Bauten aus Stahl und Beton

09.03.2009
"Zwischen Stalin und Glasnost" macht auf eine inzwischen fast vergessene Epoche aufmerksam. Das Buch zeigt zahlreiche Moskauer Projekte, die das sozialistische Gesellschaftsbild auf die Bühne der Weltarchitektur brachten. Und es könnte den Effekt erzielen, dass auch in Russland erkannt wird, welche Qualitäten in diesen Bauten aus Stahl und Beton verborgen sind.
Drei Mal versuchte die Sowjetunion, dem Traum vom neuen Menschen auch in der Architektur und im Städtebau eine Form zu geben: In den Zwanzigerjahren mit dem radikal mit aller Tradition brechenden Konstruktivismus, auf den der vergleichbar radikale Umschwung zum Historismus Stalins mit seinen Säulen-, Turm- und Statuenorgien folgte, der nach der Entstalinisierung – die nicht zuletzt eine Folge der unbezahlbaren Dekorationswut des Diktators war – 1956 die abrupte Wende hin zu einem Modernismus nach amerikanischem, mexikanischem und französischem Vorbild folgte.

Diese Architektur der Entstalinisierung ist bis heute weitgehend von den Architekturhistorikern übersehen worden, sie scheint nur ein Derivat westlicher Vorbilder zu sein. Dass dies ganz und gar nicht der Fall ist, zeigt der neueste Band des jungen DOM-Verlags in Berlin, der in Hunderten von Fotos, vielen Grundrissen, einigen Schnitten, mit einer klugen Einleitung und oft frischen Texten zu den Einzelbauten versehen Projekte aus der ganzen einstigen Sowjetunion zu einem Gesamtbild zusammenfügt.

Da sind modernistische Hochhauskühle und das Drama des Fernsehturms Ostankino zu sehen, Konzert- und Messehallen in feinstem Brutalismus, weit gespannte Dächer, wie man sie sonst nur von Eero Saarinen aus den USA kennt, der Plattenbaubarock der orientalischen Sowjetrepubliken. Eine neue Welt tut sich auf in diesem Buch, die manche Frage stellen lässt. Etwa die, wie eigentlich die sowjetischen Architekten diesen vielfachen radikalen Bruch überstanden haben, wie sie sich in jeder Windung drehen konnten. Und wie in einem Staat, dessen Bauwesen mehr Wert auf Quantität legte als auf Qualität, dennoch immer wieder herausragende Werke wie das RGW-Gebäude in Moskau von 1968 oder das Moskauer Kindermusiktheater von 1979 entstehen konnten, das ohne Weiteres in die Geschichte der amerikanischen Postmoderne jener Jahre passen würde.

Welche Folgen könnte ein solcher Band haben, außer dem, Architekturhistoriker mit einer inzwischen fast vergessenen Epoche bekannt zu machen? Vor allem einmal stellt er die Architekturgeschichte Mittel- und Mittelosteuropas in ein völlig neues Gewichtsfeld. Denn die Architektur der baltischen Länder, Polens, der ehemaligen CSSR, Rumäniens, Bulgariens oder und besonders der DDR können nun nicht mehr nur an den von der bisherigen Architekturgeschichtsschreibung viel beschworenen westlichen Modellen der Nachkriegszeit gemessen werden, sondern auch an denen der damaligen UdSSR.

Und es ist hoch interessant zu sehen, dass sich diese nicht nur sehr ähnlich waren in den Formen, sondern auch im pathetischen Welterlösungsanspruch. Architekten im Westen wie im Osten haben offenbar ähnliche geistige Rüstwerkzeuge. Umso erfreulicher ist es übrigens, dass bei fast allen Bauten nicht nur die Entwurfsarchitekten, sondern oft auch die Konstruktionsingenieure mit angegeben wurden – eine wirkliche Rechercheleistung, werden diese doch meist unterschlagen.

Der zweite große Effekt, den dies Buch erzielen könnte, sollte, ist, dass auch in Russland endlich erkannt wird, welche ästhetischen und schließlich auch materiellen Qualitäten in diesen oft so grob erscheinenden Bauten aus Stahl und Beton verborgen sind. Derzeit, auf den Fotos kann man das manches Mal sehen, verfallen sie in erschreckendem Maß. Betonbauten benötigen eben wie alle Architektur intensive Pflege, um frisch und freundlich zu wirken.

Rezensiert von Nikolaus Bernau

Philipp Meuser (Einleitung), Jörn Börner, Caroline Uhlig (Projekttexte)
Zwischen Stalin und Glasnost. Sowjetische Architektur 1960

DOM publishers, Berlin 2009
300 Seiten, 59 Euro