Bedrohung durch Terror

Verändert sich das Leben in den Metropolen?

Blick auf Paris
Blick auf die französische Hauptstadt Paris. © picture alliance / dpa / Foto: Kevin Kurek
Wolfgang Kaschuba im Gespräch mit Ute Welty · 21.11.2015
Die Anschläge in Paris, das geräumte Stadion in Hannover, verdächtige Gegenstände auf Bahnhöfen: Allen Ereignissen zum Trotz werde der Terror den offenen Lebensstil in den Städten langfristig nicht verändern, meint der Migrations- und Metropolenforscher Wolfgang Kaschuba.
Der Migrations- und Metropolenforscher Wolfgang Kaschuba glaubt nicht, dass die Bedrohung durch islamistischen Terror das Leben in den großen Städten verändern wird.
"Auch Paris wird zu einem gewissen Alltag übergehen", sagte der Direktor des Berliner Instituts für Migrationsforschung im Deutschlandradio Kultur. Die latente Bedrohung durch den Terror löse zwar Ängste aus, werde aber nicht dazu führen, dass die Menschen in den Städten ihren bisherigen Lebensstil aufgeben werden.
Gerade in den großen Städten seien die Menschen daran gewöhnt "etwas vorsichtiger zu sein" und könnten auf eine Routine im Umgang mit Gefahren zurückgreifen.
Der offene Lebensstil der Metropolen hat nach Anschlägen sogar noch zugenommen
Die Erfahrung nach den Terroranschlägen in New York, Madrid oder London zeigten, dass der städtische Lebensstil, der sich im öffentlichen Raum abspiele, sogar noch zugenommen habe: "Wir haben eine Entwicklung noch mehr Draußen zu sein, obwohl wir wissen, dass wir (...) den Terroristen die weichen Seiten der Stadt anbieten."
Dieser Lebensstil der Metropole, der auf Gemeinschaft und öffentlichem Treffen basiere, sei offenbar so sehr Teil unserer Identität, "dass wir dies offenbar nicht aufgeben wollen," so der Direktor des 2014 gegründeten Berliner Instituts für empirische Migrations- und Integrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität Berlin.
Die Menschen wollen sich nicht verbarrikadieren
"Wir haben auch in Paris nicht den Eindruck, dass sich die Menschen jetzt verbarrikadieren", erklärte der Ethnologe weiter, auch wenn im betroffenen Viertel nach den Anschlägen eine Traumatisierung vorhanden sei. Trotz zunehmender Kontrolle oder verstärkter Videoüberwachung des öffentlichen Raumes sei den Menschen in den Metropolen klar, dass dies keine einhundertprozentige Sicherheit bieten könne.
Videoüberwachung öffentlicher Plätze biete zwar einerseits die Möglichkeit einer besseren Prävention und Strafverfolgung, gleichzeitig suchten Terroristen aber auch gerade diese Öffentlichkeit.
Balance zwischen Offenheit und Kontrolle
In der Debatte um verschärfte Sicherheitsmaßnahmen plädierte Kaschuba daher für eine Balance zwischen Offenheit und Kontrolle: "Die Stadt ist gebaut in einer Struktur des Risikos (...) und im Grunde genommen wissen wir, dass wir mit einem Risiko leben, und dieses Bewusstsein ist eben mehr Teil des Alltagsgefühls in den großen Städten als in kleinen Städten oder Dörfern, wo man das Gefühl hat, man ist doch mehr unter sich."
Entscheidend sei, dass der Zivilgesellschaft die Sicherheitsdebatte jetzt nicht mit der Flüchtlingsdiskussion vermische: "Die Flüchtlinge flüchten aus dem selben Grund hierher", betonte Kaschuba, der am BIM die Abteilung für Integration, soziale Netzwerke und kulturelle Lebensstile leitet und zu dessen Forschungsschwerpunkten die Stadt- und Metropolenforschung zählt.
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Wir haben schon darüber berichtet, höchste Terrorwarnstufe für Brüssel, während Paris ein wenig Luft zu holen scheint nach den Attentaten vom 13. November, die jetzt schon unser Stadtbild verändern. So erleben wir auch in Hannover oder in Berlin mehr Polizeipräsenz und mehr Kontrolle.
Für Kerstin Müller ist das schon lange Alltag. Die ehemalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt leitet seit 2013 die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv.
((Einspieler O-Ton Kerstin Müller aus dem Interview vom 20.11.2015))
Und womöglich lässt sich daraus so etwas wie eine Leitlinie entwickeln, eine Prognose für die Veränderungen vor allem der großen Städte auch hierzulande. Wolfgang Kaschuba forscht seit Langem zu diesem Thema, der Ethnologe ist Direktor des Berliner Instituts für Migrationsforschung, guten Morgen, Herr Kaschuba!
Wolfgang Kaschuba: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wie geht es Ihnen, wenn Sie in der Hauptstadt unterwegs sind? Bewegen Sie sich anders, sind Sie aufmerksamer, fahren Sie beispielsweise mehr Auto als S-Bahn?
Kaschuba: Wenn ich ehrlich bin, würde ich das so beschreiben, ich schaue mir dabei zu, ob ich aufmerksamer bin.
Welty: Ist ja auch eine gewisse Form von Aufmerksamkeit, oder?
Großstädter können zurückgreifen auf "Routine im Umgang mit Gefahren"
Kaschuba: Ja, und bemerke natürlich, dass ich es teilweise bin und teilweise nicht. Jeder Großstädter weiß natürlich nach solchen Ereignissen, man horcht noch mal anders, war das jetzt eine Fehlzündung da draußen oder tut sich was, aber in der Regel ahnen wir natürlich, dass wir die Fehlzündung jetzt vielleicht einfach ein bisschen aufmerksamer wahrnehmen. Und das wäre sozusagen die beruhigende Botschaft, wir sind es gewohnt gerade in den großen Städten, mit Situationen umzugehen, die nicht immer sicher sind. Vom Zebrastreifen, der, wie wir wissen, ja immer noch gefahrenträchtiger ist als der Terrorismus, bis hin eben zu solchen Extremsituationen, in denen wir eben doch zurückgreifen können auf Routine ganz einfach im Umgang mit Gefahren.
Welty: Die Erfahrung, die Paris machen musste, die mussten ja vorher auch schon New York, Madrid oder London machen. Lässt sich daraus so etwas wie eine Blaupause entwickeln, wie schnell oder wie langsam Menschen nach einem solchen Ereignis, nach einem terroristischen Attentat wieder zur Normalität zurückkehren?
"Gemeinschaft ist wiederum sozusagen der Feind des Terrorismus"
Kaschuba: Na ja, man kann das natürlich schwer nach vorne prognostizieren, weil sich die Dinge verändern, die Informationen, die Bilder werden dichter und schneller, auch die Terroristen sind natürlich weiter hoch- und aufgerüstet. Nur kann man eben sagen, die Menschen in den großen Städten wissen, dass sie zwei wesentliche sozusagen Gefahrenmomente kaum vermeiden können, Verkehr, man ist eben mit dem Bus oder der U-Bahn unterwegs, und Arbeit, man ist eben in großen Einrichtungen, die Twin Towers waren ja eben auch ein riesiger Arbeitsplatz. Das kann man kaum vermeiden. Da gehen die Leute mit mehr oder weniger Besorgnis rein. Ich würde nicht sagen Angst, Angst entsteht natürlich unmittelbar im Umfeld von Anschlägen wie jetzt in Paris. Und der dritte große Bereich, das sind unsere Lebensstile. Und diese Lebensstile sind öffentlich und diese Lebensstile sind draußen und diese Lebensstile bedeuten ja eben auch, dass wir Gemeinschaft suchen. Gemeinschaft ist wiederum sozusagen der Feind des Terrorismus, denn da können wir uns austauschen, ermutigen. Und die Erfahrung zeigt jetzt aus den Städten wie New York, Madrid oder London, dass wir seit 9/11, also in den letzten 14 Jahren, was dieses Gemeinschaftserlebnis angeht, dieses Draußen-Sein, diese Lebensstile in der Stadt, wir nicht weniger haben, sondern mehr. Wir haben eine Entwicklung, noch mehr draußen zu sein, obwohl wir wissen, dass wir, wie das dann die Gefährder-Analysten sagen, den Terroristen die weichen Seiten der Stadt anbieten. Aber das ist offenbar so stark Teil unserer Identifikation, dass wir da auch nicht aufgeben wollen. Also, wir haben auch in Paris nicht den Eindruck, dass sich die Menschen jetzt verbarrikadieren. In den unmittelbar betroffenen Vierteln – und ich war zufällig ein Vierteljahr genau in diesem Viertel, in der Rue Oberkampf dort –, dort ist natürlich eine Traumatisierung da. Aber Paris selber geht – unter anderen Bedingungen, mehr Polizeipräsenz, mehr Überwachung, ein bisschen mehr Vorsicht, Besorgnis möglicherweise auch –, Paris wird auch innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen zu einem gewissen Alltag wieder übergehen. Der wird sich etwas verändert haben, aber er wird nicht so dramatisch sein, wie das jetzt in manchem Schreckensszenario aussieht.
Welty: Auf der anderen Seite werden sicherlich auch die Befürworter von Videoüberwachung beispielsweise die Chance nutzen, mehr Videoüberwachung durchzusetzen, wie zum Beispiel dann auch in London. Wie wird sich dadurch die Stadt verändern?
Kaschuba: Ja, das ist natürlich eine interessante Frage, denn wir haben ja vor Jahren mal in einer Kunstaktion in London erlebt, was das bedeuten kann, und zwar hat eine Kunstgruppe den Platz in London, sozusagen den Quadratmeter ausgemacht, auf den 41 Videokameras gleichzeitig gerichtet sind.
Welty: Da kann einem nichts passieren, oder?
Auch permanente Videoüberwachung bieten keinen 100-prozentigen Schutz
Kaschuba: Da kann einem, denkt man, nichts passieren. Aber da wir natürlich andererseits wissen, dass die Terroristen genau diese Öffentlichkeit suchen, ist sozusagen die öffentliche Überwachung eine Möglichkeit der Verhinderung, es ist eine Möglichkeit der Verfolgung, wenn etwas passiert ist, aber natürlich bietet nicht 100-prozentigen Schutz. Und wir müssen, glaube ich, immer sozusagen in der Balance bleiben. Und das ist eine Lehre sozusagen aus der Geschichte für alle Städte. Alle Städte brauchen Zuwanderung und Bewegung und alle Städte, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, versuchen natürlich, das auszubalancieren mit einer gewissen Kontrolle. Das betrifft ja schon allein natürlich die Mengen der Menschen, dass man bei Demonstrationen, bei Festen natürlich auch schaut sozusagen, wie viel Kapazität ist da. Und jetzt kommt es natürlich eben darauf an, wie die Zivilgesellschaft in den Städten damit umgeht, eben nicht nur die Verwaltung. Und das ist, glaube ich, ganz entscheidend, dass der Zivilgesellschaft klar ist zum Beispiel, gerade jetzt in Berlin, Deutschland, die Flüchtlingssituation hat jetzt wenig zu tun mit der terroristischen Situation. Die Flüchtlinge flüchten aus demselben Grund hierher, sind oft noch viel verstörter als wir, weil sie das Gefühl haben, jetzt hat sie der Terror eingeholt, von dem sie weggelaufen sind. Das zeigen die ersten Berichte eben auch aus Paris. Dass sie im Grunde genommen traumatisiert oft eben jetzt das Gefühl haben – sie wissen, es ist nicht so, aber das Gefühl haben –, der IS steht vor Paris. Und da müssen, glaube ich, die Zivilgesellschaften auch die Neuen und die Gäste an der Hand nehmen und eher beruhigen. Also, die Stadtgesellschaften entwickeln schnell wieder eine Routine.
Welty: Reagieren wir heute besonders aufgeregt, neigen wir zu einer gewissen Art von Hysterie? Oder, wenn Sie das historisch sehen, war das Bedürfnis nach Sicherheit immer schon ausgeprägt, beispielsweise auch in Bezug auf Stadtmauern oder Stadttore?
"Die Stadt ist gebaut sozusagen in einer Struktur des Risikos"
Kaschuba: Ja, das ist sozusagen der genetische Code der Städte, könnte man sagen, die Balance von Zuwanderung und Neuem. Sonst sterben die Städte auch in der Geschichte. Und die Kontrolle darüber. Deswegen haben wir eben die Stadtmauer und die Stadttore, das war sozusagen ein relativ sicherer Ort, der aber täglich sozusagen aufs Spiel gesetzt wurde dadurch, dass man die Stadttore wieder aufgemacht hat. Also hat man im Grunde genommen kontrolliert, wer reinkam. Und diese Beobachtungen im Inneren und im Äußeren haben wir heute noch im Stadtwahrzeichen, die Türme waren da, um den Feind außen zu sehen, und der Feind innen war der Stadtbrand. Der Stadtwächter hatte zu gucken, dass nachts nichts passiert. Also sozusagen, die Stadt ist gebaut sozusagen in einer Struktur des Risikos. Das zeigen eben die Mauern und das zeigen die Türme. Und mit dieser Erfahrung sind wir im Grunde auch in die Moderne gegangen. Jetzt würde ich nicht sagen, dass die Videokameras in London den Stadtwächter ersetzen, das ist doch ein bisschen weiter entwickelt, aber im Grunde genommen wissen wir eben, dass wir mit einem Risiko leben, und dieses Bewusstsein ist vielleicht mehr Teil des Alltagsgefühls in den großen Städten, als wir das eben in Kleinstädten oder Dörfern haben, wo man so das Gefühl hat, man ist fast nur unter sich. Obwohl sich das heute natürlich auch verändert.
Welty: Sicherheit in den Städten, eine Bestandsaufnahme nach den Attentaten von Paris, zusammen mit dem Ethnologen Wolfgang Kaschuba, für die ich herzlich danke!
Kaschuba: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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