Ballett der Extraklasse

Von Wiebke Hüster · 04.06.2010
Mit "Scheherazade" begann der Aufbruch des Balletts in die Moderne. Der Tanz entwickelte sich für zwei Jahrzehnte, die mit diesen ersten "saisons russes" in Paris begannen, zur führenden Kunst der Avantgarde. Das gelang, weil sich das Ballett eng an die anderen Künste anschloss.
"Feen sind das Verderben des Balletts" stellt Alexandre Benois zu Beginn des 20 Jahrhunderts in der russischen Kunstzeitschrift "Mir Iskusstwa" - "Welt der Kunst" - fest. Damit verurteilte der russische Künstler, Librettist und Bühnenbildner keineswegs das von Feen und Elfen und von Prinzessinnen bevölkerte Repertoire des klassischen Balletts der Vergangenheit. Nur die Zukunft des Balletts sollte anders aussehen.

Zu seinem St. Petersburger Freundeskreis zählte Sergej Diaghilew – der Mann, der mit Ausstellungen zeitgenössischer und traditioneller russischer Kunst, mit Opernaufführungen und schließlich mit der Gründung der berühmten Ballets Russes – für die Erneuerung der Künste im Westen aus dem Geist der Moderne sorgte.

Der wichtigste Choreograf für Djaghilews neues Ensemble hieß Michel Fokine. In St. Petersburg hatte Fokine die junge amerikanische Barfußtänzerin Isadora Duncan tanzen sehen und war – so die Legende – verzaubert. Fokine, selbst klassisch ausgebildet, kreierte noch im St. Petersburg des eben angebrochenen 20. Jahrhunderts die ersten modernen Choreografien .
Im Paris des Jahres 1909 begann Fokine mit der Arbeit an einem neuen Ballett, das für Diaghilews "Russische Saison" entstehen sollte. Inspiriert von Eugene Delacroix' Gemälde "Der Tod des Sardanapal" - auf dem ein besiegter Sultan sein Lieblingspferd und seine Haremsdamen umbringen lässt, bevor er selbst zum Giftkelch greift – inspiriert von dieser blutrünstigen Geschichte aus Tausendundeiner Nacht sollte das Ballett "Scheherazade" erzählen, wie ein misstrauischer Scheich seine Dienerinnen und Sklaven töten lässt, als er herausfindet, dass sie ihn miteinander betrügen.
Alexandre Benois und der Maler Léon Bakst diskutierten über den genauen Verlauf der Handlung. Bakst meinte, man müsse die untreuen Haremsdamen in Säcke nähen und ins Meer werfen lassen, doch das gefiel weder Benois noch Fokine:

"Die Tänzerinnen in diesem tragischsten aller Augenblicke in Säcken zu verbergen, hieße auf eine sehr effektvolle Szene zu verzichten. Die Säcke würden schwer sein und keinen erfreulichen Anblick bieten. Außerdem würde es gefährlich sein, sie samt ihrem lebenden Inhalt zu werfen ... Ein Massaker an Liebhabern und treulosen Frauen vor den Augen des Publikums war ein viel reizvolleres Problem für mich."

Als untreue Sultanin Zobeide trat die schauspielerisch begabte, aber in der klassischen Technik nicht sehr firme Mäzenatin Ida Rubinstein auf. Den auf Rache und Vergeltung sinnenden Schah spielte der Tänzer Bulgakow, und den Lieblingssklaven der Sultanin, den wegen seines Kostüms als "Goldener Sklave" bezeichneten erotischen Gespielen der orientalischen Fürstin, tanzte das Sprung-Genie Waclaw Nijinsky. Fokine wusste sehr genau, welche Qualitäten Nijinsky als Goldenen Sklaven unwiderstehlich wirken ließen.

"Sein sonderbarer Mangel an Männlichkeit, der ihn für gewisse Rollen ungeeignet machte ... passte sehr gut zu der Rolle des Negersklaven ... In diesem Augenblick war er halb Mensch, halb Raubkatze und sprang weich und federnd über große Entfernungen, um sich im nächsten Moment in einen Hengst mit geblähten Nüstern zu verwandeln, voller Energie, kraftstrotzend, ungeduldig auf die Erde stampfend."

Bevor am Abend des 4. Juni 1910 der Applaus losbrach und sich die Kritiker überschlagen konnten, war Diaghilew aufgeregt. Sein Biograf Richard Buckle erklärt das große Risiko, das Diaghilew einging, so:

"Welches Sheherazade-Ingrediens erobert ein Publikum, das schon im Vorjahr durch 'Cléopatre' auf orientalische Exzesse eingestimmt worden war? War es Fokines Choreographie mit ihrer neuartigen lebhaften Mimik, in der die abgedroschene Zeichensprache fehlte? War es das unwiderstehliche Crescendo der Musik Rimsky-Korsakows?"

Wie umfassend diese Erneuerung des Tanzes und wie entscheidend sein Beitrag dazu war, konnte der Komponist Nikolaj Rimsky Korsakow nicht mehr miterleben – er, der sich von Diaghilew immer zögernd zur Mitarbeit hatte bewegen lassen, der sich fühlte wie ein "Spatz", den die "Katze" – Diaghilew - "wegträgt" - er war zwei Jahre zuvor gestorben.