"Bei der Hilfe für Griechenland ist bald der deutsche Steuerzahler in der Pflicht"

Marcel Fratzscher im Gespräch mit Martin Steinhage · 10.08.2013
Marcel Fratzscher hält den unbegrenzten Ankauf von maroden Staatsanleihen durch die EZB nach wie vor für richtig. Mehr noch: Bald werde man auch über einen Schuldenerlass für Griechenland nachdenken müssen, sagt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Deutschlandradio Kultur: Mein heutiger Gast ist Prof. Marcel Fratzscher. Er ist seit gut einem halben Jahr Präsident des DIW, des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin. Mit ihm will ich sprechen über den Euro und die Krise der Währungsunion sowie über Zustand und Perspektiven der deutschen Wirtschaft. Reden wollen wir aber auch über Wirtschafts- und Konjunkturforschung im Allgemeinen sowie über das DIW im Besonderen. Guten Tag, Herr Fratzscher.

Marcel Fratzscher: Guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Herr Fratzscher, sind wir bei der Eurokrise über den Berg?

Marcel Fratzscher: Ich hoffe, wir sind über den Berg, aber so genau kann man das nicht sagen. Denn die Wirtschaft und vor allem die Märkte haben sich über das letzte Jahr bewegt. Wir sehen in unseren Prognosen im DIW Berlin, dass wir auch in den Krisenländern Ende des Jahres den Tiefpunkt werden erreicht haben, dass es dann langsam wieder bergauf geht. Also, wir haben einen gewissen Optimismus. Gleichzeitig gibt es eine ganze Menge wirklich großer Unsicherheitsfaktoren.

Deutschlandradio Kultur: Italien.

Marcel Fratzscher: Italien, die Regierungskrise. Was passiert mit Griechenland? Brauchen wir doch noch mal einen Schuldenschnitt? Was ist mit den Banken in Europa? So gesehen ist die Hoffnung da, aber zu sagen mit Sicherheit, wir sind über den Berg, das wäre verfrüht.

Deutschlandradio Kultur: Ist Ihr Glaube in den Euro und in die Währungsunion eigentlich unerschütterlich? Sie selbst bezeichnen sich ja als Europäer.

Marcel Fratzscher: Ich bezeichne mich als Europäer und als Deutschen, als beides. Ich habe eine Zeit lang in Italien gelebt, in Großbritannien, in anderen Ländern, auch außerhalb von Europa, und für mich sind diese anderen europäischen Länder Teil meiner Heimat. So gesehen gehört für mich Europa zu dem, was ich Heimat nenne.

Gleichzeitig bin ich auch fest davon überzeugt als Wirtschaftswissenschaftler, dass Europa für Deutschland sehr viel Nutzen, sehr viele Vorteile bringt und gebracht hat, auch ganz eng wirtschaftlich und finanziell für uns. Und deshalb, denke ich, sollten wir genau überlegen, wie wir die Vor- und Nachteile Europas abwägen und wie wir auch Europa wieder zum Funktionieren bekommen können. Denn Europa – nochmals – ist für Deutschland ein Glücksfall und bringt unheimlich viel Nutzen und Vorteile.

Deutschlandradio Kultur: Ich will noch mal kurz zurück zur gemeinsamen Währung. Ist eigentlich der Euro, ähnlich wie die so genannten systemrelevanten Banken, "to big to fail" in dem Sinne, dass allein der Bundesrepublik ja hunderte Milliarden Euro verloren gingen, wenn die Gemeinschaftswährung krachend scheitern würde, und sie eben deswegen gar nicht scheitern darf?

Marcel Fratzscher: Ja, ein Eurozusammenbruch hätte enorme Kosten für alle Länder, übrigens nicht nur in Europa, sondern auch weltweit. Die Kosten lägen allerdings nicht so sehr in Form von direkten finanziellen Forderungen an Ausländer, die ausfallen würden, sondern es wäre vielmehr eine Depression: Wir hätten eine tiefe Wirtschaftskrise, die vielleicht sogar die Anfang der 30er Jahre übertreffen würde. Wir würden also massenhaft Unternehmen bankrott gehen sehen. Viele Menschen würden ihren Job verlieren. Wir hätten diese tiefe Rezession mit fallendem Wachstum, fallenden Löhnen in ganz Europa und auch in Deutschland.

Ich denke, da sollten wir alles tun, um das zu verhindern. Es geht ja auch gar nicht darum, jetzt unbedingt an einer Währung festzuhalten oder irgendwelchen lieb gewonnenen Gewohnheiten festzuhalten. Sondern es geht einfach ganz konkret und pragmatisch um den Nutzen, um die Volkswirtschaft, um Beschäftigung, um Wachstum, damit die Menschen auch in Deutschland an dem Wohlstand festhalten, an den wir uns gewöhnt haben.

Deutschlandradio Kultur: Herr Fratzscher, bislang sind ja bei den zahlreichen Hilfspaketen und Rettungsschirmen, die in den letzten Jahren geschnürt bzw. gespannt wurden, im Wesentlichen Bürgschaften oder Garantien gegeben worden – soll heißen: Der deutsche Steuerzahler musste noch nicht in erheblicher Weise bluten. Im Herbst nach der Bundestagswahl droht im Fall von Griechenland aber bereits ein neuer Schuldenschnitt, Sie haben es eben schon in einem Nebensatz angesprochen, ein Schuldenschnitt, um den Bankrott Athens mal wieder abzuwenden. Wird dieser Schnitt kommen nach der Bundestagswahl, noch im Herbst?

Marcel Fratzscher: Ja, ich denke, das Thema wird früher oder später aufkommen. Natürlich ist kein Appetit da. Man sollte so was auch nicht vor der Bundestagswahl politisch besprechen, aber von der wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive ist eindeutig, dass die griechischen Staatsschulden nicht nachhaltig sind.
Griechenland hat die Auflagen, die ihm im Programm gemacht wurden von den Europäern und auch dem Internationalen Währungsfond, nicht erfüllen können. Wichtige Reformen sind nicht durchgeführt. Zum Beispiel auf der Privatisierungsseite wurde viel weniger privatisiert als vorgesehen. Steuereinnahmen fließen nicht so, wie das geplant war.

Deshalb gibt es eine große Finanzierungslücke. Die muss geschlossen werden. Die Frage ist: Wie kann das geschehen? Wie viel kann Griechenland selber dazu beitragen? – Aber wir sind im Augenblick weit davon entfernt, dass die griechischen Schulden nachhaltig sind. Das bedeutet, wir müssen früher oder später drüber nachdenken, wie können wir das korrigieren und wie können wir entweder einen Schuldenschnitt oder eine Umschuldung machen, damit Griechenland wieder auf gesunde Beine zurückkommt und sich selber aus der Krise ziehen kann.

Deutschlandradio Kultur: Und dann wird reales Geld auch des deutschen Steuerzahlers fließen, was bisher nicht der Fall war?

Marcel Fratzscher: Die Frage ist genau: Wie wird es gemacht? Eine Möglichkeit ist eine Umschuldung. Das heißt, man reduziert die Zinsen und verlängert die Laufzeit. Das würde bedeuten, dass nicht direkt Geld fließt von Deutschland nach Griechenland, sondern die Gelder würden einfach weniger zurückfließen. Die Kredite, die man bisher vergeben hat, würden sehr viel später zurückbezahlt und mit sehr viel niedrigerer Rendite. – Das ist eine Möglichkeit. Ich glaube aber, das wird langfristig nicht ausreichen, denn Griechenland hat einen Schuldenstand von knapp 170 Prozent der Wirtschaftsleistung. Wir müssen wahrscheinlich unter 100 Prozent, das ist meine Einschätzung, wo wir hinmüssen, damit es nachhaltig ist.

Und das wird konkret auch bedeuten, dass wir darüber nachdenken müssen, einen Schuldenschnitt, einen Schuldenerlass zu geben. Und dann ist der öffentliche Geldgeber, also auch die Bundesregierung und der deutsche Staat und damit der deutsche Steuerzahler in der Pflicht.

Deutschlandradio Kultur: Kritiker des maßgeblich ja von Angela Merkel durchgesetzten Spar- und Reformkurses für die Krisenstaaten sagen, dass diese Politik der Eurozone in eine anhaltende Rezession geführt habe und Länder wie etwa Griechenland sich unter diesem Spardiktat überhaupt nicht erholen können. – Sie teilen diese Ansicht nicht?

Marcel Fratzscher: Das Spardiktat wird ja nicht von der deutschen Regierung vorgegeben oder von irgendeiner Regierungsbehörde.

Deutschlandradio Kultur: Aber maßgeblich hat Angela Merkel daran mitgewirkt.

Marcel Fratzscher: Sie hat mitgewirkt, aber die, die im Endeffekt die Vorgabe machen, sind die Finanzmärkte. Wenn ein Land wie Italien kommt und sagt, wir würden gerne ein großes fiskalisches Konjunkturprogramm auflegen, um unserer Wirtschaft zu helfen, wäre ich komplett dafür und würde sagen, macht das. Es ist ganz wichtig, Stimulus zu haben, wieder Nachfrage zu haben, damit die Wirtschaft sich wieder erholt. – Aber die Finanzmärkte sagen uns ganz deutlich: Nein. Wir trauen nicht den Regierungen, dass sie sich nachhaltig reformieren. Sie geben ihnen kein Geld. Und wenn die Finanzmärkte den Regierungen kein Geld geben, dann können sie ein solches Programm nicht durchführen.

Also, es sind in erster Linie die Finanzmärkte. Und die Finanzmärkte sind Banken. Es sind aber auch wir als Individuelle, die entscheiden. Wo wollen wir unser Geld investieren? Oder wo soll unsere Bank das Geld investieren? – Aber die Finanzmärkte sind nichts Abstraktes, sondern es sind auch wir als Individuen, die verschiedenen Regierungen in Europa nicht mehr vertrauen, die richtige Politik zu machen.

Deutschlandradio Kultur: Aber folgendes wird Ihnen auch als Ökonom Sorgen machen: Knapp 20 Millionen Menschen allein in den krisegeplagten Mittelmeerländern der Eurozone sind arbeitslos. In Staaten wie Spanien, Portugal oder eben auch Griechenland ist mehr als die Hälfte aller Jugendlichen ohne Job. Diese Brüsseler Spardiktate – so nenne ich sie jetzt mal etwas polemisch – sind doch auch vor diesem Hintergrund kritisch zu sehen.

Und im Übrigen - da frage ich wieder den Europäer Marcel Fratzscher -, ist das ja auch politisch hoch gefährlich für den Zusammenhalt in Europa, wenn immer größere Teile an der Peripherie mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben und Perspektivlosigkeit, die damit einhergeht.

Marcel Fratzscher: Ja, es ist eine Tragödie, was wir sehen in den südlichen Ländern, vor allem in Spanien, in Portugal, Griechenland, Italien. Die Frage ist: Was können wir tun, damit dieses große Problem behoben wird oder zumindest graduell sich reduziert?

Fiskalische Transfers, diesen Ländern mehr Geld zu geben, würde keine nachhaltige Erholung bringen. In erster Linie müssen sich diese Länder selber reformieren, müssen wichtige Strukturreformen gemacht werden, dass wieder Wettbewerb, dass wieder Flexibilität in die Märkte zurückkommt.
Das ist kein schneller Prozess. Ich glaube, da müssen wir uns bewusst sein, das dauert Jahre. Unsere Hoffnung und unsere Prognose im DIW Berlin ist, dass wir im nächsten Jahr wieder eine graduelle Erholung sehen, dass dann auch die Arbeitslosenzahlen wieder fallen.

Es gibt eine Menge kleiner Maßnahmen, die wir machen können – Programme, um Unternehmen Anreiz zu geben, junge Menschen vor allem einzustellen. Deutschland hilft Ländern wie Spanien zum Beispiel, ein duales Ausbildungssystem aufzubauen – hervorragende Idee, wird aber nicht von einem Jahr aufs nächste das Problem lösen. Migration ist ein dritter Faktor, der eine Rolle spielen kann, dass Menschen also in Ländern, wo sie keine Beschäftigung haben, in andere Länder ziehen.

Deutschlandradio Kultur: Was diese Länder nach meinem Verständnis doch weiter schwächt und in eine Abwärtsspirale bringt. Denn wenn jetzt der junge Mensch aus Spanien hier reüssiert, hier einen Job findet, dann wird er nicht zurückgehen.

Marcel Fratzscher: Nja, da bin ich mir nicht so sicher, aber eigentlich ist das ein "win-win", würde man im Englischen sagen: Es ist ein Vorteil für Spanien und ein Vorteil für Deutschland. Wir von der deutschen Perspektive sehen, dass wir eine sehr hohe Migration hatten. Wir haben knapp 370.000 netto Immigration, 1,1 Millionen Menschen, die letztes Jahr nach Deutschland gekommen sind, 700.000, die weggegangen sind, davon auch immer mehr Spanier oder Menschen aus den Südländern – sehr gut qualifiziert. Das ist ein Vorteil für Deutschland, weil sie im Durchschnitt besser qualifiziert sind, jünger sind, leicht Beschäftigung finden.

Deutschlandradio Kultur: Und was haben die Spanier davon?

Marcel Fratzscher: Die Spanier haben davon, dass sie erstmal dieses soziale Problem nicht haben. Sie haben keine Arbeitslosenausgaben, keine Sozialversicherungen, die für diese Menschen geleistet werden müssen. Aber es ist sehr Wohl im Interesse von allen. Ich bin mir auch nicht so sicher, dass die Menschen nicht dann doch irgendwann wieder zurückgehen. Also, diese Flexibilität über den Arbeitsmarkt hat auch viele positive Aspekte. Und ich würde mir wünschen, dass das auch in der EU in den nächsten Jahren dynamischer wird.

Deutschlandradio Kultur: Die Europäische Zentralbank versucht die Eurokrise zu bannen, indem sie die Märkte mit Geld flutet und seit gut einem Jahr quasi unbegrenzt Staatsanleihen aufkauft. Sie selbst, Herr Fratzscher, haben lange bei der EZB gearbeitet. Sie kennen den Laden von innen und Sie unterstützen die Politik von EZB-Chef Mario Draghi ausdrücklich. Warum ist Draghis Kurs richtig?

Marcel Fratzscher: Sehen Sie, wir haben in den letzten Jahren, seit die Krise 2010 im Mai begonnen hat, mehrmals vor einer Klippe gestanden, einer Klippe zu einer wirklich tiefen Rezession und Depression in Europa. Und die EZB hat mehrmals durch entschiedenes Eingreifen verhindert, dass wir in dieses Loch fallen: Durch Liquiditätsvergabe an Banken, durch großzügigere Annahme von Sicherheiten, damit Banken, Unternehmen an Liquidität kommen. Jetzt durch die Ankündigung eines Ankaufprogramms von Staatsanleihen letztes Jahr im Sommer, was enorm erfolgreich war. Es hat die Märkte beruhigt. Es hat die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen, für Haushalte, aber auch für die Staaten verbessert. Die EZB hat also eine Menge getan, damit die Krise nicht tiefer geworden ist.

Die Attacken oder die Angriffe in Deutschland zielen vor allem darauf ab zu sagen, die EZB darf das nicht. Sie darf den Staaten nicht unter die Arme greifen, weil diese sich selber mit ihren Solvenzproblemen helfen müssen. Das ist völlig richtig. Aber ich glaube, man muss unterscheiden, dass, was die EZB macht, ja nicht darauf abzielt, Staaten Geld zu geben, damit sie weiter Schulden aufbauen können, sondern der EZB geht’s darum, dass Geld bei den Unternehmen und bei den Haushalten ankommt, dass sie investieren können, Menschen einstellen können, Beschäftigung schaffen können – genau das Thema, das wir eben besprochen haben, die Arbeitslosigkeit reduzieren. Das ist ihr Mandat, diese Liquidität zu vergeben.

Und ich halte es für gefährlich, die EZB so scharf anzugreifen, denn die Effektivität einer Zentralbank hängt sehr von ihrer Glaubwürdigkeit ab. Und das dürfen wir nicht gefährden.

Deutschlandradio Kultur: Und Sie haben keine Sorge, dass Draghis Kurs, wenn er nicht aufgeht, dass dann die Steuerzahler in der Eurozone auf einem immensen Schuldenberg sitzenbleiben oder möglicherweise dann doch aus den niedrigen Zinsen eine Hyperinflation werden könnte, die große deutsche Angst, historisch begründet?

Marcel Fratzscher: Ja, das ist schon enorm und erstaunlich, dass in Deutschland immer wieder diese Sorge über Inflation aufkommt. Das gibt’s eigentlich in keinem anderen Land, zumindest Europas und wahrscheinlich auch weltweit kaum. Dabei gibt es überhaupt keine Anzeichen für erhöhte Inflation im Augenblick, ganz im Gegenteil. Das Risiko ist eher, dass es eine Deflation gibt, dass Preise fallen, was sehr viel schädlicher ist für eine Volkswirtschaft als eine Inflation, weil ein Unternehmer damit ganz, viel schwieriger umgehen kann und auch eine Zentralbank viel schwerer Deflation stoppen kann.

Die Kosten einer tieferen Krise oder die Risiken der Politik der Zentralbank liegen sicherlich darin, dass man langfristig Anreize setzen könnte, für Banken vor allem, diese Liquidität nicht dafür zu nutzen, Kredite an Unternehmen und Haushalte zu vergeben, sondern wieder zu spekulieren, Blasen in Finanzmärkten oder Immobilienmärkten sich wieder anfangen zu bilden. Es gibt durchaus Risiken, aber man muss diese Risiken auch mit den Vorteilen vergleichen und sagen: Was ist uns wichtiger? Ist es uns wert, dieses Risiko einzugehen mit all den Vorteilen, die wir bisher gesehen haben, oder nicht? Und ich denke, die Erfahrung der letzten drei Jahre gibt der EZB Recht. Sie hat eine ganz, ganz wichtige Rolle gespielt und damit auch Deutschland enorm geholfen, sich aus der Krise damals in 2008/ 2009 zu erholen, und das ist auch ein Grund dafür, weshalb Deutschland heute im internationalen Vergleich so sehr gut dasteht.

Deutschlandradio Kultur: Das DIW hat kürzlich ein nationales Investitionsprogramm für Infrastruktur im öffentlichen wie im privaten Bereich angeregt mit einem Volumen von jährlich etwa 75 Milliarden Euro. In aller Kürze: Welche Idee steckt hinter diesem Konzept?

Marcel Fratzscher: Die Idee, die dahinter steht, ist, dass wir heute in Deutschland die Wahrnehmung haben, dass wir wirtschaftlich alles richtig gemacht haben. Die Wirtschaft brummt, uns geht es gut. Das ist so die öffentliche Wahrnehmung, die mir immer wieder auffällt und auch überrascht. Denn wenn man sich die Zahlen anguckt, sieht das ganz anders aus.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben eben gesagt, "wir stehen glänzend da".

Marcel Fratzscher: Ich habe gesagt, wir stehen im Vergleich zu Europa sehr gut da. Absolut gesehen stehen wir nicht gut da. Ich glaube, diese Unterscheidung zu machen, ist extrem wichtig. Das ist der Punkt, den wir mit dieser Studie machen wollen.

Wir haben sicherlich eine Menge richtig gemacht. Wir haben sehr gute Beschäftigungszahlen, niedrige Arbeitslosigkeit. Es ist uns gelungen, relativ gut aus der Krise herauszukommen. Aber was wir nicht vergessen dürfen, ist, wir haben ein extrem schwaches Wachstum. Wir wachsen dieses Jahr wahrscheinlich mit 0,4 Prozent, letztes Jahr mit 0,7 Prozent. Wenn Sie sich eine längere Perspektive angucken, wenn Sie bis 2000 zurückgehen, sehen Sie, dass die meisten Deutschen heute ein niedrigeres Einkommen haben, Realeinkommen, also die Kaufkraft,...

Deutschlandradio Kultur: …inflationsbereinigt…

Marcel Fratzscher: … als was sie 2000 hatten. Sie sehen, dass die Produktivität der Arbeitnehmer heute nicht sehr viel höher ist als vor zehn, 15 Jahren. Wir haben eine sehr geringe Fähigkeit, Wachstum und damit Wohlstand in Deutschland zu generieren und der Hauptgrund liegt darin, dass wir in Deutschland sehr niedrige Investitionen haben. Kaum ein Land weltweit investiert so wenig in seine Volkswirtschaft, wie das in Deutschland der Fall ist.

Wir berechnen, dass es eine Investitionslücke von 75 Milliarden Euro gibt. Das heißt ganz konkret, dass unsere Fähigkeit, in der Zukunft Beschäftigung zu schaffen, Arbeitsplätze zu schaffen, aber vor allem auch Lohnanstiege, dynamische Lohnentwicklung zu ermöglichen, sehr, sehr begrenzt sind. Und wir fordern so ein bisschen diese öffentliche Wahrnehmung heraus, zu sagen, uns geht es gut, wir haben alles richtig gemacht, und sagen: Nein, haben wir nicht. Wir haben ganz große Schwächen vor allem im Bereich Investition. Das heißt wenig Wachstum. Das heißt, Deutschland ist als Wirtschaftsstandort gefährdet in den nächsten Jahren. Und es ist jetzt der richtige Zeitpunkt, diese Schwächen anzugehen.

Wir haben die Finanzmittel. Die öffentlichen Haushalte haben bereits wieder Überschüsse, um diese wichtigen Investitionen zu tätigen – im Bereich Bildung, im Bereich Verkehrsinfrastruktur, was die Energiewende angeht. Das sind drei wichtige Bereiche, die wir in dieser Studie des DIW Berlin analysieren und sagen: Jetzt sollten wir diese Investitionen tun. Denn es braucht Zeit, bis man die Effekte oder die positiven Effekte dieser Investitionen dann wirklich sieht.

Deutschlandradio Kultur: Aber mit Überschüssen allein wird das ja sicherlich nicht zu finanzieren sein. 75 Milliarden Euro per anno im Volumen würde ja bedeuten, neue Schulden müssten gemacht werden. Ist das angesichts der Schuldenbremse überhaupt machbar?

Marcel Fratzscher: Es ist machbar. Wir müssen keine Schulden dafür machen. 75 Milliarden sind private als auch öffentliche Investitionen. Unsere Berechnungen im DIW Berlin zeigen, dass wir bis 2017 in öffentlichen Haushalten einen Überschuss von einem Prozent der Wirtschaftsleistung, also knapp 30 Milliarden, aufbauen werden. 30 Milliarden reichen aus, um die wichtigen Investitionen im Bereich Verkehrsinfrastruktur und Bildung zu tätigen. Wir berechnen, dass wir zum Beispiel im Bereich Verkehrsinfrastruktur jedes Jahr zusätzliche öffentliche Investitionen von knapp 10 Milliarden brauchen. In Bildung, das ist auch eine größere Zahl, die wir benötigen, aber diese 30 Milliarden, diese Überschüsse, die wir haben, reichen aus, um diese Investitionen zu tätigen im öffentlichen Bereich.

Die Frage ist: Wie können wir vor allem auch private Investitionen anstoßen, Anreize setzen, dass Unternehmen mehr in Deutschland investieren und weniger im Ausland investieren?

Deutschlandradio Kultur: Der Vorschlag des DIW ist etwa zwei Monate alt. Gab es darauf irgendeine Resonanz seitens der Politik?

Marcel Fratzscher: Die Reaktionen, die ich gesehen habe von allen Seiten, von den Medien, aber auch von den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern, war positiv. Unser Ziel mit dieser Investitionsagenda war, einen wichtigen Schwachpunkt in Deutschland aufzuzeigen, die Debatte da mitzugestalten und auch den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern bewusst zu machen, das müssen wir angehen.
Und ich sehe jetzt, wenn ich mir die Wahlkampfdebatten angucke, auch, dass alle Parteien dieses Thema zwar meiner Ansicht nach immer noch zu wenig, aber mittlerweile doch erwähnen und auch Vorschläge machen. Die Idee, dass wir mehr in Infrastruktur investieren müssen, ist – glaube ich – mittlerweile angekommen.

Die Frage ist immer nachher die Umsetzung. Was passiert nach den Wahlen? Wird die neue Regierung dann wirklich diese nötigen Investitionen auch umsetzen? Und ich hoffe und denke, da müssen wir auch weiter mit unseren Analysen aufzeigen, dass das notwendig ist. Und meine Hoffnung ist, dass das dann nachher umgesetzt wird.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie grundsätzlich den Eindruck, dass Sie und Ihre Kollegen – nicht nur beim DIW, sondern auch bei anderen Instituten – tatsächlich von der Politik wahrgenommen werden, dass man auf den Rat der Weisen hört, oder verschwinden die meisten Gutachten, die meisten Stellungnahmen und Vorschläge doch im Panzerschrank?

Marcel Fratzscher: Ein Institut wie das DIW Berlin hat natürlich verschiedene Aufgaben, und eine wichtige Aufgabe dabei ist die Politikberatung. Wir sind sowohl Forschungsinstitut als aber auch Denkfabrik, machen also diese Politikberatung. Und das passiert zum Teil über die Öffentlichkeit, dass wir Studien vorstellen, in Medien diskutieren, in offenen Foren diskutieren und ein Forum bieten. Aber es passiert natürlich auch durch Gutachten für Ministerien, für andere wirtschaftspolitische Entscheidungsträger. Und es passiert natürlich auch hinter verschlossenen Türen, im Vertraulichen. All das sind wichtige Dimensionen und Aspekte von erfolgreicher Politikberatung.

Ich bin jetzt sechs Monate in meiner neuen Position und muss sagen: Es freut mich eigentlich sehr, die Offenheit in Berlin zu sehen, oder auch in Deutschland allgemein von wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern an wirtschaftswissenschaftlicher Expertise. Man ist da sehr offen für kompetente vorsichtige Analysen und Empfehlungen und ich muss sagen, das ist für mich eine der sehr positiven Erfahrungen der letzten sechs Monate.

Deutschlandradio Kultur: Herr Fratzscher, seit sechs Monaten sind Sie jetzt Präsident des DIW. Ihr Institut war aus allerlei Gründen in einer mehrjährigen Krise, was man ja auch daran festmachen konnte, dass das DIW beim Konjunkturgutachten für die Bundesregierung seit längerem nicht mehr gefragt war. Im Herbst ist das DIW erstmals wieder dabei. Ist das so ein Meilenstein auf dem Weg zurück zu altem Renommee?

Marcel Fratzscher: Ja, es ist ein Meilenstein und ganz wichtig für uns. Das DIW Berlin wurde 1925 als Institut für Konjunkturforschung gegründet, es hat eine lange Tradition in diesem Bereich der Konjunkturarbeit. Und für uns ist das ein wichtiger Meilenstein, aber es gibt auch andere Meilensteine.

Mir ist es ganz wichtig, dass wir das DIW Berlin als Denkfabrik stärken und ausbauen. Wir machen natürlich Forschung. Wir sind ein Forschungsinstitut. Aber eine Forschung hat wenig Wert für die Allgemeinheit, wenn sie nicht auch wirklich umgesetzt wird – als Beratung, für Vorschläge, um auf Probleme hinzuweisen. – Und diese Brückenfunktion ist ganz wichtig. Und ich will vor allem diese Funktion der Denkfabrik stärken. Und dafür gibt’s eigentlich auch keinen besseren Standort als Berlin.

Deutschlandradio Kultur: Denkfabrik ist ein Stichwort. Abschließend die Frage: Was muss denn noch passieren, damit Sie sagen können, unser traditionsreiches Haus ist wieder on top?

Marcel Fratzscher: Ich denke, die wissenschaftliche Qualität ist ein Merkmal. Da sind wir auf sehr gutem Weg. Wir haben hervorragende Forscher, ein eigenes Doktorandenprogramm. Die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, zu sagen, "was das Institut sagt, hat einen Mehrwert" hilft, wichtige Debatten mitzugestalten, das ist ein Kriterium, das wir anlegen. Und natürlich wollen wir Wirtschaftspolitik und wirtschaftspolitische Entscheidungen mit gestalten durch Beratung, durch kompetente Beratung, und sehen, dass die Themen, die wir in die Debatte einbringen, Berücksichtigung finden. – Und das ist ja auch der öffentliche Auftrag, die Forschung, die wirtschaftspolitisch relevant ist.

Und, das ist ein letzter Aspekt, den ich mir auch wünsche und der mir am Institut sehr wichtig ist, dass wir so ein bisschen über unsere Grenzen hinwegschauen, dass wir nicht diese enge deutsche Perspektive haben, sondern auch nach Europa und ein globales Verständnis haben. Denn ich bin überzeugt, wenn wir die Probleme verstehen und lösen wollen, die wir hier in Deutschland haben heute, dann können wir nicht nur innerhalb unserer Grenzen schauen, sondern dann müssen wir verstehen, was in Europa passiert. Und wir müssen uns involvieren in Europa. Und wir müssen auch verstehen, was global passiert.

Und diese globale Perspektive, denke ich, fehlt ein bisschen häufig in der deutschen Diskussion. Und ich hoffe, dass ist auch ein Aspekt, den das Institut beisteuern kann.

Deutschlandradio Kultur: Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei und bedanke mich für das Gespräch.



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