Behinderte Spitzenpolitiker sind ein Zeichen politischer Reife

Von Andreas Rinke · 11.01.2013
Die SPD-Politikerin Dreyer und Finanzminister Wolfgang Schäuble haben es mit eisernem Willen und guter Organisation geschafft, ihre Ämter auszuüben, ohne dass ihre Behinderung groß auffällt. Die wachsende Toleranz zeigt das Vertrauen in die Stabilität unserer Demokratie.
Deutschland ist anders: Das wissen wir spätestens seit das Land relativ unbeschadet durch die Schuldenkrise segelt. Aber die deutschen Wirtschafts-Erfolge verdecken nur große gesellschaftliche Unterschiede zu unseren Partnern. Während in den USA körperliche Fitness Zugangsvoraussetzung für politische Spitzenposten ist, zeichnet sich die deutsche Demokratie durch ungewohnte Toleranz gegenüber körperlichen Gebrechen in Top-Posten aus – mit großem Erfolg.

Der 70-jährige CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und die 51-jährige SPD-Landespolitikerin Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz könnten nicht unterschiedlicher sein. Aber eines eint beide Politiker: Ihnen wird trotz eines erheblichen körperlichen Mankos zugetraut, politische Verantwortung zu tragen. Den einen lässt man die Finanzen des Landes auch mit einer Querschnittslähmung sicher durch die Stürme der Finanz- und Schuldenkrise segeln. Die andere soll ungeachtet ihrer Multiplen-Sklerose-Erkrankung zur Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz gewählt werden.

Beide Fälle sind doppelt bemerkenswert. Erstens, weil es sowohl Schäuble als auch Dreyer bisher mit eisernem Willen und guter Organisation geschafft haben, ihre Ämter auszuüben, ohne dass ihre Behinderung groß auffällt. Zweitens, weil es vor ihrer Ernennung keine großen Debatten darüber gab, ob die körperlichen Gebrechen ein Hinderungsgrund für den politischen Aufstieg sein könnten.

Dabei wird in anderen Ländern immer noch vorgelebt, wie wichtig Äußerlichkeiten in der Politik sein können. Wer etwa in den USA ins höchste Staatsamt strebt, muss vor allem Agilität ausstrahlen und ein umfassendes medizinisches Bulletin vorlegen, aus dem die Wähler selbst Cholesterinwerte und Blutdruck der Präsidentschaftskandidaten ablesen können.

Barack Obama, aber auch der Franzose François Hollande – wie vor ihm Nicolas Sarkozy – lässt sich sehr berechnend beim Joggen ablichten. Der Russe Wladimir Putin zeigt sich immer wieder demonstrativ mit freiem Oberkörper. Der Körper soll die eigene Regierungsfähigkeit ausdrücken.

In Deutschland ist dies ganz anders: Ohne etwa deutschen Bundeskanzlern zu nahe treten zu wollen – aber wegen besonderer sportlicher Fitness ist eigentlich keiner von ihnen aufgefallen oder gewählt worden. Typisch für deutsche Kanzler und Kanzlerinnen ist eher die Bewegung im Schritttempo.

Die Differenz hat mehrere Gründe: Der wichtigste ist sicher, dass uns die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs vor einem Präsidialsystem und einer Personenwahl bewahrt haben, die andere Auswahlkriterien für Politiker mit sich bringt. Wer in Deutschland in Spitzenämter aufsteigen will, erreicht dies nur durch zeitraubende Parteikarrieren.

Einige beklagen, dass dies langweiligere Politikertypen hervorbringt. Aber das Misstrauen gegenüber Charismatikern ist in Wahrheit keine Schwäche des deutschen politischen Systems, sondern eine Stärke.

Damit verbunden ist, dass im nüchternen Deutschland Äußerlichkeiten offenbar generell weniger zählen als anderswo – zumindest in der Politik. Dritter Grund dürfte die gelebte Kontinuität in der deutschen Demokratie sein. In den USA findet im Falle eines Regierungswechsels ein breiter personeller Austausch in den Ministerien statt. In Deutschland ist er dagegen im Beamtenapparat unterhalb einer politischen Spitzentruppe erstaunlich klein.

Körperliche Gebrechen werden umso leichter akzeptiert, je mehr sich Wähler auf einen gut funktionierenden Apparat verlassen können. Die wachsende Toleranz im Umgang mit Krankheit und Behinderung von Politikern ist deshalb ein Symbol für das Vertrauen in die Stabilität unserer Demokratie, ein Zeichen politischer Reife.

Eine interessante Ausnahme gibt es in Deutschland übrigens. Zu Top-Managern an der Spitze von Dax-Unternehmen werden auffallend häufig große schlanke Männer gemacht. Was solche Äußerlichkeiten über die Qualität des Auswahlprozesses und die Eignung der Manager aussagt, sei dahingestellt.

Andreas Rinke, Jahrgang 1961, ist ausgebildeter Historiker und hat über das Schicksal der französischen "Displaced Persons" im Zweiten Weltkrieg promoviert. Er hat als politischer Beobachter bei der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" und dem "Handelsblatt" gearbeitet. Schwerpunkte seiner Arbeit sind unter anderem die internationale und europäische Politik. Heute lebt er als Journalist in Berlin.
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