Begehrt und verhasst

Von Markus Plate · 16.10.2012
Schätzungsweise eine Million Nicaraguaner leben südlich des Grenzflusses San Juan in Costa Rica - viele davon illegal. Und auch wenn die Costa-Ricaner gerne die billige Arbeitskraft der sogenannten Nicas nutzen, ist die Beziehung zu den Einwanderern zumeist ambivalent.
Wer am internationalen Flughafen in Costa Ricas Hauptstadt San José ankommt, wird oft schon vom Taxifahrer über die Probleme im Land aufgeklärt. Das Ungemach über die gefühlt stark angestiegene Kriminalität, die hohe Arbeitslosigkeit, oder Wirtschaftsflaute der letzten Jahre hat für viele Costa Ricaner vor allem eine Ursache. Die massive Migration aus dem Nachbarland Nicaragua:

"Die meisten Probleme in Costa Rica kommen von den Nicaraguanern. Bevor die kamen, war hier alles sicherer, die ganze Kriminalität heute kommt doch von den Migranten. Die kommen hierher, um Geld zu verdienen. Aber dann ist ihnen die Arbeit zu schwer oder sie finden, dass sie zu wenig Geld bekommen. Also überfallen sie Leute oder handeln mit Drogen. Viele wollen nicht arbeiten, aber kostenlose Arztbesuche, die wollen sie! Und es sind ja über eine Million Nicas hier, bei drei Millionen Ticos. Ist doch klar, dass hier alles zusammenbricht."

Man merkt schon, hier spricht der Stammtisch und man merkt auch: Die Beziehung zwischen den "Nicas" und den "Ticos", wie Nicaraguaner und Costa Ricaner im Volksmund Zentralamerikas genannt werden, gestaltet sich schwierig. Eine Beziehung, oft geprägt von Vorurteilen, die beide Seiten pflegen.

Im Zentrum San Josés liegt das Konsulat Nicaraguas. Vor dem Eingang beginnt eine Menschenschlange, die sich dreimal um den ganzen Block windet. Die costa-ricanische Einwanderungsbehörde hat Anfang August eine dreimonatige Sonderaktion zur Legalisierung von Einwanderern gestartet, stellt Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitsvisa in Aussicht für Nicaraguaner, die mindestens seit fünf Jahren hier leben und einen Job nachweisen können. Für Tausende Nicaraguaner, die oft seit vielen Jahren in Costa Rica sind, ist es DIE Chance, hier endlich legal leben und arbeiten zu können. Bedingung sind aktualisierte Papiere, vor allem Ausweis und Geburtsurkunde und die gibt es in Costa Rica nur beim Konsulat Nicaraguas.

Gut zweitausend Nicaraguaner, ganze Großfamilien warten auf Einlass, viele stehen und campieren hier schon seit Tagen. Die Nerven liegen bei vielen blank, einige versuchen, sich vorzudrängeln, Streit bricht aus. Polizisten versuchen, zu kontrollieren und zu schlichten. Auch Sozialarbeiterinnen, wie Mary Delgado sind hier seit Tagen im Einsatz. Die Frau mit den braunen glatten Haaren und der hellen Bluse ist verschwitzt vom vielen Hin- und Herrennen.

"Es gibt viele Kinder in Costa Rica, die weder in Costa Rica noch in Nicaragua registriert sind. Ein hier geborenes Kind ist zwar dem Gesetz nach Costa Ricaner, aber wenn die Eltern illegal hier sind, haben sie oft Angst, die Geburt des Kindes den Behörden zu melden. Diese Kinder haben später keinerlei Perspektive. Denn für einen Schulabschluss in Costa Rica brauchen sie eine Aufenthaltsgenehmigung. Sie sind also dazu verdammt, Hilfsarbeiten zu verrichten oder in die Kriminalität abzugleiten."

Gemeinsam mit Mary betreut Karina Fonseca hier junge Erwachsene und alleinerziehende Mütter, beruhigt streitende Wartende und versucht zwischen Einwanderern und Polizei zu schlichten. Erschöpft ist auch sie nach schon dreistündigem Einsatz, aber trotz Sonne und fast 30 Grad, kann sie von einer Pause an einem schattigen Plätzchen im Moment nur träumen.

"Die Legalisierung kostet zwischen 500 und 750 US-Dollar. Wenn Du keinen Arbeitgeber hast, der bereit ist, Dich bei der bei der Beantragung der Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung auch finanziell zu unterstützen und der dir ein paar Tage frei gibt, dann hast Du kaum eine Chance. Was soll denn eine nicaraguanische Mutter machen, die mit vier Kindern in einem Armenviertel lebt, und die illegal als Hausangestellte arbeitet?"

Untersuchungen der Universität von Costa Rica gehen davon aus, dass die nicaraguanische Einwanderung Costa Rica wirtschaftlich weit mehr nützt als kostet, auch wenn das viele in diesem Naturparadies nicht wahrhaben wollen. Horrorzahlen widerlegt die Universität: Nicht eine Million Nicaraguaner sollen in Costa Rica leben, eher die Hälfte sei realistisch. Straftaten würden nicaraguanische Einwanderer nicht öfter begehen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Auch das öffentliche Gesundheitssystem würden Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund nicht öfter nutzen als Costa Ricaner in ähnlich bescheidenen finanziellen Verhältnissen. Doch Mythen halten sich hartnäckig, und schlechte Erfahrungen haben beide Seiten gemacht.

Die Plaza de la Merced liegt zwischen der gleichnamigen Kirche, dem größten öffentlichen Hospital der Stadt und der Hauptdurchgangsstraße San Josés. Der Platz ist ein beliebter Treffpunkt vieler Nicaraguaner, die hier plaudern und Karten spielen oder die Kaugummis, Snacks, T-Shirts und Raubkopien von Videos oder Computerprogrammen verkaufen.

Der "Platz der Gnade”, wie sich Plaza de la Merced auf deutsch übersetzt, ist auch eine informelle Jobbörse. Vertreter von Wachschutzunternehmen, Baufirmen und Agenturen für Landarbeiter oder Hausangestellte heuern hier gerne neue nicaraguanische Mitarbeiter an. Maria del Carmen, Salvador und Vinicio, alle drei aus Nicaragua stammend, sitzen auf einer Betonbank unter einem großen Baum. Sie hoffen wie so viele hier auf einen neuen Job, warten darauf, angesprochen zu werden. Die beiden jungen Männer vertreiben sich die Zeit beim Schachspiel.

"Auf dem Bau, vor allem wenn Du von einem Subunternehmer beschäftigt wirst, lassen sie Dich ohne jede Sicherheitsvorkehrungen arbeiten. Wir Nicaraguaner haben den Ruf, hart und für sehr wenig Geld zu arbeiten. Denn die 300 Dollar monatlich, die Du hier auf dem Bau bekommst, sind immer noch dreimal mehr, als das was Du auf dem Land in Nicaragua verdienst. Das wissen die Arbeitgeber hier und viele nutzen das aus."

"Gerade im Sicherheitsbereich sind Nicaraguaner sehr begehrt. Wir haben viel Erfahrung und wissen viel von Waffen, weil wir eben eine konfliktreiche Geschichte mit Diktatur und Bürgerkrieg hatten. Viele Unternehmer bevorzugen sogar Nicaraguaner ohne Papiere, um weniger Gehalt und keine Sozialabgaben zahlen zu müssen."

Maria del Carmen kann hier mit Glück allenfalls einen Putzjob ergattern. Von den rund 150.000 Hausangestellten im kleinen Costa Rica sind mindestens die Hälfte Nicaraguanerinnen. Das übliche Gehalt ist mit gerade mal 250 Dollar im Monat so bescheiden, dass selbst Mittelschichtfamilien nicht mehr selbst putzen, waschen oder kochen müssen. Als Extralohn kommt oft noch Undank dazu. Maria del Carmen weiß nach zwanzig Jahren im Beruf, wie es läuft: Ihre Kleidung - einfach aber gepflegt - soll potenziellen Arbeitgebern vermitteln, dass sie repräsentabel ist und keinen Ärger macht. Für das Gebaren vieler costa-ricanischer Familien hat sie mittlerweile mehr Sarkasmus als Wut übrig.

"Ich habe zehn Jahre lang im Haus eines Amerikaners und einer Costa Ricanerin gearbeitet. Einmal habe ich sie gebeten, mir mein Weihnachtsgeld auszuzahlen. Die Ehefrau sagte: ‘Ach, Carmen, ihr erfindet doch immer wieder was Neues!’ Die beiden verdienen rund 6000 Dollar im Monat und stellen sich so an, einmal im Jahr 100 Dollar Weihnachtsgeld zu bezahlen."

Unweit der staatlichen Universität von Costa Rica wirbelt die 45-jährige Reina Salgado Soto zwischen Herd, vier Kochtöpfen und Kühlschrank durch ihr kleines Schnellrestaurant. Ihren Gästen, die auf Holzschemeln an schmucklosen Tischen oder am Tresen sitzen, serviert sie die typischen "Casados”, ein Stück Fleisch mit Reis, schwarzen Bohnen, Gemüse und Salat und einem Getränk dazu. 2000 Colones kostet das bei ihr, etwas mehr als drei Euro und das ist ein sehr guter Preis in Costa Rica. Gut und konkurrenzlos günstig, auch hier funktioniert das nicaraguanische Rezept. Nur dass Reina mit ihrem EIGENEN Laden im Gegensatz zu den unzähligen Tagelöhnern nach sieben langen Arbeitstagen in der Woche nicht nur über die Runden kommt, sondern auch Geld in die Ausbildung ihrer Kinder stecken kann.

"Als ich zum ersten Mal nach Costa Rica kam, wollte ich meinen Bruder besuchen und hatte nicht vor, hier zu arbeiten. Weil sie mir Horrorgeschichten von Costa Rica erzählt hatten, dass man hier die Nicaraguaner demütigen würde. Aber mir hat es hier gefallen, und ich bin geblieben. Mich haben sie niemals schlecht behandelt. Ich liebe meine Heimat, meine Leute, den Geruch der Luft dort. Anfangs hatte ich schrecklich Heimweh und habe viel geweint. Mittlerweile habe ich mich so an Costa Rica gewöhnt, dass ich nach einer Woche in Nicaragua wieder fort will."

Jetzt ist Reina schon 17 Jahre in Costa Rica. Seit acht Jahren ist sie mit einem Costa Ricaner verheiratet und hat dadurch eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Allerdings nur sie. Ihre drei Söhne aus erster Ehe sind noch in Nicaragua geboren, seit Jahren scheitern die Bemühungen um die Visa an der Bürokratie in beiden Ländern und am Geld. Vor allem um den 17-jährigen Reinaldo, der kurz vor dem Abitur steht, macht sich Reina große Sorgen:

"Mein Sohn wird hier keinerlei Perspektive haben, wenn es uns nicht gelingt, für ihn eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Er geht zu Schule, aber ohne Visum kann er weder seinen Abschluss machen, noch die Uni besuchen. Das bereitet mir schlaflose Nächte! Was uns Mütter das an Mühe kostet. Selbst mich, obwohl ich mit einem Tico verheiratet bin, hat die Aufenthaltsgenehmigung ewig Zeit und fast 400 Dollar gekostet."

Reinaldo ist seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, nur ist er zwei Kopf größer. Statt sich so wie sie allzu große Sorgen zu machen, hilft er täglich flink und gut gelaunt im Restaurant, geht in die Schule und hat dazu noch die Energie, im Abendkolleg Englisch zu lernen. Für ihn ist Costa Rica der große Wurf:

"Ich kam mit neun Jahren hierher. Das war eine großer Schritt nach vorn! In meiner Kindheit auf dem Land in Nicaragua, habe ich nie einen Bus benutzt, bin in einem Auto mitgefahren, ich konnte nicht mal Fahrrad fahren. In der Schule gab es nicht mal Toiletten und nur einen Saal und einen Lehrer. Hier in San José habe ich doch ganz andere Möglichkeiten und ich setze alles daran, nächstes Jahr mein Abitur zu machen."

Doch damit Reinaldo studieren kann, was sein großer Traum ist, werden er und seine Mutter demnächst lange in der Schlange stehen müssen, vor dem Konsulat Nicaraguas und der costa-ricanischen Einwanderungsbehörde. Woher sie die Zeit und das Geld dafür nehmen sollen, ist noch völlig unklar.

Neben Migranten, die ausgebeutet werden und neben Migranten, die um ihre Papiere kämpfen müssen, gibt es aber auch genug Beispiele für eine gelungene Integration der nicaraguanischen Zuwanderer. Viele Nicaraguaner haben in Costa Rica eine Heimat gefunden, ein Auskommen und sogar die Möglichkeit, Karriere zu machen. So wie Edwin. Der 25-jährige Edwin Antonio kam vor sieben Jahren aus Nicaragua nach Costa Rica und arbeitet fast ebenso lange bei einem kleinen Bauunternehmen im Osten von San Jose. Er hatte als einfacher Gehilfe hier angefangen, erwies sich als fleißig und talentiert, und leitet heute mittelgroße Bautrupps und Projekte. Auf dem Bauhof stellt er gerade Material und Gerät für die Arbeit an einem Bürogebäude zusammen.

"In Nicaragua ist es schwer, Arbeit zu finden und die Löhne sind sehr niedrig. Ich bin aus Neugier hergekommen, ich war jung und abenteuerlustig. Mir hat’s hier gefallen, ich habe ein Mädchen kennengelernt, jetzt habe ich ein Baby und ja, ich glaube ich habe mich hier etabliert. Da mein Kind hier geboren ist, kann ich jetzt eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Dann muss ich mich nicht mehr minderwertig fühlen. Und ich muss auch nicht mehr um Polizisten einen großen Bogen machen, obwohl ich gar nichts gemacht habe!"

Edwin Antonio hat in Costa Rica sein Glück gefunden, zurück nach Nicaragua will er allenfalls im Alter. Die gegenseitigen Vorurteile sieht er gelassen:

"Naja, wie überall gibt es auch hier gute und böse Menschen. Manche Costa Ricaner sprechen sehr schlecht von uns, wir würden stehlen und ihnen die Jobs wegnehmen. Aber ich habe auch sehr viele gute Menschen kennengelernt, die mich sehr gut behandelt haben und die uns als Brüder sehen. Natürlich kommen auch schlechte Nicas hierher und wie das Sprichwort sagt: Für einen einzigen zahlen wir am Ende alle die Zeche!"
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