er sich, lässt sich nie eindeutig festlegen, aber wie bei den anderen Autoren gibt es Sätze, die nachhallen und das literarische Leben prägnant charakterisieren. Es handelt sich nicht um öffentliche Auftritte, bei denen jedes Wort kontrolliert wird.

Dieses Hörbuch ist wie ein Steinbruch: zwischen vielen fast beliebigen Elementen findet sich oft zufällig ein richtiges Fundstück, ein kleiner Edelstein, den man sonst kaum anderswo finden würde. Es bietet einen direkten Einblick in das Innere des Literaturbetriebs. Vermutlich ist es Hans Magnus Enzensberger, der sich hier am wohlsten fühlt und sich wie ein Fisch im Wasser bewegt. Also gebührt ihm das letzte Wort:

"Von der Berufstätigkeit her gesehen spielt das Gedichteschreiben ja keinerlei Rolle. Im Sinn der Erwerbstätigkeit ist das kein Faktor, der eine Rolle spielt. Das müsste man unter Werbungskosten verbuchen."

Besprochen von Helmut Böttiger

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern. Originaltonaufnahmen 1970-1999
Quartino Verlag, München
3 mp3-CDs, jeweils ca. 22 Stunden, jeweils 29,95 Euro
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